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Leyla

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Leyla Ismail war in einer kleinen Stadt im Kaukasusvorland geboren und hielt ihre Heimat für die schönste Gegend der Welt. Seit ihrer Kindheit umgaben sie die melodischen Wellen einer lebendigen Mehrsprachigkeit, die das Wesen ihrer Familie ausmachte. Leyla sprach drei verschiedene Sprachen, was für sie nichts Besonderes war. Die junge Frau liebte ihre Familie von ganzem Herzen, in der sich die Traditionen verschiedener Völker dicht miteinander verflochten hatten und festgewachsen waren.

Ihre Mutter Tamara war in einer russisch-orthodoxen Familie in Georgien geboren, ihr Vater Ibrahim stammte aus dem muslimischen Kabardinien. Die Eltern ihrer Großmutter mütterlicherseits waren während der Revolution aus Petersburg vor dem kommunistischen Terror geflohen. Oma Irina selbst war damals erst zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre geliebte Stadt ungern verlassen, obwohl sie schon damals verstanden hatte, dass es gefährlich gewesen wäre, dort zu bleiben. So hatte sich die russische Familie im Kaukasus niedergelassen, hatte sich eingelebt und Wurzeln geschlagen.

Georgisches, russisches und kabardinisches Blut hatte sich in Leyla bizarr vermischt und verlieh ihrem Äußeren einen besonderen Liebreiz. Sie hatte die für diese Gegend ungewöhnliche rosig-samtene Haut ihrer russischen Oma und die strahlend blauen Augen ihrer Mutter. Vom georgischen Großvater hatte sie die schlanke Figur und den Gang eines stolzen Menschen geerbt. Schwarzes, glänzendes Haar und die klaren Konturen ihrer vollen Lippen verwiesen auf den kabardinischen Vater. Leyla war sich ihrer nicht alltäglichen Schönheit nicht bewusst, sie hielt sich für eine gewöhnliche junge Frau. Irgendwo anders, in einer großen Stadt, hätte sie mit ihrem Aussehen eine Schauspielerin oder ein Model werden können. Hier aber, in dem kleinen Provinznest mit seinen patriarchalen Gesetzen, bot sich ihr nichts Besonderes an – wobei Leyla sich danach auch keineswegs sehnte. Sie verließ ihren Geburtsort selten, denn sie verspürte keine große Reiselust. Es interessierte sie nicht, was außerhalb ihrer geliebten kaukasischen Heimat geschah, die für sie die beste und schönste Gegend in der ganzen Welt war. Die größte Reise ihres Lebens hatte sie als Teenager unternommen, als sie mit den Eltern ans Kaspische Meer gefahren war. Beim Blick auf die grenzenlose Weite hatte sich das dreizehnjährige Mädchen für sein ganzes Leben in das Meer verliebt. Seitdem war Leyla noch tiefer davon überzeugt, dass alles, was sie umgab, das Beste in der Welt war.

Junge Frauen werden im Kaukasus früh verheiratet. Dieses ungeschriebene Gesetz stellt dort niemand infrage – und es wird streng eingehalten. Als Leyla fünfzehn Jahre alt war, sprachen ihre Eltern immer öfter miteinander über die Zukunft ihrer einzigen Tochter. Der Vater bestand darauf, dass es nun Zeit war, sich nach einem passenden Bräutigam umzuschauen. Die Mutter war gegen eine frühe Heirat. Die Gespräche verliefen gewöhnlich im Nichts: Jedes Elternteil blieb bei seiner Meinung, die Entscheidung wurde auf spätere Zeiten verschoben. Das Mädchen selbst mischte sich in solche Gespräche nicht ein, sie wusste ja, dass sie zu jung war, ihre eigene Meinung äußern zu dürfen.

Während ihre Eltern über die Zukunft der Tochter diskutierten, schloss Leyla nicht nur die acht Jahre dauernde Schulzeit ab, sondern begann auch mit der Ausbildung an der Fachschule für Leichtindustrie, um vor der Heirat einen Beruf zu erlernen. Nur ein Jahr trennte die siebzehnjährige Schönheit vor ihrem Abschluss als Buchhalterin, da bereitete das Leben Leyla eine Überraschung.

Als sie eines Abends nach Hause kam, fand sie in der Küche ihre weinende Mutter vor.

„Mama, was ist los, warum weinst du?“ Die junge Frau nahm ihre Mutter in die Arme und versuchte, sie so zu beruhigen. „Gab es wieder Streit mit Papa – wegen mir?“

„Ja, Liebes, wegen dir“, nickte die Mutter. „Der Vater hat einen reichen Bräutigam für dich gefunden und möchte dich verheiraten.“

„Wer ist es denn?“, fragte Leyla neugierig. Sie kannte die Traditionen ihrer Heimat, deshalb kam ihr nicht in den Sinn, sich gegen die frühe Ehe zu sträuben. „Woher kommt er, wo arbeitet er?“

„Ach, mein Täubchen, frag mich nicht!“ Die Mutter drückte das Mädchen an ihre Brust. „Du kennst ihn nicht, er ist nicht von hier. Er heißt Aslan und ist ein entfernter Verwandter eines Cousins deines Vaters. Ibrahim hat überall geprahlt, was für ein kluges und schönes Töchterchen er hat. Und kaum hat er dein Foto gesehen, sagt dieser Aslan, dass er dich heiraten will. Seine Frau ist vor zwei Monaten gestorben und er sucht eine Frau, die sie ersetzen kann.“

„Wie alt ist er denn, wenn er schon Witwer ist?“ Besorgnis war aus der Stimme des Mädchens herauszuhören.

