Читать книгу Ebu Gogo - Gard Spirlin - Страница 5
Prolog
Оглавление»Sie sind doch nicht extra aus Europa hierher nach Sumatra gekommen, nur um mir zu sagen, dass ich seit Jahren nach einem Tier suche, das vielleicht gar kein Tier ist?«
Überrascht blickte Dr. Alex van Houten von seinem Laptop auf und warf der attraktiven Mittvierzigerin gegenüber einen erstaunten Blick zu.
»Natürlich nicht! Ich dachte, das hätte ich schon erwähnt … entschuldigen Sie. Nein, ich beabsichtige eine Expedition zu organisieren und wollte Sie eigentlich davon überzeugen, daran teilzunehmen. Selbstverständlich würde ich mich auch um die Finanzierung bemühen, aber zuerst lag mir daran zu versuchen, eine Expertin wie Sie für diese Unternehmung zu gewinnen. Nämlich jemanden, der einen Ebu Gogo schon einmal gesehen hat. Was halten Sie davon, Dr. Lindsey?«
»Deborah, bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Und ich sah bestenfalls einen Orang Pendek – wobei ich mir dabei mittlerweile selbst nicht mehr sicher bin.«
»Wie die jeweiligen Einheimischen ihre Begegnungen im Urwald benennen, halte ich für nebensächlich. Viel wichtiger ist, dass die verschiedenen Beschreibungen der unbekannten Spezies – auch der Ihren – erstaunlich übereinstimmen. Und für wie wahrscheinlich halten Sie die Existenz zweier unterschiedlicher und unentdeckter Hominiden auf den indonesischen Inseln?«
»Eine einzige bislang unbekannte Hominidenart wäre schon eine Sensation! Natürlich immer vorausgesetzt, dass ihre Theorie stimmt, und es sich wirklich um urzeitliche Menschen handelt, die in der Abgeschiedenheit der letzten Regenwälder bis heute überlebten.«
Nachdenklich drehte Deborah ihr Cocktail-Glas und blickte hinein, als erwarte sie von dort eine Antwort.
»Wissen Sie, Alex, dieses Lebewesen, das ich damals sah – oder zumindest glaube, gesehen zu haben – besaß zwar einen aufrechten Gang, aber auch Menschenaffen richten sich zuweilen auf. Nur weil es die hiesigen Einheimischen mit den indonesischen Worten Orang Pendek als Kleiner Mensch bezeichnen, könnte es sich dennoch einfach nur um eine bislang nicht erforschte Affenart handeln. Immerhin benannten die Indonesier auch den Orang-Utan als ›Waldmensch‹. Und der ist definitiv ein Affe.«
»Selbstverständlich verstehe ich, dass Sie als Zoologin eine andere Sichtweise einnehmen, als ein Anthropologe wie ich. Aber ich war dabei, als wir auf der Insel Flores – gar nicht so weit entfernt von Sumatra – die Fossilien desjenigen Urmenschen fanden, der in der heutigen Wissenschaft als Homo floresiensis, also ›Mensch von Flores‹ geführt wird. Und obwohl dieser Fund Merkmale aufweist, die einem sehr frühen Hominiden ähneln, der vor weit über einer Million Jahre lebte, wurden die jüngsten dieser Knochen auf ein Alter von gerade einmal 12.000 Jahre datiert! Das bedeutet, dass dieser Urmensch die Inseln damals bereits mit dem modernen Menschen teilen musste. Doch wenn man den Einheimischen von Flores glauben mag, existierten dort sogar bis in die jüngste Vergangenheit noch immer solche Ebu Gogo, wie sie selbst sie nennen.«
Draußen war inzwischen die kurze Tropendämmerung in die Nacht übergegangen. An der Decke der Bar mühte sich ein träge rotierender Ventilator vergeblich, die stickig feuchte Luft ein wenig erträglicher zu machen. Dr. van Houten drehte den Laptop zu Deborah.
»Hier, sehen Sie! Das sind forensische Rekonstruktionen unserer fossilen Knochenfunde. So könnten unsere fernen Verwandten ausgesehen haben. Sie waren sehr klein, auch als Erwachsene nicht mehr als einen Meter groß! Daher auch der Spitzname ›Hobbit‹, welchen die Presse gerne für diesen Homo floresiensis verwendet. Wenn Ihnen solch ein Individuum im Urwald begegnet, können Sie es leicht auch für einen Affen halten.«
Deborah blickte auf den Bildschirm, runzelte die Stirn und seufzte.
