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Münsterkäse
ОглавлениеNachdem ich gemeinsam mit meiner Frau Alina von unserer dreiwöchigen Algarve-Reise zurückgekehrt war, stürzte ich mich gespannt in den heimischen Alltag. Im Urlaub versuche ich stets, auf Handy und Laptop zu verzichten. Ein Sommerurlaub zum Abschalten ist bei uns ein wichtiger Brauch. Nun aber hatte der Alltag, der für kurze Zeit von mir gewichen war, mich wieder.
Ich prüfte mein Mailkonto auf neue Nachrichten und beantwortete einige private E-Mails. Dabei stieß ich unverhofft auf die Mitteilung meines alten Freundes Karlheinz Krisch, kurz Krischa genannt. Wir waren alte Schulfreunde und hatten einst gemeinsam ein Internat in Fulda besucht. Viele Jahre später trafen wir uns in Berlin wieder – er als Künstler und Meisterschüler an der Hochschule für bildende Künste, ich als Student der Ingenieurswissenschaften an der Technischen Universität.
Nach den Studienjahren trennten sich unsere Wege. Aus guten Freunden wurden alte Bekannte. Von Zeit zu Zeit nahmen wir telefonischen Kontakt auf, um Erinnerungen und besondere Ereignisse auszutauschen, doch diese Kontakte beschränkten sich bald auf die obligatorischen Weihnachtsgrüße und Geburtstagswünsche. Dann aber war ein technisches Wunder in unser Leben getreten: das Internet. Wir begannen, uns auf elektronischem Wege Briefe zu senden, und daraus entwickelte sich schnell eine Art nostalgisches Begehren nach besonderen Werten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit, dem wir im gemeinsamen Kontakt nachgingen.
Krischa begann, Schritt für Schritt unsere alten Klassenkameraden zu reaktivieren. Im Gegensatz zu mir, der ich bis heute als selbstständiger Berater im medizinischen Bereich tätig bin, war er bereits auf seinen wohlverdienten Ruhestand eingestellt. Da sein Gehirn jedoch nach Arbeit verlangte, widmete er sich ganz dem Projekt, unsere ehemaligen Mitschüler wiederzufinden. Diese waren über das ganze Land verstreut, doch mithilfe des Internets nahm die Wiederbelebung unserer alten Klasse zunehmend Gestalt an. Dabei übernahm Krischa die Rolle eines wichtigen Koordinators.
Krischas E-Mail ließ mich an unsere Jugend zurückdenken, die viel zu schnell vergangen war. Er stellte fest, dass das Ende unserer Schulzeit nunmehr 50 Jahre zurücklag. Eine Ewigkeit! Würden wir die Mitschüler wiedererkennen? Waren sie noch alle an Bord, gesund und stabil? Bewegt von Gedanken wie diesen hatte Krischa beschlossen, ein Wiedersehen mit den alten Kameraden an alter Wirkungsstätte zu arrangieren, in der Barockstadt Fulda.
Krischas Nachricht führte meine Erinnerungen zurück in meine Kindheit, in die dunkle Zeit während des Krieges und die mir immer bewusster werdenden Erlebnisse und Ereignisse der Nachkriegsjahre. Besonders beschäftigte mich eine Erinnerung, die mir wahrscheinlich für den Rest meines Lebens im Gedächtnis bleiben würde. Es ging um einen außergewöhnlichen Vorfall, der … – doch halt, eins nach dem anderen.
Für meine Generation, die zu den Kriegsjahrgängen zählt, gab es in der Zeit der Besatzung durch die Alliierten viele Herausforderungen hinsichtlich einer adäquaten Ausbildung. Schulen, Lehrwerkstätten, Universitäten und andere Ausbildungsplätze waren zum Teil zerstört oder belegt, da Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten in ihnen untergebracht waren. Zudem fehlten Lehrer und Fachpersonal, die in Gefangenschaft, als vermisst gemeldet oder im Krieg umgekommen waren. Wir Kinder selbst sahen kein Problem darin, aber natürlich unsere Eltern, die sich wünschten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung für ihr zukünftiges Leben erhielten. Angebote der Kirchen beider Konfessionen konnten die katastrophale Lage etwas abmildern. So kam es, dass meine Eltern sich für ein katholisches Internat in der Bischofsstadt Fulda entschieden und mich dort Anfang der fünfziger Jahre anmeldeten.
