Читать книгу Beziehungen - Галина Хэндус - Страница 3

Die Fahrt

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Als Journalist mit langjähriger Berufserfahrung hatte ich einen reizvollen Auftrag erhalten. Man erwartete extraordinäres – oder auch nur interessantes – Material. Wie spannend, das war vor Ort zu klären, aber dazu musste ich eiligst eine Dienstreise antreten. Verschiedene Gedanken rund um den Auftrag kreisten in meinem Kopf, die ich jedoch noch nicht klar formulieren konnte. Als Erstes überhaupt musste ich entscheiden, wann ich fahren würde. Für einen Journalisten, der sich mit einem neuen Thema beschäftigt, ist eine rasche Einarbeitung wichtig. Aus diesem Grund galt es, mir so schnell wie möglich eine Fahrkarte zu besorgen.

Ich betrat die große, helle Halle des vor Kurzem modernisierten Bahnhofs und schaute mich nach dem Schalter für Fernzüge um. Zwei junge Mädchen, vielleicht Studentinnen, die davorstanden, nannten ihr Reiseziel, erhielten umgehend ihre Fahrkarten und gingen wieder, vergnügt plaudernd. Ich beugte mich zum Schalter vor und sagte: „Eine Fahrkarte nach Swiburg für morgen, bitte.“

Bei dem Wort „Swiburg“ zuckte die Kassiererin zusammen und nahm ihre dunkle Brille ab, wahrscheinlich, um mich besser betrachten zu können. Ich fand ihr Gebaren seltsam, aber es gibt viel Seltsames auf der Welt!

„Falls Sie nach Swiburg reisen wollen, müssen Sie rechtzeitig am Bahnhof sein“, sagte die Kassiererin, setzte ihre Brille wieder auf und tippte meine Angaben in den Computer ein, um zu sehen, ob es noch freie Plätze gab.

„Wie im Flughafen: Check-in zwei Stunden vor der Abreise!“, scherzte ich und freute mich, dass es diesen Anlass zum Scherzen gab. Überhaupt bin ich ein fröhlicher Mensch und kein Kind von Traurigkeit.

„Wir haben kein Check-in“, seufzte die Kassiererin und betrachtete mich voller Ernst über den Rand ihrer Brille hinweg, wohl fassungslos darüber, dass ich die simpelsten Sachen nicht zu wissen schien. „Es ist einfach so, dass Sie große Probleme bekommen, falls Sie den Zug verpassen. Man muss ja auf alles im Leben vorbereitet sein, was leider nicht alle Menschen begreifen. Viele nehmen ihre Gegenwart auf die leichte Schulter, und später bereuen sie es bitter.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte ich, diesmal ohne Lächeln, weil ich wirklich kein Wort von dem verstand, was die Kassiererin geäußert hatte. Ich las ihren Namen auf dem schmucken Namensschildchen, das an ihrer Uniformjacke befestigt war, und versuchte die Situation zu klären:

„Tanja, verzeihen Sie, aber ich verstehe nur Bahnhof. Können Sie mir noch einmal erklären, was das alles zu bedeuten hat?“

„Was haben Sie denn nicht verstanden, Oleg? Ich habe mich doch klar und deutlich ausgedrückt.“

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte ich ziemlich unbeholfen und fühlte, wie ein diffuses Angstgefühl meine Seele befiel.

„Das steht auf Ihrer Stirn geschrieben“, sagte die Kassiererin streng.

Die Antwort brachte mich dermaßen aus der Fassung, dass ich unwillkürlich meine Stirn berührte, als könne ich dadurch die Richtigkeit des Gehörten überprüfen.

„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, hören Sie mir lieber noch einmal aufmerksam zu.“ Die Kassiererin nahm erneut ihre Brille ab und sah mich an. Ihr Blick war ernst, aber eigentlich nicht streng, sondern eher mitfühlend, so, als ob sie mir helfen wollte, wozu sie sicherlich gar nicht verpflichtet war:

„Versuchen Sie, Ihren Zug nicht zu verpassen – das ist enorm wichtig. Wenn Sie heute diesen Fehler machen, wird es morgen für Sie vielleicht unmöglich sein, ihn zu berichtigen. Unsere heutigen Fehler können wir morgen nur unter größten Schwierigkeiten, meistens aber gar nicht mehr ausräumen, da der Zug schon abgefahren ist. Sie können den Zug nicht einholen, Sie können nicht ausmerzen, was Sie aus eigener Unachtsamkeit vermasselt haben. Versuchen Sie, immer und überall rechtzeitig zu sein, und schenken Sie jeder Kleinigkeit die größte Aufmerksamkeit. Kleinigkeiten sind nicht so klein, wie oft gedacht wird. Sie sind ein wichtiger Bestandteil Ihrer Gegenwart, ohne die es Ihre Zukunft nicht gibt.“

„Warum reden Sie von meiner Zukunft? Ist es bei Ihnen denn anders? Haben Sie keine Zukunft?“ Mein Mund war schneller als mein Verstand.

„Zukunft hat jeder, der es will. Aber manchmal bauen sich die Menschen eine Zukunft, die nicht einmal ein Osterhase gerne hätte, geschweige denn ein normaler Mensch.“

„Verzeihen Sie, was für ein Osterhase? Was hat denn ein Hase damit zu tun?“ Ich fasste mir erneut an die Stirn, um mich zu vergewissern, dass ich kein Fieber hatte. Meine Stirn war leicht feucht, aber nicht heiß.

„Ein gewöhnlicher Osterhase, der Eier in einem Körbchen bringt. Suchen Sie nie Ostereier, die der Osterhase versteckt hat? Das ist doch interessant.“

„Verzeihen Sie, was für Eier soll ich mit diesem Hasen suchen? Haseneier?“

Das Irreale der Situation übte einen immer stärkeren Druck auf mich aus.

„Oleg, heute ist nicht Ihr Tag, das sieht man deutlich. Entspannen Sie sich. Falls Sie keine Ostereier suchen, ist das nicht schlimm. Ich habe noch nie gehört, dass Hasen Eier legen, höchstens in Ausnahmefällen. Man sucht gewöhnliche Hühnereier, die hartgekocht und gefärbt sind und in allen Regenbogenfarben leuchten. Das ist natürlich ein Kinderspiel, und wenn Sie es als Kind nicht gelernt haben, ist das nicht Ihre Schuld, sondern die Ihrer Eltern. Ihre Eltern haben damals den Zug verpasst und ließen ihr Kind in einer misslichen Lage zurück, ohne fröhliches Ostereiersuchen. Verstehen Sie jetzt, wie wichtig es ist, zu rechter Zeit das Rechte zu tun?“

Die Kassiererin Tanja händigte mir die Fahrkarte aus und setzte fort:

„Ihr Zug fährt um zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Bevor Sie zum Bahnhof fahren, überprüfen Sie, ob Sie alles eingepackt haben, was Sie unterwegs brauchen. Wenn Sie etwas zu Hause liegen lassen, werden Sie Ihre Arbeit nicht erledigen können, was Sie sich dann ewig vorwerfen werden. Seien Sie also besonders aufmerksam. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt und viel Erfolg bei der Arbeit. Denken Sie daran, dass jeder Schritt, den Sie heute machen, Sie in Ihre Zukunft führt. Wo aber diese Zukunft liegt, hängt von der Richtung Ihrer heutigen Schritte ab. Leben Sie wohl.“

Mit den letzten Worten schloss sie ihren Schalter, indem sie ein Schild aufstellte: „Mittagspause 12:00 – 12:45 Uhr“. Dann ging sie, ihre formprächtigen, durch den engen Uniformrock betonten Hüften sanft hin- und herwiegend.

Völlig durcheinander entfernte ich mich von dem Schalter, wobei ich die von Tanja ausgehändigte Fahrkarte immer noch in der Hand hielt. Ich führte sie an die Augen und las, was ich vor fünf Minuten gehört hatte: „Zugticket Iwanowo – Swiburg, Abfahrt am 10.08.2018 um 22:45 Uhr, Ankunft am 11.08.2018 um 08:45 Uhr.“

„Ich bin morgen geboren!“, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. „Morgen ist doch mein Geburtstag! Und zwar genau um 08:45 Uhr. Was für ein Zufall!“ Dieser Gedanke wurde sogleich von einem anderen verjagt: „Ich wollte doch eine Fahrkarte für morgen, und sie hat mir eine für heute ausgestellt. Ich wollte ja morgen mit meinen Freunden ein wenig in einem Café feiern, bevor ich zum Bahnhof fahre. Dieses Weib hat mich mit seinem Geschwafel völlig aus dem Konzept gebracht – wie konnte ich das bloß zulassen? Die Fahrkarte muss umgetauscht werden.“