»Ich sagte ja schon, dass ich manchmal selbst daran zweifle, was ich gesehen habe. Nur eines ist jedenfalls sicher: Es handelte sich um keine mir bekannte Spezies. Später nahm ich dann eine Stelle beim WWF an, um dabei zu helfen, die hier lebenden Tiger vor der Ausrottung durch Wilderer zu bewahren, aber in meiner Freizeit versuchte ich immer wieder, meine Begegnung mit diesem Geschöpf zu wiederholen. Leider erfolglos.«
»Kennen Sie die ›History of Sumatra‹ von William Marsden? Im frühen 19. Jahrhundert beschrieb er darin unter anderem ein Volk von ebenfalls sehr kleiner und affenartiger Erscheinung. Aber laut Marsden benutzten sie eine eigene Sprache, und einer von ihnen soll sogar mit einer Frau vom Stamm der Labun Nachkommen gezeugt haben.«
»Ja, ich kenne diese Geschichte. Aber William Marsden erfuhr vieles, was er aufschrieb, nur aus zweiter Hand, und sogar er selbst räumte eine zweifelhafte Glaubwürdigkeit in diesem Fall ein. Außerdem, da Sie mir schon mit uralten Büchern winken: Bereits Marco Polo erwähnt gegen Ende des 13. Jahrhunderts, dass auf Sumatra ›behaarte Menschen‹ leben würden, allerdings besäßen sie auch einen Schwanz, was doch wohl eindeutig für einen Affen spricht – oder, verehrter Doktor?«
Deborah konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, und selbst die bis dahin todernste Miene Dr. van Houtens verzog sich zu einem Lächeln.
»Ja, schon gut, ein Punkt für Sie, meine Liebe. Im Zusammenhang mit meinen Ebu Gogo geht mit mir schnell mal die Begeisterung durch. Aber die momentan wichtigste Frage betrifft Sie: Werden Sie mir helfen? Suchen Sie gerne nach einem Affen, während ich nach Hominiden Ausschau halte – aber ich bin sicher, dass wir beide das Gleiche finden. Was halten Sie davon?«
Deborahs Grinsen wurde noch ein wenig breiter.
»Wenn sich eine Gelegenheit zur Affenjagd bietet, werde ich sie, zum Teufel noch mal, auch ergreifen!«
»Also abgemacht?«
»Abgemacht! Mir hängt das Tigerzählen sowieso allmählich zum Hals heraus. Außerdem haben die Ranger im Nationalpark mittlerweile die Wilderer halbwegs im Griff, daher kann ich mir ruhig eine kleine Auszeit nehmen. Aber wie stellen Sie sich das ganze Unternehmen eigentlich vor? Haben Sie schon eine Idee, wen Sie sonst noch daran beteiligen wollen?«
»Auf alle Fälle einen Genetiker. Ich dachte dabei an einen jungen, sehr talentierten Doktoranden, Karim Samet. Über seine Beziehungen besteht außerdem die Chance auf ein mobiles DNA-Labor neuester Bauart. Das erspart wertvolle Zeit, da etwaige Proben sofort vor Ort analysiert werden könnten.«
»Wäre in der Tat sehr hilfreich. Aber wie steht es um Ihre Dschungelerfahrung? Haben Sie zuvor schon einmal so eine Expedition geplant?«
»Nein, ich war zwar auf Flores dabei, hatte aber mit der Organisation nichts zu tun. Ehrlich gesagt habe ich darauf spekuliert, diesbezüglich auf Ihre Erfahrungen zurückgreifen zu dürfen.«
»Wo ich kann, helfe ich Ihnen gerne, aber wir werden auf alle Fälle noch einen Experten für das Fährtenlesen brauchen. Ein bisschen kenne ich mich zwar auch damit aus, aber in dieser Hinsicht benötigen wir schon einen Spezialisten.«
»Ist Ihnen jemand bekannt, der in Betracht käme?«
»Ich würde Ellen Sindar vorschlagen, mit ihr habe ich schon mehrmals zu meiner vollsten Zufriedenheit zusammengearbeitet. Außerdem kennt sie die infrage kommenden Gebiete wie ihre Westentasche.«
»Eine Frau als Scout?«
»Höre ich da den Anflug eines Vorurteils? Ellen ist nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern von einem befreundeten indischen Paar adoptiert worden und hat praktisch ihr ganzes Leben hier auf Sumatra verbracht. Die meiste Zeit davon zum Leidwesen ihrer Adoptiveltern im Urwald. Sie ist wirklich eine Koryphäe auf ihrem Gebiet.«
»Gut, wenn Sie es sagen … Fragen Sie bitte, ob sie zur Verfügung stehen würde. Noch etwas: Voraussichtlich werden wir eine Menge elektronischer Ausrüstung mit uns führen, daher hätte ich gerne auch einen Techniker dabei, der uns im Falle einfacher Defekte aus der Patsche hilft. Ich selbst verfüge dafür leider über zwei linke Hände. Wäre schade, wenn die Expedition daran scheitert, dass zum Beispiel der Generator den Geist aufgibt. Haben Sie da vielleicht auch einen Bekannten?«
»Nein, leider nicht. Meine Trips in den Regenwald liefen weitestgehend ohne viel Technik ab. Aber ich werde mich umhören.«
»Vielleicht könnte ich Ihnen da weiterhelfen?«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen. Überrascht drehten sich Deborah und Dr. van Houten gleichzeitig zu dem Sprecher um und erblickten einen etwa dreißigjährigen Mann an der Bar hinter ihnen. Die etwas mehr als nur gesunde Gesichtsrötung sowie sein glasiger Blick ließen vermuten, dass die Batterie leerer Bierflaschen hinter ihm auf sein Konto ging.