„Das ist es gerade, er ist schon jenseits der Vierzig und hat drei Kinder. Das wird kein Leben für dich sein, sondern eine einzige Qual!“ Die Mutter begann wieder zu weinen.

„Ich werde mit Vater sprechen und ihn bitten, die Verlobung um wenigstens ein halbes Jahr zu verschieben. Das wird er mir nicht ausschlagen, wenn er mich schon mit so einem Greis verheiraten will!“

Leylas Stimme klang entschlossen und ihre Mutter begriff, dass die Tochter die Entscheidung des Vaters nicht ohne Weiteres hinnehmen würde. Neben den klaren Konturen ihrer schönen Lippen und dem wunderbaren tiefschwarzen Haar hatte Leyla den resoluten Charakter ihres Vaters geerbt. Und wie Tamara in diesem Augenblick schon ahnte, gelang es ihrer Tochter schließlich, den Vater zu überreden, die Entscheidung über ihre Heirat um ein halbes Jahr zu verschieben. Der künftige Bräutigam, ein noch recht jung und gutaussehender heißblütiger Mann, war keinesfalls damit einverstanden, so lange warten zu müssen, aber da Leyla darauf beharrte, musste er letztendlich nachgeben. Leylas Vater Ibrahim war über fünfzig und seine Tochter war nicht nur ein spätes, sondern sein einziges Kind, das er über alles liebte. Traditionen hin oder her, auch Leylas Meinung musste berücksichtigt werden. Wenn Ibrahim bloß gewusst hätte, wohin diese Verzögerung führen würde!

Als Großmutter Irina von dem Vorhaben des Schwiegersohnes hörte, ihre Enkelin mit einem Witwer, der drei Kinder hatte, zu verheiraten, entschloss sie sich, in den Lauf der Ereignisse einzugreifen. Direkt konnte sie jedoch nicht handeln, da ihre Meinung kaum etwas ändern konnte, daher plante sie einen raffinierten Zug. Ohne jemandem etwas zu sagen, schrieb sie an ihre alte Freundin Polina Viktorowna, mit der sie gemeinsam die Kindheit verbracht und das Gymnasium in Petersburg besucht hatte. Seit Irina Pawlownas Familie in den Kaukasus gezogen war, waren viele Jahre vergangen. Die Freundinnen, die sich von Kindheitstagen an kannten, verloren einander für lange Zeit aus den Augen. Erst vor dem Krieg fanden sie sich wieder und standen seitdem im Kontakt. Als sie noch jünger waren, besuchten sie sich häufig gegenseitig, doch in den letzten zehn Jahren standen sie lediglich im Briefwechsel. Jetzt aber lud Irina Pawlowna, ihrem Plan folgend, die Freundin ein, sie zu besuchen, und bat sie, nicht alleine, sondern mit ihrem Enkel zu kommen.

Polina Viktorownas Enkel hieß Alexander und war achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte eine Marineschule in Petersburg absolviert und diente auf einem U-Boot. Seine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er zwölf Jahre alt war. Seitdem lebte er bei seiner Oma. Irina Pawlowna wusste nicht genau, worin konkret Alexanders Arbeit bestand, und aufgrund ihres Alters war sie nicht besonders darauf erpicht, sich mit etwas zu beschäftigen, von dem sie keine Ahnung hatte. Der Enkel ihrer Freundin war ihr in den Sinn gekommen, als sie vor ein paar Tagen einen Brief von ihr erhalten hatte, in dem jene ihr mitteilte, dass Alexander nach einem Unfall auf seinem U-Boot für ein Jahr beurlaubt worden war, damit er medizinische Rehabilitation in Anspruch nehmen konnte. Nach Ablauf dieser Zeit sollte er ärztlich untersucht werden und seine Offiziersstelle wieder antreten, falls die Ärzte dies bewilligten. Obwohl Irina Pawlowna schon über siebzig war, besaß sie immer noch einen agilen Verstand und rechnete sofort die möglichen Varianten einer Bekanntschaft zwischen Leyla und Alexander durch. Ob sie einander gefallen würden, war augenblicklich weniger wichtig, die Hauptsache war, ihnen die Möglichkeit zu geben, einander kennenzulernen, und dann – wer wusste, was daraus werden konnte? Einerseits bestand eine Chance – auch wenn sie minimal war –, die Enkelin vor einer unglücklichen Ehe mit Aslan zu retten. Andererseits konnte der krankgewordene Enkel ihrer Freundin seine Gesundheit in dem heilenden Klima des Kaukasus kräftigen. Irina Pawlownas Mann, Wachtang Georgiewitsch, war vor zwei Jahren verstorben, sodass sie in dem großen Haus mit Garten nun alleine war. Platz gab es mehr als genug, daher lud sie ihre Bekannte nicht bloß für eine kurze Zeit ein, sondern für so lange, wie sie bleiben wollte.

Die alte Dame handelte sehr vorsichtig und hielt für alle Fälle ein Argument für ihren Schwiegersohn parat. Sie wusste zu gut, mit welcher außerordentlichen Achtung alten Menschen im Kaukasus begegnet wurde, und zweifelte keine Sekunde, dass Ibrahim nichts dagegen einwenden würde, dass die fünfundsiebzig Jahre alte Polina den Besuch in Begleitung ihres Enkels abstattete.