Ziellos wanderte ich durch die Bahnhofshallen, um mir die Zeit bis zum Ende der Mittagspause irgendwie zu vertreiben, und stand dann pünktlich um 12:45 Uhr vor dem vertrauten Schalter. Zu meinem Erstaunen saß hinter dem Schalter eine ganz andere Frau. Ich reichte ihr die Fahrkarte und fragte verwirrt:

„Wo ist denn Tanja, die hier noch vor der Mittagspause saß?“

„Tanja hat den Schwangerschaftsurlaub angetreten“, antwortete die etwas jüngere Frau und teilte mir vertrauensvoll etwas meiner Meinung nach vollkommen Überflüssiges mit: „Sie erwartet Drillinge. Das wird lustig, wenn sie zur Welt kommen! … Was möchten Sie denn? Stimmt etwas mit der Fahrkarte nicht?“

„Mit der Fahrkarte …“, wiederholte ich gedehnt, immer noch mit der Nachricht beschäftigt. „Ach so, die Fahrkarte. Ich wollte eine Fahrkarte für morgen haben, Tanja hat mir aber eine für heute verkauft. Ich habe morgen Geburtstag und möchte die Fahrkarte umtauschen, damit ich mit meinen Freunden noch feiern kann.“

„Ihre Fahrkarte ist vollkommen in Ordnung“, teilte mir die neue Kassiererin mit, die laut ihrem Namensschild Lida hieß, und warf mir durch das Glas einen spitzbübischen Blick zu. „Das ist der letzte Zug. Laut Stundenplan fährt morgen kein Zug nach Swiburg.“

„Wann kommt denn der nächste? Übermorgen wahrscheinlich?“ Ich wollte nicht aufgeben.

„Den nächsten will er haben“, murmelte Lida hinter dem Schalter, wobei sie etwas auf dem Bildschirm ihres Computers suchte. „Der nächste fährt erst nach Silvester, im Januar also.“

„Was heißt hier im Januar?“, fragte ich bestürzt. „Gibt es bis Januar gar keine Züge mehr?“

„Mal schauen“, antwortete die freundliche Lida bereitwillig. „Es gibt schon Züge, aber Sie müssten umsteigen. Sie wollen doch nicht umsteigen?“

„Doch“, antwortete ich gereizt. Ich fand diese Geschichte gar nicht lustig. „Doch, ich will umsteigen, falls Sie mir mitteilen würden, wie oft und wo und wie viel Zeit mir dadurch verloren geht.“

„Ja, ja, selbstverständlich“, sagte die Kassiererin Lida, und ihre gepflegten Finger mit den farbig lackierten Nägeln begannen, hastig auf der Tastatur zu trommeln. Irgendwann machte sie den letzten Anschlag, worauf aus dem Drucker ein Blatt Papier mit den Antworten auf alle meine Fragen erschien. „So. Wenn Sie einmal umsteigen wollen, fahren Sie über Moskau.“

„Wie, über Moskau?“, wunderte ich mich. „Bis Moskau ist es von hier aus zweimal so weit wie bis Swiburg. Ist das kein Fehler?“

„Wir machen keine Fehler“, sagte Lida eingeschnappt. „Man steigt immer in Moskau um. Das muss man doch wissen. Moskau ist die Hauptstadt unseres Landes, jeder sollte sich das hinter die Ohren schreiben.“

„Schon gut, schon gut“, sagte ich beschwichtigend, „ich habe es mir hinter die Ohren geschrieben. Gibt es weitere Varianten?“

„Wir bieten immer Alternativen an, da wir mit modernsten Technologien arbeiten. Schauen Sie, wir haben sogar ein Qualitätszertifikat.“ Stolz wies sie mit ihrem Finger auf etwas hinter ihrem Rücken. Dann schaute sie erneut in ihre Liste, fand die nächste Zeile und blickte zu mir auf: „Wobei ich nicht glaube, dass die zweite Variante Ihnen gefallen würde.“

„Nur zu“, erwiderte ich ungeduldig. „Schießen Sie los!“

„Also gut. Von Iwanowo fahren Sie nach Moskau, von dort aus nach Warschau, und dann direkt nach Swiburg, ohne umzusteigen.“

„Sagen Sie mal, Warschau ist doch schon Polen?“ Ich kam mir wie ein Trottel vor.