»Lauschen Sie gewohnheitsgemäß fremden Unterhaltungen?«, herrschte ihn Dr. van Houten an.
»E-entschuldigung, aber Sie sprachen so laut, dass mir sozusagen nichts anderes übrig blieb, als Ihr Gespräch mitzuverfolgen«, stotterte der Ertappte, wobei seine Gesichtsfarbe einen kräftigen Ton zulegte.
»Mein Name ist Bud Waters, und ich wäre an dem Job als Techniker interessiert, den Sie erwähnt haben. Ich habe einen Abschluss in Elektronik und Informatik und glaube, dass ich Ihnen eine gute Hilfe sein würde.«
Dr. van Houten musterte den jungen Mann mit unverhohlener Skepsis. Angesichts des Zustandes der verlottert wirkenden Kleidung – als auch des Trägers selbiger – schien Zweifel durchaus angebracht. Deborah hingegen schmunzelte amüsiert angesichts der Verlegenheit des Mannes, der unter dem prüfend strengen Blick des Doktors regelrecht zusammenschrumpfte.
»Und was bestärkt Sie in der Annahme, dass ausgerechnet Sie sich dafür eignen? Sie erwecken in mir nicht gerade den Eindruck, für ein Vorstellungsgespräch gerüstet zu sein«, sagte Dr. van Houten schließlich.
»Ich weiß, derzeit bin ich vielleicht ein wenig … underdressed, aber ich konnte ja nicht ahnen, hier vielleicht eine Chance zu bekommen, diesem Drecknest zu entkommen. Bitte glauben Sie mir, ich kann wirklich mehr, als nur Radios und Kühlschranke zu reparieren, womit ich mich derzeit hier über Wasser halte. Und dass dies hier die erste Bar in Padang war, die nun über Wireless LAN und sogar eine eigene Website verfügt, geht auf meine Kappe.«
»Ah ja. Sie sagten, dass Sie sich auch mit Computern auskennen? Na, dann machen wir gleich einen kleinen Test. Mein Laptop hier arbeitet seit ein paar Tagen deutlich langsamer als gewöhnlich. Was könnte damit los sein?«
»Kann viele Ursachen haben, aber wenn Sie erlauben, würde ich ihn mir mal kurz ansehen.«
Bud Waters begann in seinen Hosentaschen zu kramen. Nacheinander beförderte er daraus Verschiedenes ans Licht: Einen zerknitterten Geldschein, eine Sonnenbrille mit nur einem Glas, ein offensichtlich benutztes Taschentuch, eine Dose, deren Deckel aufsprang und einen undefinierbaren pflanzlichen Inhalt enthüllte – und schließlich einen ramponierten USB-Stick. Dieser sah aus, als habe ihn mehrmals ein Lastwagen überrollt. Aber ungeachtet dessen hielt er ihn fragend Dr. van Houten unter die Nase: »Darf ich? Darauf befinden sich ein paar der notwendigsten Tools, Stickware, Sie wissen schon …« Mit weitestgehend verständnislosem Blick nickte Dr. van Houten, worauf Bud sich über den Laptop beugte, den Stick einstöpselte und stehend damit begann, die Tastatur zu bearbeiten. Dabei ging eine bemerkenswerte Wandlung mit ihm vor: Der zuvor noch glasige Blick wich einem Ausdruck höchster Konzentration, das Tempo seiner Anschläge ließ nichts von dem vorausgegangenen Alkoholkonsum erahnen. Deborah sah fasziniert zu und wechselte hin und wieder einen erstaunten Blick mit dem Doktor, während Bud mit finsterer Miene fachchinesische Kommentare, Flüche und Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelte – bis sich auf einmal sein Gesicht schlagartig aufhellte. Mit einem Knall, der die anderen beiden zusammenzucken ließ, klappte er den Deckel des Laptops zu.
»Ha, hab’ dich, du Sack!«, triumphierte er.