Zwei Monate lang rätselte Irina Pawlowna, während sie auf eine Antwort aus Petersburg wartete, wie man dort ihr großzügiges, wenn auch etwas ungewöhnliches Angebot aufnehmen würde. Sie ging jeden Tag mit pochendem Herzen zum Briefkasten, den sie stets mit der Hoffnung öffnete, dort den ersehnten Briefumschlag zu entdecken. Als sie endlich den Brief erhielt und las, dass ihre Einladung mit großer Dankbarkeit angenommen wurde, dachte sie erleichtert: „Jetzt wird alles gut. Leylas Schönheit wird keinen jungen Mann gleichgültig lassen. Ein verwundeter Marineoffizier ist auf jeden Fall besser als ein alter Witwer mit drei Kindern. Und wenn die beiden zueinanderfinden, kann ich in Ruhe sterben.“

Großmutter Irina hatte Recht: Die jungen Leute sahen sich ein einziges Mal und waren sofort in Liebe zueinander entflammt. Ihre Gefühle waren so offensichtlich, dass Leylas Vater schweren Herzens Aslan absagen musste: Das Glück der einzigen Tochter war ihm wichtiger als alte Bräuche.

Zur Hochzeit luden Leyla und Alexander viele Gäste ein. Das Fest war üppig und fröhlich. Für die Flitterwochen mieteten ihnen die Eltern ein Ferienhaus am Kaspischen Meer. In das Meer waren die Jungvermählten genauso stark verliebt wie ineinander. Im Familienrat wurde entschieden, dass das junge Paar erst einmal bei Irina Pawlowna wohnen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Leyla ihre Ausbildung abgeschlossen und konnte überall Arbeit finden – Buchhalter waren gefragt. Ihrem jungen Ehemann blieben noch neun Monate bis zur ärztlichen Untersuchung, und alle hofften, dass sie es ihm ermöglichen würde, in den geliebten Beruf zurückzukehren.

Das Szenario eines glücklichen Lebens, das Irina Pawlowna mit höchster Sorgfalt ausgearbeitet hatte, bekam jedoch schon zu Anfang einen Riss. Nicht einmal in einem Albtraum hätte die alte Frau sich vorstellen können, dass das Glück des Enkels zur Todesursache seiner Großmutter werden könnte.

An einem Abend plauderten die alten Freundinnen wie gewöhnlich ein Weilchen, wünschten einander eine gute Nacht und gingen jede in ihr Schlafzimmer. Am nächsten Morgen wunderte sich Irina Pawlowna darüber, dass Polina nicht zur gewohnten Zeit zum Frühstück erschien, klopfte an ihrer Tür und betrat das Zimmer.

„Polina, du schläfst heute aber wirklich lange“, wollte die Gastgeberin ihre schlafende Freundin wecken. „Steh auf, sonst werden die Plinsen kalt. Ich habe sie extra für dich gebacken.“

Da Irina Pawlowna keine Antwort erhielt, ging sie zu dem Bett, das direkt am Fenster stand, und legte ihre Hand auf die Schulter der schlafenden Polina, um sie wachzurütteln. Sie fuhr jedoch sofort schaudernd zurück: Ihre Hand berührte die Eiseskälte des Todes. Polina Viktorowna war im Schlaf gestorben und nahm die Bilder des glücklichen Lächelns ihres Enkels mit in die Ewigkeit.

Die Familie beriet sich und beschloss, die traurige Nachricht den Jungvermählten vorläufig nicht mitzuteilen, um ihre Flitterwochen nicht zu unterbrechen. Der Leichnam der verstorbenen Polina Viktorowna wurde nach Petersburg transportiert, wo sie im Familiengrab neben ihrem Mann beigesetzt wurde.

„Wie konnte das passieren? Warum hast du nicht gewartet, bis ich zurückgekommen bin? Warum bist du gegangen, ohne dass wir uns verabschieden konnten?“

Alexander war unglücklich, dass er seine geliebte Oma nicht noch einmal sehen konnte, aber er wagte es nicht, der neuen Verwandtschaft vorzuwerfen, dass er über ihren Tod nicht sofort unterrichtet worden war.

Drei Wochen nach der Hochzeitsreise bekam Leyla einen Arbeitsplatz als Archivarin im Stadtarchiv, und einen weiteren Monat später teilte sie ihrem Mann mit, dass sie ein Kind erwarte. Als Alexander erfuhr, dass er bald Vater sein würde, empfand er eine grenzenlose Freude. Leylas Schwangerschaft erlaubte es, die Diagnose, die ihm die Ärzte vor einem halben Jahr gestellt hatten, in Zweifel zu ziehen: Damals hatten alle Seeleute auf seinem U-Boot bei einem Unfall mehr oder weniger starke Uranstrahlungen abbekommen. Die Ärzte hatten Alexander informiert, dass dies Unfruchtbarkeit verursache und andere Folgen haben könne, die vorläufig nicht abzuschätzen seien, und so ließ ihn die Nachricht über seine baldige Vaterschaft hoffen, dass man bei ihm womöglich eine Fehldiagnose gestellt hatte. Zwar hatte er schon einige Male kurz vor einer Ohnmacht gestanden, oft war ihm schwindelig geworden und sein Appetit war verschwunden, aber im Übrigen fühlte er sich ganz gut. Jetzt glaubte er fest, dass die Ärzte die schreckliche Diagnose in einigen Monaten nicht bestätigen würden. Er begann zu träumen: wie er seine Frau und das Kind nach Petersburg bringen würde, wo er selbst geboren und aufgewachsen war, und wie er wieder mit voller Brust die salzige Meeresluft einatmen könnte, die er im Kaukasus so vermisste.