„Ja, Warschau ist die Hauptstadt Polens“, glänzte Lida mit ihren Erdkundekenntnissen und fügte hinzu: „Machen Sie sich keine Sorgen. Sie erhalten von uns einen Voucher für die Transitreise durch Polen. Sie dürfen bloß nicht aus dem Zug aussteigen, aber Sie können sich Warschau durch das Fenster anschauen. Das ist eine sehr schöne Stadt.“

Ihre laut gestellte Frage rettete mich aus meinem schockähnlichen Zustand:

„Nun, was möchten Sie denn? Ein Ticket über Warschau?“

„Wie lange dauert eine Fahrt mit Umsteigen?“, erkundigte ich mich etwas ratlos.

„Also, Sie würden am 11. August losfahren und am 14. August ankommen. Insgesamt sind das sechzig Stunden. Sie können sich glücklich schätzen, da es ein Schnellzug ist, der rasch vorwärtskommt.“

„Lida, ich danke Ihnen für die Informationen, aber ich fahre doch lieber heute“, beschloss ich.

„Das ist eine richtige Entscheidung. Wozu sechzig Stunden für die Fahrt verschwenden, wenn es von hier aus nach Swiburg bloß dreihundertfünfzig Kilometer sind! Aber verpassen Sie den Zug nicht – und packen Sie alles Notwendige ein.“

Ich dankte der jungen Frau und entfernte mich von dem Schalter. Nachdem ich die Fahrkarte ganz tief in die Innentasche gesteckt hatte, steuerte ich den Ausgang an. Es gab noch viel zu tun: Ich musste in der Redaktion vorbeischauen, um einige Formalitäten zu erledigen, meine Freunde anrufen und mich für die platzende Geburtstagsfeier entschuldigen, zu Hause meinen Koffer raussuchen, der erst noch gepackt werden wollte …

Am Abend bestellte ich telefonisch ein Taxi, ging hinunter und lehnte mich in Erwartung des Wagens an einen Baum, der in der Nähe des Hauseingangs wuchs. Nach der Hitze, die am Tag geherrscht hatte, kam jetzt ein leichter Wind auf, der den Wetterumschwung ankündigte. Es war warm und still. Das Taxi kam um die Ecke und näherte sich so leise, dass ich es nicht bemerkte.

„Wollen Sie zum Bahnhof?“, donnerte es unerwartet in mein Ohr. Ich zuckte überrascht zusammen, nickte und knurrte verärgert:

„Sie brauchen nicht zu brüllen, ich bin ja nicht taub.“

„Aber ich! – eine Quetschung aus Tschetschenien, seitdem höre ich schlecht.“

„Dann entschuldigen Sie bitte, das konnte ich ja nicht wissen.“

„Macht nichts, Kumpel, du bist nicht der Erste“, dröhnte es fröhlich neben mir, und der Taxifahrer knallte die Tür zu. Bevor er den Motor anließ, musterte er mich wie einen Schüler und fragte besorgt:

„Hast du alles eingepackt, nichts vergessen?“

„Ich habe alles eingepackt, was ich brauche“, sagte ich mit gespielter Ruhe. Die Sorge, mit der zuerst Kassiererinnen am Bahnhof und nun ein Taxifahrer mein Leben zu umhüllen suchten, schien mir übertrieben.

„Sei mir nicht böse, ich habe einfach so gefragt – vielleicht hattest du einen schlechten Tag und hast etwas vergessen. Wenn du nichts vergessen hast, ist das doch prima.“

Das Auto fuhr los in Richtung Bahnhof. Ich merkte, dass der Taxifahrer zum Plaudern aufgelegt war, es aber nicht wagte, das zwischen uns entstandene Gleichgewicht zu zerstören. Schließlich konnte er sich aber doch nicht mehr zurückhalten:

„Sag mir, warum ist das Leben so ungerecht: Blinde dürfen am Steuer sitzen, Taube aber nicht?“

„Was heißt hier, Blinde dürfen?!“ Ich war dermaßen verwundert, dass ich seine laute Stimme außer Acht ließ.