»Wie bitte?«, erkundigte sich der Doktor, unsicher, ob er wirklich wissen wollte, wem die rüde Anrede galt.
»Hey, Mann, Sie haben sich einen Banking-Trojaner eingetreten, der sich als Root-Kit tarnt, einen Keylogger betreibt und ihre DNS-Anfragen an einen anderen Server umleitet«, verkündete Bud strahlend.
Die Blicke, die er nach dieser Offenbarung erntete, kennzeichnete eine erstaunliche Leere, was ihn auf die gute Idee brachte, seine Erkenntnisse etwas allgemein verständlicher darzulegen.
»Entschuldigen Sie, Dr. van Houten, das war wohl zu viel Information auf einmal. Einfacher ausgedrückt: Ihr Laptop wurde von einem Computervirus infiziert, der unter anderem versucht, ihre Passwort-Eingaben abzufangen. Diese Aktivitäten belasteten den Rechner zusätzlich, was dessen Verlangsamung erklärt. Seien Sie froh, dass Sie so eine alte Mühle haben, bei einem moderneren Laptop mit mehr Rechenleistung hätten Sie den Unterschied nicht einmal bemerkt. Wann haben Sie denn zuletzt Online-Banking betrieben?« Dr. van Houten erblasste sichtlich, beugte sich vor und stotterte angespannt: »Ähm, heute Morgen erst. Bedeutet das etwa, dass ich mein Konto sperren muss?«
»Nein, Sie hatten anscheinend Glück. Laut den Logfiles sind noch keine Daten abhandengekommen. Aber checken Sie bitte trotzdem umgehend ihr Konto und ändern Sie möglichst alle wichtigen Passwörter. Den bösen Buben … werde ich gleich entsorgt haben.« Energisch klappte Bud den Laptop wieder auf und hämmerte abermals in die Tasten. Dr. van Houten lehnte sich zurück und versuchte vergeblich, sich wieder zu entspannen. Deborah warf einen anerkennenden Blick in Buds Richtung und raunte dem Doktor zu: »Der Bursche scheint gut zu sein. Ich glaube nicht, dass wir hier in Padang jemanden mit ähnlichen Fähigkeiten finden werden.«
Alex van Houten nickte zustimmend und wisperte: »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.« Dann räusperte er sich und fuhr in normaler Lautstärke fort: »Was wir auch noch besprechen müssen, Deborah, ist die Ausrüstung. Neben dem DNA-Labor benötigen wir zum Beispiel Foto- und Filmequipment zur Dokumentation von Sichtungen.«
»Dafür lassen sich sogenannte Wildkameras verwenden: digitale Kameras in einem getarnten Gehäuse, das man an Bäumen anbringen kann. Das Besondere daran ist, dass sie automatisch aufzeichnen, sobald etwas den Erfassungsbereich der Kamera betritt. Die Videos werden auf Speicherkarten geschrieben, die man anschließend auswerten kann. Wir haben damit Tiger dokumentiert.«
»Sehr gut. Zur Stromerzeugung werden wir auch einen tragbaren Generator benötigen.«
»Keinen Generator!«, meldete sich Bud zu Wort. »Die sind laut und stinken. Damit werden alle Tiere im weiten Umkreis vertrieben. Besser wäre eine Stromversorgung auf Basis von Brennstoffzellen. Die werden mit Methanol betrieben und arbeiten geräuschlos, sowie nahezu geruchsfrei. Übrigens, ich bin fertig, Ihr Laptop ist wieder so clean wie der junge Mond.«
»Danke, Mr. Waters. Die Idee mit den Brennstoffzellen finde ich übrigens hervorragend. Damit Sie die notwendigen Leistungsdaten für den Brennstoffzellengenerator ermitteln können, werde ich Ihnen die Spezifikation des DNA-Labors zukommen lassen.«
»Dann … bin ich also … dabei?«
Dr. van Houten seufzte: »Hoffentlich werde ich diese Entscheidung nicht bereuen, aber ja, Sie kommen mit uns!« Über das ganze Gesicht strahlend wirkte Bud, als könne er nur schwer einen Luftsprung unterdrücken.
»Vielen Dank! Und nein, ich werde Sie nicht enttäuschen, versprochen!«
»Wann soll es denn eigentlich losgehen, Alex?«, unterbrach Deborah.
»Ich muss daheim noch einige Angelegenheiten regeln. Die Finanzierung ist auch noch zum Teil offen – dafür benötige ich übrigens von Ihnen beiden baldigst eine Aufstellung der anfallenden Kosten. Aber ich schätze, wir sehen uns in etwa vier Wochen wieder.«
»Und dann geht es los?«, erkundigte sich Bud.
»Ja, dann geht es richtig los!«, lächelte Dr. Alex van Houten.