Der errechnete Geburtstermin fiel unbegreiflicherweise mit dem Termin seiner medizinischen Untersuchung zusammen. Alexander war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er tun sollte. Den Termin für die Untersuchung absagen oder um einige Zeit verschieben, das konnte er beim besten Willen nicht. Er wollte aber auch nicht seine Frau allein lassen, gerade jetzt, wo das Kind jede Minute zur Welt kommen konnte.

„Mach dir keine Sorgen“, redete Tamara ihm nach einem Blickwechsel mit ihrem Mann gut zu. Sie verstanden durchaus die Sorgen des Schwiegersohnes. „Leyla wird schon nichts passieren. Solange du nicht da bist, wird sie bei uns bleiben, so können wir alle beruhigt sein. Auch wenn das Kind ohne dich geboren werden sollte, ist es nicht schlimm, wir sind ja in der Nähe. Und nach deiner Rückkehr nimmst du Leyla und das Baby mit nach Hause.“

„Wie wird es bloß mit dem Umzug nach Petersburg werden, wenn ich die Arbeitserlaubnis erhalte? Wie wird das Baby diese lange Reise vertragen? Und ob Leyla dort allein, ohne eure Hilfe, zurechtkommen wird?“ Die vielen Fragen, die Alexander stellte, zeugten von der Sorge eines Ehemannes um seine junge, unerfahrene Frau, aber auch von seiner Nervosität wegen der bevorstehenden Fahrt. Und je mehr Alexander über den Umzug nach Petersburg sprach, desto deutlicher konnte man aus seiner Stimme die Unsicherheit heraushören. „Mach dir keinen Kopf wegen des Umzugs, denk lieber an deine Gesundheit“, beruhigte Tamara den Schwiegersohn. „Lass dich untersuchen, und wenn alles in Ordnung ist, helfen Vater und ich bei dem Umzug. Ich kann auch ein paar Wochen bei euch bleiben, solange ich euch nicht im Wege stehe.“

„Vielen Dank, Tamara. Ich mache mir so viele Sorgen …“ Alexander atmete erleichtert auf, als er begriff, dass Leyla nicht ohne Unterstützung bleiben würde. „Und die Untersuchung werde ich schon schaffen, glaubt es mir.“

Zehn Tage später brachte ihn ein Zug mit Volldampf nach Petersburg, und zwei Tage danach gebar Leyla einen prächtigen schwarzhaarigen Jungen.

Alexander erschien ohne Vorwarnung zurück bei Leylas Eltern. Die junge Mutter schaukelte gerade das Baby, als sie fühlte, dass hinter ihrem Rücken jemand das Zimmer betrat. Sie drehte sich um und sah ihren Mann. Nach einem kurzen Blick zu ihrem schlafenden Sohn fiel sie Alexander um den Hals, lehnte sich mit ihrem ganzen Körper an ihn, spürte seine Wärme und blieb so stehen.

„Warum hast du kein Telegramm geschickt? Papa hätte dich abgeholt.“ In Leylas Augen leuchtete das Glück. „Was haben denn deine Ärzte gesagt? Ist alles in Ordnung?“

„Später, das alles später.“ Alexander mied die Augen seiner Frau. „Lass mich zuerst unseren Sohn sehen.“

Er trat an das Bettchen heran, beugte sich zu dem schlafenden Baby und berührte nur leicht, um es nicht zu wecken, sein Köpfchen. Dann drehte er sich zu Leyla, umarmte sie, presste sie an sich und sagte: „Ich bin ausgemustert. Wir fahren nicht nach Petersburg. Wir bleiben hier. Hier sind unser Sohn und unsere Familie.“ Alexanders Umarmung wurde immer fester. Dann spürte Leyla auf ihrer Wange etwas Heißes fließen, das auf der Haut eine brennende Spur hinterließ. Sie war durcheinander, stand unbeweglich da und wusste nicht, was sie tun sollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie vor einem weinenden Mann.

Nachdem Leylas Eltern von dem Urteil der Ärzte erfahren hatten, versuchten sie, so gut sie es konnten, dem jungen Paar zu helfen, das Unglück zu verkraften. Mit der Erfahrung ihres Alters wiederholten sie immer wieder:

„Die Hauptsache ist, dass ihr einander liebt. Ihr habt einen prächtigen Sohn, ihr habt ein Haus, das ihr nicht erst zu bauen braucht, ihr müsst nicht einmal etwas für das Haus kaufen. Es gibt nicht viele Menschen, die ihr gemeinsames Leben in solch einem Wohlstand beginnen, wie ihr. Das Meer werdet ihr euch zwar aus dem Kopf schlagen müssen, aber für geschickte Hände gibt es immer und überall Arbeit.“

So begann für Alexander ein vollkommen neues Leben – ohne das Meer, ohne Freunde, ohne seine geliebte Arbeit, aber mit der geliebten Frau und einem Sohn.