„Ganz einfach. Guck doch in der Straßenverkehrsordnung nach: Wenn du dir Räder, ich meine Gläser, auf die Nase setzt, auch die dicksten, kannst du in alle Himmelsrichtungen aufbrechen. Wenn du aber den Hörtest nicht bestanden hast – fertig, leg deinen Lappen hin! Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Ein Kollege von mir kann ohne Brille gar nichts sehen, ich musste ihn nach Hause bringen, als seine Brille kaputtgegangen war, aber den Führerschein will man mir entziehen – angeblich höre ich schlecht.“

„Was soll ich da sagen ...“

„Nun, sag doch, Kumpel, würdest du mit mir fahren, wenn ich dich mit dem Fahrrad zum Bahnhof bringen würde? Fahrradfahrer brauchen ja keinen Führerschein.“

„Ich weiß es nicht.“

„Keiner weiß es. Ich habe auch gar kein Fahrrad … Wir sind da. Steig aus.“

Ich bezahlte, nahm meinen Koffer, setzte mich in Bewegung und hörte plötzlich im Rücken:

„Pass auf, verspäte dich nicht, sonst gibt es Ärger.“

„Ich verspäte mich nicht, ich habe noch dreißig Minuten Zeit“, beruhigte ich ihn und hob zum Abschied die Hand.

Als ich das Bahnhofsgebäude betrat, ging ich zu der Informationstafel, um in Erfahrung zu bringen, auf welchem Gleis mein Zug stehen würde. Ich fand die Zeile „Iwanowo – Swiburg: Gleis 6“ und warf einen Blick auf die Uhr: Bis zur Abfahrt blieben noch fünfundzwanzig Minuten Zeit. In diesem Moment sah ich plötzlich die Kassiererin Tanja von heute Morgen, die am Nachmittag so unerwartet verschwunden war. Ich winkte ihr zu. Sie interpretierte meine Geste als Einladung zu einem Gespräch und ging auf mich zu. Seltsam, ich konnte keine Zeichen von Schwangerschaft bei ihr feststellen.

„Es wurde mir gesagt, dass Sie in den Schwangerschaftsurlaub gegangen sind“, sagte ich nach der Begrüßung.

„Genau dahin gehe ich gerade“, behauptete sie und blickte mich fröhlich an. „Morgen werde ich wohl ankommen. Und Sie, gehen Sie auf Ihre Dienstreise?“

„Ja.“

„Und warum nicht über Warschau? Im Zug kann man gut nachdenken und schreiben. Sind Sie doch Schriftsteller?“

„Nein, ich bin Journalist. Es wurde mir keine Genehmigung erteilt, über Warschau zu reisen“, schwindelte ich.

„Sie haben aber gar nicht gefragt. Warum müssen Männer andauernd lügen? Man kann mich betrügen, sich selbst aber doch nicht.“

„Ich habe wenig Zeit, ich muss einen umfangreichen Artikel abliefern, und dazwischen kommt dieser Auftrag“, versuchte ich ihr zu erklären.

„Ach, Sie Ärmster, immer bei der Arbeit! Man hat gar keine Zeit, an sich selbst zu denken.“ Tanja sah mich voller Mitgefühl an. „So rinnt Ihnen das ganze Leben durch die Finger, und im Sterben stellen Sie dann fest, dass Sie überhaupt noch nicht gelebt haben.“

„Tanja, entschuldigen Sie, ich muss jetzt zu meinem Zug gehen. Auf Wiedersehen“, unterbrach ich das Gespräch, das erneut eine seltsame Wendung zu nehmen drohte.

„Leben Sie wohl, Oleg. Seien Sie glücklich und seien Sie aufmerksam, um das Wichtigste im Leben nicht zu verpassen.“

Ich drehte mich um und ging zu meinem Bahnsteig. Dabei fiel mein Blick auf die riesige Bahnhofsuhr, die über meinem Kopf hing. Mit Entsetzten sah ich, dass mein Zug in zwei Minuten abfahren würde.

„Wir haben doch höchstens drei Minuten geplaudert, geht etwa meine Uhr wieder nach?“ überlegte ich fieberhaft, während ich aus dem Bahnhofsgebäude eilte. Gleis 6 war nur über eine Brücke zu erreichen. Ich flog die Treppe hoch und rannte an den vorbeisausenden Schildern vorbei: Gleis 2, Gleis 4, 9, 8, 10. Bei 12 bremste ich ab: Es gab keine weiteren Gleise.