Für mich als Zehnjährigem, der gewohnt war, das freie Leben auf dem Hof seiner Großeltern verbringen zu dürfen, stieß diese Verbannung auf großes Unverständnis. Die Entscheidung meiner Eltern glich einer harten Strafe, die ich nicht verdiente und erst recht nicht verstand. Wir waren eine Großfamilie und lebten in harmonischer Gemeinschaft – und plötzlich war da dieses katholische Internat mit seinen strengen Regeln und seiner straffen Organisation. Zu Beginn kam mir die Zeit in dieser Einrichtung wie ein bloßer Freiheitsentzug vor. Das Gefühl der Unterdrückung machte mir Angst. Doch langsam fand ich mich mit den neuen Verhältnissen ab. Mir wurde bewusst, dass es meine Eltern gewesen waren, die mich vertrauensvoll in die Abhängigkeit fremder Menschen gegeben hatten. Aus dieser Erkenntnis heraus machte ich, soweit es ging, aus der Not eine Tugend. Ich freundete mich mit gleichaltrigen und gleichgesinnten Mitschülern an, um das Leben unter der strengen Reglementierung und den einseitigen Vorstellungen der Vorgesetzten besser ertragen zu können.
Im Internat glich fast jeder Tag dem anderen. Morgens wecken, aufstehen, waschen, frühstücken. Nach dem kargen Frühstück gingen wir gemeinsam mit unserem Präfekten und Mentor, Herrn Fink, einem Laienbruder aus Oberfranken, in die nahegelegene Kapelle zur Morgenandacht, um uns gewissenhaft auf den Tag vorzubereiten.
Zu dieser Zeit war ich elf Jahre alt. Meine Haltung zur Freiheit und die Sehnsucht nach meinem Zuhause waren noch immer sehr ausgeprägt, sodass ich mich dem Zwang innerlich zwar widersetzte, dies nach Außen aber nicht zeigte. Ich glaube, dem einen oder anderen Mitschüler ging es damals ähnlich. Weder meine Klassenkameraden noch ich waren in der Lage, gegen diesen Zwang zu protestieren. Wir ahnten, dass ein Aufbegehren Strafen nach sich ziehen würde, die bei groben Verstößen auch unseren Eltern schriftlich mitgeteilt wurden. Beides, die direkten internen Strafen durch die Patres wie auch der Verweis aus dem Internat, waren Maßnahmen, die erhebliche Auswirkungen auf unsere weitere persönliche Entwicklung haben würden.
Der Tag, von dem ich jetzt berichte, war ein Tag, den ich nie vergessen werde. Er zeigte die Unbeholfenheit der strengen Ordensleute, deren Obhut wir überlassen waren, aber auch die vorbildliche Solidarität meiner Mitstreiter.
Am Morgen eines noch frühen, neblig-trüben Sonntags gab es für jeden von uns Internatsschülern zum Brot ein Stück streng riechenden Käses aus der Klosterkäserei. Wir aßen diese Käse nur ungern, da er durch seinen penetranten Geruch ein sehr aufdringlicher Begleiter war, der an den sonntäglichen Besuchstagen störend wirkte.
Für jene, denen dieser Käse noch ein Unbekannter ist, muss ich kurz ausholen: Das Rezept dieser Käsesorte war vor über hundert Jahren von Benediktinermönchen in Münster, im Elsass, entwickelt worden. Um den Laib lange frisch und aromatisch zu halten, wurde der Käse alle zwei bis drei Tage in eine spezielle Lake eingelegt, einer nur den Mönchen der Käserei bekannten Rezeptur, bestehend aus Salzwasser, entrahmter Milch, Weißwein und Bier sowie aus speziellen Kräutern und Gewürzen. All dies geschah, um den Reifeprozess des Käses zu beschleunigen. Der Weichkäse war, bis auf die Rezeptur des Käsemantels, leicht herzustellen. Hinzu kamen die geringere Reifezeit gegenüber anderen Käsesorten und ein höherer Sättigungsgrad – Grund genug, dass der Münsterkäse häufiger als Grundnahrungsmittel auf den Tellern von uns Internatsschülern landete.
An diesem Morgen nun fühlte ich wieder eine starke Sehnsucht nach zuhause, nach Omas hausgemachtem Pflaumenmus oder den leckeren Pfannenkuchen mit Zucker und Zimt von Muttern. Appetitlos, wie ich war, aß ich mein Stück Käse nicht, sondern wickelte es in eine Papierserviette und versteckte das Päckchen in meiner rechten Hosentasche.