Um sich von den Gedanken an das Leben in Petersburg abzulenken, konzentrierte er sich auf seine kleine Familie. Das Haus der Großmutter Irina, in das sie eingezogen waren, musste schon seit Langem renoviert werden, der Garten war ebenfalls verwildert. Um das alles in Ordnung zu bringen, brauchte man Zeit und Energie. Als der kleine Grischa, der so in Erinnerung an Leylas Urgroßvater genannt worden war, anderthalb Jahre alt war, bekam er ein Schwesterchen. Leyla bestand darauf, dass ihre Tochter den Namen Polina bekam. Alexander wäre sicher viel glücklicher, wenn er jedes Mal den Namen seiner Großmutter hörte und denken könnte, dass die geliebte Oma nicht gestorben sei, meinte sie.

Die Kinder wurden mit der Zeit größer, Alexander konnte jedoch immer noch keine passende Arbeit finden. Er war ein Marineoffizier und kannte sich mit Atomreaktoren, Dieselmotoren, der Navigation und ähnlicher Materie aus. Dies aber war in einem kleinen kaukasischen Städtchen absolut wertlos. Die finanzielle Lage seiner Familie war im Vergleich mit anderen jungen Familien indes recht gut. Alexander erhielt eine anständige Pension und zusammen mit der Rente der Großmutter Irina reichte das Geld vollkommen aus, zumal sie keine Sonderausgaben für Theater- und Kinobesuche oder Reisen hatten und das im Garten wachsende Obst und Gemüse verzehren konnten. Leyla musste auf ihre Arbeitsstelle als Archivarin verzichten, da zwei kleine Kinder und eine alte Oma Aufmerksamkeit und Pflege brauchten, sodass die Zeit für nichts anderes reichte.

Als die kleine Polina drei Jahre alt war, starb Irina Pawlowna. Zwei Monate nach diesem traurigen Ereignis stellte sich nun erneut die Frage nach Leylas Berufstätigkeit.

„Meine Pension wird reichen, wenn wir sparsam leben“, versuchte Alexander seine Frau zu überzeugen. Er, ein noch junger Mann, hasste das Wort „Pension“ in Verbindung mit seiner Person. „Ich werde versuchen, irgendeine Arbeit zu finden, damit du zu Hause bei den Kindern bleiben kannst.“

„Alex, Schatz, du suchst seit vier Jahren Arbeit, du kennst unsere Stadt besser, als sie sich selbst kennt. Es gibt hier einfach keine Arbeit für dich, die deinem Niveau nur halbwegs entspricht. Dagegen kann man nichts machen, also muss ich arbeiten gehen und du passt auf das Haus und die Kinder auf.“

Diesem Argument seiner Frau konnte Alexander schwer etwas entgegenhalten. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass das kulturelle Petersburger Leben für ihn wohl für immer unerreichbar blieb und dass er anstatt des Mariinski-Theaters, das er früher alle zwei bis drei Monate besucht hatte, nur die Konzertübertragungen im Fernsehen hören konnte. Bis zu regelrechten Herzschmerzen vermisste er allerdings Petershof mit seiner Architektur, die ihn immer begeistert hatte, die vergoldeten Skulpturen, die geometrischen Linien der Parks, die Kaskaden zahlreicher Wasserspiele. Von Petersburg vermisste er vor allem das Schiffchen an der Spitze der Admiralität, das er sich viele Male im Vorbeigehen angeschaut hatte. Aber am meisten vermisste er die Eremitage, seine große, allumfassende Liebe, die Eremitage, die sich entlang des Newa-Ufers erstreckte, mit ihrer Hauptkrone, dem Winterpalais, elegant eingefügt in das Gesamtbild des Schlossplatzes. Wenn er an die unbeschreiblich schönen Gemälde großer Meister zurückdachte, und besonders an Rembrandts „Danae“, das Bild, vor dem er früher stundenlang gestanden hatte, traten ihm Tränen in die Augen. Dieses Gemälde war ihm besonders in Erinnerung geblieben, weil die darauf dargestellte liegende Frau unfassbar seiner geliebten Ehefrau ähnelte. Und wenn der ehemalige Marineoffizier an den U-Boot-Unfall dachte, der wegen Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit eines seiner Kollegen passiert war und der ihm seine Zukunft geraubt hatte, wurde ihm richtig schlecht.

Alexander konnte das alles seiner Frau nicht erklären. Sie war geboren und aufgewachsen in einer ganz anderen Welt, sie war in eine andere Schule gegangen, sie hatte andere Interessen, sie sah dieselbe Umgebung mit ganz anderen Augen. Jene Kenntnisse, Fertigkeiten, Vorlieben und Interessen, die er sich in einer pulsierenden Großstadt angeeignet und entfaltet hatte, hatte sie in ihrem kleinen Provinznest nicht entwickeln können. Und Alexander schaffte es nicht, diesen Unterschied in ihrer Weltsicht zu überbrücken.

Das bedeutete keinesfalls, dass er Leyla für dumm hielt oder dass sie ihn langweilte. Im Gegenteil, ihr feuriger, temperamentvoller Charakter, ihre Ausgelassenheit, ihr Querdenken versetzten ihn nach wie vor in Erstaunen. Aber sie teilte seine Interessen nicht und fand, dass es spannendere Beschäftigungen gebe als das „Lesen langweiliger Bücher“. Leyla war gerne in der Natur. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Kochen schmackhafter Gerichte, um ihrer Familie Freude zu machen. Das Haus war immer blitzeblank sauber. Mit diesem Aspekt ihres gemeinsamen Lebens war Alexander mehr als zufrieden.