„Wo ist denn mein Zug?“, sagte ich laut und sah in diesem Augenblick einen Mann in Eisenbahnuniform mir entgegenschreiten. „Sagen Sie mir bitte, wo ist hier Gleis 6?“, fragte ich ihn atemlos.

„Wo soll das sein, an seinem Platz natürlich. Sie sind vorbeigelaufen und haben es in der Eile nicht bemerkt. Da steht es doch unter der 9 geschrieben, dass es Gleis 6 ist, das Schild kippt bloß immer um und aus der 6 wird eine 9. Wir haben schon ein Pappschild und danach ein Holzbrett mit unserem Hinweis angebracht, haben es sogar angenagelt, aber keiner liest das Kleingeschriebene, und so tappt man daneben. Aufmerksamkeit ist das höchste Gebot. Wenn man aufmerksam ist, gelingt einem das Leben, dann verliert und verpasst man nichts.“

Der Bahnbeamte redete weiter, während ich mich umdrehte und eilig zu besagtem Gleis lief. Seine Worte flogen mir nach und hallten in meinem Kopf: „Keiner liest das Kleingedruckte … Aufmerksamkeit ist das höchste Gebot … das höchste Gebot …“

Die Angst, dass ich zu spät kommen würde, packte mich an der Kehle. Plötzlich fühlte ich mich, als gehe mein ganzes vergangenes Leben abrupt zu Ende, ohne angefangen zu haben, als hätte ich etwas Wichtiges, das Wichtigste, verpasst, etwas, was auf keinen Fall verpasst werden durfte. Am Gleis angekommen, sah ich meinen Zug soeben losfahren und langsam – wie gegen seinen Willen – die Geschwindigkeit erhöhen. Die hell beleuchteten Fenster glitten an mir vorbei, hinter denen ich Gesichter fröhlicher Menschen sah, Menschen, die rechtzeitig den richtigen Weg und das richtige Gleis gefunden hatten und nun in ihrem Waggon auf dem richtigen, nur für sie bestimmten Platz saßen. Sie wussten alle, wohin und wozu sie fuhren, wann und wo sie ankommen würden. In ihren Koffern lagen, akkurat gestapelt, Sachen, die sie sorgfältig vor der Fahrt ausgewählt hatten. Sie freuten sich darüber, ihre Reise so gut vorbereitet, auf die kleinsten Details geachtet zu haben, die eben dazu führten, dass sie ihren Platz im Zug hatten einnehmen können. Diejenigen aber, die draußen standen, konnten dieses Fest des richtig gewählten Weges nur beobachten und mussten dabei begreifen, dass sie diesen Zug für immer verpasst hatten, dass er weder aufgehalten noch angehalten werden konnte.

Die Fahrkarte, die in meiner Innentasche lag, verursachte plötzlich ein kratzendes, brennendes Gefühl. „Was ist da los?“, dachte ich müde und versuchte, das störende Etwas aus der Tasche zu holen. Als ich meine Faust öffnete, sah ich in meiner Hand eine kleine niedliche Meise sitzen. Sie sah mich an, ohne zu blinzeln und ohne jegliche Angst. „Flieg!“, rief ich und warf den Vogel hoch. In diesem Augenblick zog sich mein Herz zusammen, es sprang hoch und stürzte nach unten, einen Schmerz auslösend, als werfe ich mit diesem lebendigen Klümpchen einen Teil meines besseren, noch nicht gelebten Lebens von mir. Als der kleine Vogel aus meinem Blickfeld verschwunden war, drehte ich mich um und erblickte in der Ferne einen leuchtenden Punkt, der den letzten Waggon des rasch schwindenden Zuges markierte.

Mein Zug ist ohne mich abgefahren, und mein Glück habe ich selbst aus der Hand gegeben, ohne mir überhaupt die Mühe gemacht zu haben, darüber nachzudenken.

Es ist wirklich nicht einfach, bei allem, was einen umgibt, aufmerksam zu bleiben. Das Leben ist keine Kleinigkeit – auch wenn es offensichtlich aus lauter Kleinigkeiten besteht.





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