Nach dem Frühstück standen wir Schüler auf Anweisung unseres Präfekten auf und gingen zur Morgenandacht in die nahegelegene Marienkapelle. Leise und andächtig betraten wir das Gotteshaus und knieten uns nieder. Unsere Hände lagen gefaltet auf der Ablage der vor uns stehenden Gebetsbänke. Ich stand in der ersten Reihe, gleich am Anfang. Die Klasse nahm drei Reihen ein. Der letzte Platz gehörte unserem Präfekten, Laienbruder Fink. Er hatte ein wachsames Auge über seine jungen Schafe. Plötzlich vernahmen wir sein leises Zischen, das uns signalisierte, der Gottesdienst mit Pfarrer Schollmann, dem Direktor und Schulleiter des Internats, würde nun beginnen. Respektvoll schwiegen wir. Pfarrer Schollmann sang laut in lateinischer Sprache. Am Ende des eindrucksvollen Gebets murmelten wir „Dank sei Gott“. Nun wandte sich der Priester einem der Messdiener zu und ließ sich das Weihrauchfass reichen. Er zog den Deckel des Gefäßes hoch, entfachte den Weihrauch und schwenkte den rauchenden Topf dreimal nach allen Seiten zu den Gläubigen.
An dieser Stelle nahm ich vorsichtig und unauffällig mein Stück Käse aus der Tasche. Die Serviette war feucht und hing leicht gelblich am Käse. Ein unangenehmer Geruch verbreitete sich in der Kapelle, vermischte sich aber, zum Glück, mit dem Weihrauch. In meiner nahen Umgebung jedoch war der Weihrauch gegen die Ausdünstung des Münsterkäses machtlos. Um das unchristliche Relikt loszuwerden, nahm ich die Hand meines Nachbarn und legte ihm das stark riechende Käsestück auf die geöffnete Handfläche. Dabei flüsterte ich ihm zu: „Weitergeben.“
Mein sommersprossiger, rothaariger Mitschüler schaute mich ungläubig an und schob den unappetitlichen Käse mit zwei Fingern seinem Nachbarn zur Linken zu. Dabei flüsterte er: „Weiterreichen! Das Stück hat den Segen der Jungfrau Maria. Behandele ihn wie eine Reliquie.“ Der Vorgang wiederholte sich, von Nachbar zu Nachbar, bis das kleine Päckchen zum letzten Platz der dritten Reihe gelangte. Hier saß der Präfekt, Laienbruder Fink. Oh Gott!
Der durch die Wärme der Kapelle nun noch stärker stinkende Käse übertraf den Weihrauchgeruch jetzt, wie ich empfand, um ein Vielfaches. Er war schlichtweg geruchsdominant. Das einmalige Gemisch erinnerte uns alle an schwerste Blähungen. Diejenigen, die an der Käseweitergabe beteiligt gewesen waren, freuten sich insgeheim über dieses außergewöhnliche Ereignis. Einige der Nichteingeweihten ließ es grübeln, andere belustigte es sehr – ein völlig neues Gefühl in der Internatskapelle. Doch alle rümpften auch ihre empfindlichen Nasen und empfanden die Geruchsbelästigung in unmittelbarer Nähe als wenig angenehm. Auch mir ging es so.
Nachdem der Käse nun in guten Händen lag, wurde mir bewusst, was ich ausgelöst hatte und was auf mich zukommen würde. Heimlich beobachtete ich den Käsehalter, unseren Laienbruder Fink, wie er sich nun gegenüber seinem ungewollten Geschenk verhielt. Zunächst tat er so, als sei nichts geschehen. Ich bewertete sein Verhalten als taktische Maßnahme. Doch der Käse in der Hand war auf Dauer keine Lösung. Anstatt die Morgenandacht zu verlassen, um das Objekt zu entsorgen, entschied Laienbruder Fink offenbar, aus pädagogischen Gründen zu bleiben. Er wickelte den Käse in sein sauberes, weißes Taschentuch und versteckte ihn in seinem Talar. Im Zuge dieser Aktion blieb unser Präfekt das Zentrum des Münsterkäses – mit unangenehmen Nebenwirkungen.
Die Morgenandacht neigte sich langsam dem Ende und schloss mit dem Lied „Großer Gott, wir loben dich.“ Diesmal gingen wir ohne unseren Präfekten in die Klasse und unterhielten uns angeregt über die außergewöhnliche Käsewanderung während des Gottesdienstes. Trotz der erheiterten Diskussion war eine gewisse Spannung zu verspüren. Wo war Laienbruder Fink mit dem Käse geblieben? Hatte er ihn entsorgt oder musste er seinem Vorgesetzten über den Vorfall berichten? Was hatten wir zu befürchten?