Nach einigen Jahren aber, als die Kinder größer geworden waren und die Eltern mehr Zeit füreinander hatten, merkte Alexander immer häufiger, dass es ihm immer schwerer fiel, sich mit Leyla zu unterhalten. Früher hatten sie einfach keine Zeit für Gespräche gehabt, doch jetzt, als ausreichend Zeit da war, stellte sich heraus, dass sie keine gemeinsamen Themen fanden, die beide wirklich interessierten.

Im Grunde genommen hatten Leyla und Alexander keine Zeit gehabt, einander ausreichend kennenzulernen: Sie hatten sich zwei Mal getroffen und beim dritten Mal die Entscheidung getroffen, zu heiraten. Zwischen ihrer ersten Begegnung und der Brautnacht war nur ein Monat vergangen. In einer so kurzen Zeit ist es unmöglich, alles voneinander zu erfahren, und es ist auch nicht so wichtig, denn wenn man verliebt ist, hat man ganz andere Gedanken im Kopf. Nach der Hochzeit hatten sie die körperliche Seite der Liebe kennengelernt, diejenige, die erst nach Sonnenuntergang zum Vorschein kommt. Sie waren damals jung und ineinander verliebt gewesen, sie hatten einander leidenschaftlich geliebt und in ihrer Leidenschaft keine Gespräche vermisst.

Nun dachte Alexander immer häufiger auch über diese Seite ihrer Beziehung nach. Er verstand immer weniger, was zwischen ihm und Leyla geschah. Er horchte in sich hinein und begriff, dass er sich zu seiner Frau weniger hingezogen fühlte als früher. Warum? Diese Frage konnte Alexander nicht beantworten. Er wusste, dass er sie genauso stark liebte wie früher, aber trotzdem suchte er sich jetzt abends immer wieder eine Beschäftigung, damit er nicht gleichzeitig mit Leyla ins Bett gehen musste. Sie war nach wie vor eine temperamentvolle Frau und forderte von ihrem Mann ihre tägliche Portion Liebe. Für ihn hingegen wurde es immer schwieriger, ihren Appetit zu sättigen.

Alexander suchte die Ursache für die Verweigerung seiner Männlichkeit überall, aber nicht dort, wo sie wirklich steckte. Sie lag tief verborgen in seinem Unterbewusstsein, dort, wohin kein einziger Sonnenstrahl dringt, um die dunklen Ecken dieser Sammelstelle für Ängste auszuleuchten, um sie zu vertreiben, wie sogar der leichteste Wind Wolken vertreibt, die die Sonne verdecken.

Ein tapferer Marineoffizier, der Pension bezieht.

Ein Petersburger, der in einer Provinzstadt mit einer ihm unbekannten und fremden Kultur lebt.

Ein Mann in den besten Jahren, der gezwungen ist, zu Hause zu hocken und auf die Kinder aufzupassen, weil er keine Arbeit findet.

Die geliebte Frau, die nicht ganz seinem intellektuellen Niveau entspricht.

Und schließlich die Krankheit, die nicht aus dem immer noch leistungsbereiten Körper zu vertreiben ist.

Dazu die Angst, dass die Krankheit früher oder später die Oberhand gewinnt.

Jede einzelne dieser Ursachen konnte man leicht bekämpfen oder zumindest hinnehmen und sich damit arrangieren. Aber auf eine verhängnisvolle Art und Weise versammelten sie sich alle unter einem Dach, griffen mit ihren klebrigen Tentakeln ineinander und begannen, widrige Wellen der Angst und Unsicherheit zu verströmen.

Alexander sorgte sich, dass Frau und Kinder ihn als Familienoberhaupt nicht wirklich anerkannten, weil er zu Hause blieb und nicht arbeiten ging, wie es sich für einen Mann gehörte. Er befürchtete, dass seine Frau sich seinetwegen vor ihren Verwandten schämte. Er hatte Angst, wieder einmal von seinen Kindern zu hören: „Papa, warum arbeitest du nicht?“ Die Angst zerriss sein Herz bei dem Gedanken, dass er seine junge schöne Frau im Bett nicht befriedigen konnte. Er fürchtete sich davor, dass sie einen Seitensprung haben könnte. Er fürchtete sich, sie zu verlieren. Er begann, Angst vor seinen Ängsten zu entwickeln.

Als Grischa in die erste Klasse ging, bekam Leyla mit etwas Glück Arbeit als Lageristin im Fertigwarenlager der örtlichen Kartonagenfabrik. Auf diese Arbeitsstelle, von der sie von ihrer Nachbarin Fatima wusste, hatte sie mehr als ein Jahr gewartet. Fatima stand kurz vor ihrer Rente und legte ein Wort für Leyla bei ihrem jungen Vorgesetzten Amir ein. Er hatte nichts dagegen, Leyla einzustellen, und nun wartete sie geduldig, bis Fatima ihre letzten Wochen vollendete. Lageristin war natürlich etwas anderes als Buchhalterin, aber sie hatte immerhin Arbeit. Etwas Besseres war nicht in Sicht.

Nachdem Leyla dann zwei Monate bei der neuen Stelle beschäftigt war, kam es zwischen ihr und dem Vorgesetzten zu einem für sie unerwarteten Gespräch.