Plötzlich öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer. Wir sprangen auf und brachten uns in Position. Mit einem gemeinsamen „Guten Morgen, Herr Schollmann, guten Morgen, Herr Fink“ begrüßten wir die beiden Würdenträger. Danach war es still –beängstigend still. Laienbruder Fink nahm den Münsterkäse mit seinem nicht mehr ganz so weißen Taschentuch aus seinem Talar und legte ihn auf das vor ihm stehende Pult. Direktor Schollmann öffnete ein Fenster und fragte danach sofort: „Wer von euch hat im Banne des Käses gestanden? Wer war für den Käse verantwortlich?“ Streng blickte der Direktor in die Runde, mit der Erwartung, dass der Schuldige sich melde. Aber nichts geschah. Nun widerholte er mit noch strengerer Stimme seine Forderung. Wieder keine Resonanz. Jetzt änderte Direktor Schollmann seine Strategie. Er forderte uns auf, uns nebeneinander an der Wand des Klassenzimmers aufzustellen. Laienbruder Fink bat er, die Verfolgung der Käsewanderung an der Tafel mit Kreide aufzuzeichnen.
Die Rekonstruktion startete bei unserem Präfekten als letztem Träger des Münsterkäses in der Marienkapelle. Von da aus wurde die Wanderung des Käses Platz für Platz nachvollzogen, während Laienbruder Fink sie akribisch auf der Tafel festhielt. Zum Schluss kam Direktor Schollmann zu mir, sah mich an und sagte: „Du bist der Letzte, den ich befrage. Sage uns, von wem hast du den Käse übernommen?“ Da ich meinen Platz am Anfang der ersten Reihe und somit nur einen Nachbarn zur Linken hatte, wurde ihm klar, dass nur ich der Sünder sein konnte.
Als sich mein ängstliches inneres Zittern langsam legte, fand ich doch noch ein Schlupfloch, das mir vielleicht einen Ausweg aus der bedrückenden Lage verschaffen könnte. „Pater Schollmann, glauben Sie mir, der Käse lag direkt unter meiner Bank. Durch den unangenehmen Geruch fühlte ich ein Würgen im Hals und befürchtete, mich während des Gottesdienstes übergeben zu müssen. Nur deshalb hob ich den zurückgelassenen Käse auf und gab ihn an meinen Nachbarn weiter.“
Meine Ausrede klag nachvollziehbar. Ich war ein wenig stolz auf meine Antwort und blickte unschuldig in die strengen Augen des Schulleiters.
Direktor Schollmann wandte sich ohne Kommentar von mir ab und befahl Laienbruder Fink, den Käse vom Pult zu nehmen, um ihn draußen zu entsorgen. Ich durfte das Fenster schließen und die Skizze an der Tafel mit einem feuchten Schwamm abwischen.
Endlich durften wir Schüler uns setzen und wieder unsere gewohnten Plätze einnehmen. Nachdem er uns zur Ruhe aufgefordert hatte, verkündete Direktor Schollmann sein salomonisches Urteil: „Die Klasse hat zugegeben, aktiv am Käsetransport beteiligt gewesen zu sein. Alle standen somit während des Gottesdienstes im Banne des Käses. Jeder hat sich versündigt und eine Strafe verdient.“
Er verurteilte nicht nur mich, sondern die gesamte Klasse, die sich des Käsetransports mitschuldig gemacht hatte. In den Augen unserer Vorgesetzten war diese Aktion ein schwerer Verstoß gegen die Regeln des Internats, gegen die guten Sitten der Kirche und eine Untergrabung der Erziehung des verantwortlichen Personals.
Die Klasse wurde bestraft. Unser höchstes Freizeitgut, unser Fußball, wurde für vier Wochen eingezogen. Auch der geplante Ausflug mit Laienbruder Fink in die nahegelegene Rhön zum Kloster Kreuzberg wurde ersatzlos gestrichen. Auf das Kloster konnten wir noch gut verzichten, nicht aber auf unseren Fußball. Eine viel zu harte Bestrafung – und das nur wegen eines feuchten Käses. Aber obwohl wir eine für uns Kinder so unverhältnismäßige Konsequenz erfuhren, verriet mich keiner meiner Freunde. Jeder wusste, dass ich das Stück verhassten Münsterkäses in die Kapelle gebracht hatte, um einen stillen Protest gegen die strengen Gesetze des katholischen Internats zum Ausdruck zu bringen ...
Ich saß noch lange vor dem Computer. Nach einigen Überlegungen öffnete ich eine neue Nachricht und begann zu schreiben: „Lieber Karlheinz, vielen Dank für deine Einladung. Ich werde zum Jubiläum kommen und direkt morgen früh ein Hotelzimmer reservieren. Auf ein fröhliches und baldiges Wiedersehen! Dein Helmut.“
Einen Moment saß ich still da, dann stand ich von meinem Arbeitsplatz auf. Ob auch meine ehemaligen Klassenkameraden sich noch an die Episode mit dem von uns allen so gehassten Münsterkäse erinnerten? Ich würde sie danach fragen. Unbedingt!