„Wie ist deine Arbeit? Bist du nicht unterfordert?“, fragte der Vorgesetzte und lächelte, als Leyla ihm die Quartalsbestandsliste zur Unterschrift brachte.

„Es gibt Arbeitsstellen, die anspruchsvoller sind“, antwortete sie aufrichtig.

„Du verstehst doch, dass gute Arbeitsplätze heiß begehrt sind.“ Amir betrachtete seine Mitarbeiterin aufmerksam, dann schaute er zur Seite und setzte vorsichtig fort:

„Es gab übrigens sehr viele Bewerberinnen für deine Stelle, ich habe aber dich allen anderen vorgezogen.“

„Diese Arbeit hatte mir Fatima versprochen“, sagte Leyla verwirrt.

„Sei nicht so naiv!“, lachte der Vorgesetzte. „Ich alleine entscheide, wer hier arbeitet und wer nicht. Wenn du aber etwas zärtlicher zu mir bist, brauchst du keine Entlassung zu befürchten.“

Einfältig war Leyla nie gewesen. Sie begriff sofort, wovon Amir redete. Dieses Gespräch verschwieg sie aber ihrem Mann, da sie vernünftigerweise die ohnehin angespannte Ehe nicht weiter strapazieren wollte.

So wurde sie die Geliebte ihres Vorgesetzten, ohne irgendwelche Gefühle außer Ekel ihm gegenüber zu empfinden. Arbeit zu haben war für sie wichtiger als einige Minuten schneller Kopulation zu ertragen, nach der Amir sie bis zum nächsten Mal in Ruhe ließ.

Bei der Arbeit erholte sie sich seelisch von der drückenden Atmosphäre zu Hause. Der Sohn war außer Rand und Band und hörte kein bisschen auf die Mutter, lediglich mit der Tochter verstand sie sich gut. Alexander begann, dem Alkohol zuzusprechen, und Leyla konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal berührt hatte. Alexander war ihr erster und einziger Mann gewesen, bis Amir sie zu seiner Liebhaberin gemacht hatte. Erst jetzt verstand sie, was für ein schwacher Mensch ihr Mann war. Sie liebte ihn und verzieh ihm sein männliches Unvermögen, aber sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er zu trinken begann. Sie bat, sie flehte ihn an, schimpfte, drohte, aber es half nichts: Alexander war immer häufiger betrunken.

Nach einer gewissen Zeit war es Leyla egal. Sie lebte nun in einer ihr selbst unbegreiflichen und seltsamen Welt: Der Mann, den sie über alles liebte, schlief nicht mit ihr und trank. Der Mann, den sie hasste und fürchtete, trank nicht und schlief mit ihr. Sie konnte daran nichts ändern.

Eines Tages wurde in der Fabrik ein großes Fest mit Musik und Buffet zur Begrüßung des neuen Betriebseigentümers aus Moskau veranstaltet. Michail Sokol, wie der neue Chef hieß, hatte die Kartonagenfabrik gekauft. Die Fabrik hatte zuvor der Stadt gehört, bevor diese nicht mehr genügend Aufträge zur Auslastung der Arbeitskräfte hatte beschaffen können. Der neue Boss dagegen brachte in der Aktentasche einen Stapel von Verträgen mit, die für die Produktion in den nächsten fünf Jahren ausreichen sollten.

Ob es Schicksal oder Zufall war, bleibt dahingestellt, aber als Michail bei dem Fest die schöne Leyla sah, war er dermaßen verzaubert, dass er mehrere Tänze mit ihr tanzte, obwohl er noch nie sentimental gewesen war. Er war jung, kräftig, selbstsicher, sodass Leyla sich in ihn verliebte. Es kam zu einem Verhältnis, von dem nur sie beide wussten. Als Leyla Amir davon erzählte, trat er verständnisvoll zur Seite. Jetzt hatte er Angst um seinen Arbeitsplatz. Die Gefühle, die zwischen Leyla und Michail entstanden, waren so stark, dass die beiden nach einem Jahr unregelmäßiger Telefonate und seltener Treffen beschlossen, zusammenzuziehen. Die Geliebten verabredeten, dass Michail bei seinem nächsten Kommen Alexander alles selbst erklären und Leyla mit ihrer Tochter nach Moskau mitnehmen würde. Der Sohn sollte vollkommen frei entscheiden, bei wem er bleiben und wo er leben wollte.

Diese Pläne sollten allerdings nie verwirklicht werden. Einen Tag vor Michails erwarteter Ankunft wurde Leyla zu Amir gerufen. Er schloss die Tür und bat die junge Frau, sich zu setzen.

„Michail wird nicht kommen. Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Man sagte mir, dass er überfallen worden ist. Er wurde schwer verletzt und starb.“ Amir erhob sich vom Stuhl, näherte sich der bewegungslos dasitzenden Frau und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Glaub mir, es tut mir leid, Michail war ein echter Kerl.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du verstehst doch, dass es zwischen uns wieder so laufen wird wie früher. C’est la vie!“

Und so lief das Leben auf der bekannten Schiene weiter und überrollte abermals die unglückliche und unverstandene Frau.

Die Situation zu Hause war nach wie vor gespannt. Ihr Mann zog sich zurück und lebte in einer nur ihm verständlichen Welt. Die Kinder erreichten das Alter, in dem sie alles selbst entschieden, zumal sie die Hilflosigkeit ihrer Eltern spürten.

Um das Verhältnis zu ihrem Sohn zu verbessern, der seit Langem nicht mehr mit ihnen sprach, unternahmen Leyla und Alexander einen Annäherungsversuch und organisierten zu seinem neunzehnten Geburtstag eine Feier. Viele Gäste waren gekommen, aber mitten im Fest verschwand Grischa unbemerkt und kam erst am nächsten Tag nach Hause zurück. Als Leyla von der Arbeit heimkehrte, teilte Alexander ihr mit, dass der Junge wegen des Verdachts seiner Teilnahme an der Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens aus der Nachbarschaft festgenommen worden war. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und nach einem halben Jahr wurde Grischa zu vier Jahren Haft verurteilt.

Bei all dem Kummer merkte Leyla zu spät, dass auch Polina sich stark veränderte. Das Mädchen war kaum zu Hause und hatte neue Freunde.

„Polina, Liebes, man trifft dich kaum zu Hause. Wo bleibst du denn, was machst du, mit wem bist du befreundet? Du erzählst nie etwas.“ Die verzweifelte Mutter versuchte, den Vorhang des Schweigens zu öffnen.

„Bei mir ist alles in Ordnung“, erklang die übliche Antwort, hinter der das neue Leben der Tochter, von dem niemand etwas wusste, verborgen blieb.

Als Leyla endlich merkte, warum ihre Tochter sich so stark verändert hatte, war es schon zu spät: Polina hing an der Nadel. Für die Mutter bedeutete dies den nächsten Kreis der Hölle. Sie musste dringend eine Klinik finden, die dem Mädchen helfen konnte, ihre Drogensucht zu überwinden. Mit äußerster Mühe konnte die Tochter in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Leyla hatte immer weniger Kräfte, all das Unglück, das sie verfolgte, abzuwehren.

Im Laufe der Jahre, in denen Leyla mit Amir verkehrte, verflüchtigte sich allmählich ihr Hass ihm gegenüber. Nach Michails Tod begann sie sogar Spaß an ihren Treffen zu empfinden. Diese Treffen wurden für sie gewissermaßen ein Blitzableiter, eine Unterbrechung, eine Freistellung von den ungelösten Familienproblemen. Außerdem sehnte sich der immer noch junge weibliche Körper, wenn schon nicht nach Liebe, dann zumindest nach körperlicher Nähe. Aber auch hier hatte Leyla Pech. Eines Tages rief Amir sie zu sich ins Büro und sagte:

„Leyla, wir kennen uns jetzt mehr als zwölf Jahre. Du hast mir schon immer gefallen, sonst hätte ich nicht mit dir geschlafen. Reden wir offen: Dich heiraten kann und will ich nicht, das ist dir bekannt. Nächste Woche werde ich eine andere Frau heiraten. Ich liebe meine zukünftige Ehefrau. Mit dir werde ich mich nicht mehr treffen. Ich hoffe, dass du mir nichts von dem übelnimmst, was all die Jahre zwischen uns gelaufen ist.“

„Ich muss dir auch etwas sagen.“ Leyla sah ihn mit ihren klaren blauen Augen an. „Zuerst habe ich dich gehasst, weil du mich gezwungen hast, deine Geliebte zu werden. Dann war es mir egal, ich wollte bloß die Arbeit nicht verlieren, an die ich mich gewöhnt hatte. In der letzten Zeit aber fühle ich mich wohl mit dir, das spürst du zweifelsohne.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Du weißt von all dem Unglück, das meine Familie getroffen hat. Wenn ich bei dir bin, vergesse ich wenigstens, dass alles den Bach runtergeht. Ich kann dich nicht dazu bringen, mich zu lieben, aber wollen wir nicht alles beim Alten belassen?“

„Nein, Leyla, ich möchte meine Frau nicht betrügen, ich will mein Familienleben nicht mit einer Lüge anfangen.“

„Aber mich hast du gezwungen …“

„Ich bin ein Mann und entscheide selbst, wann und mit wem ich mich wohlfühle. Deine Zeit ist vorbei und Schluss damit.“

Zum zwanzigsten Geburtstag ihres Sohnes fuhr Leyla in das dreißig Kilometer entfernte Gefängnis, um Grischa zu besuchen. Nachdem sie frühmorgens aufgestanden war und eine Tasche mit Geschenken gepackt hatte, fragte sie ihren Mann noch einmal:

„Willst du nicht mitkommen? Grischa ist doch auch dein Sohn.“

„Er ist nicht mehr mein Sohn. Er ist ein Verbrecher“, sagte Alexander und wandte sich ab.

Innerlich hohl nach dem Wiedersehen mit ihrem Kind, kam Leyla erst spät nach Hause. Das Haus empfing sie mit Dunkelheit und einer unheimlichen Stille.

„Alexander, bist du da?“ Sie rief einmal, dann noch einmal, bekam aber keine Antwort.

„Komisch, wohin konnte er so spät noch gehen?“, dachte die müde Frau, während sie die Tür zur Speisekammer öffnete, um ihre Tasche dort abzustellen. Als sie auf den Lichtschalter drückte, schrie sie vor Entsetzen auf: An einem an der Decke befestigten Haken hing der Körper ihres Mannes, der seine Offiziersuniform trug.

Unter den schwach schaukelnden Füßen in den auf Hochglanz polierten Schuhen lag Alexanders schwarz-weiße Dienstmütze mit dem schweren Emblem, die von seinem Kopf gefallen war.


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