Читать книгу In der Ferne weiße Berge - Gary Maas - Страница 3
Kapitel 1: Tristesse und Reflexionen in Neuenbrok
ОглавлениеWährend ich dies schreibe, blicke ich in den grauen Dezemberwintergarten und schaue auf den Krüppel, der regungslos in der diesigen Tristesse steht. Dort harrt er wohl an die siebzig Jahre aus. Seit langem sind seine vielen Arme steif und seltsam verdreht. Sein verbogener Torso weist zwei schmutzige Löcher auf, in denen Enkelkinder Schätze verstecken können. Wie kann er trotz seiner klaffenden Wunden überleben? Aber er überlebt nicht nur, nein, er beschämt mich mit seiner versiegenden, aber trotzigen Vitalität. Was für eine reiche Pracht hängt von seinen knorrigen Armen. Ein Teil der Pracht liegt unbeachtet und verfaulend auf dem Boden, ein Frevel, begangen von mir, der ich ob meiner Gebrechen manchmal zur Resignation und Verzweiflung neige.
Richard blickte vom Computerbildschirm auf und schaute in den Garten. Der alte Apfelbaum stand immer noch da, allerdings jetzt in voller Blüte. Es war schon Monate her, seitdem er zuletzt an seiner Autobiografie geschrieben hatte. Inzwischen hatte er sich von der Augeninfektion, die ihn damals unerwartet befallen hatte, einigermaßen erholt, aber sein Sehvermögen hatte sich weiter verschlechtert. Er musste sich jetzt noch weiter vorbeugen um zu erkennen, was auf dem Bildschirm stand.
Ans Autofahren war nicht mehr zu denken. Dennoch wollte er seinen Führerschein für eventuelle Notfälle behalten. Wenn seine Frau noch gelebt hätte, hätte er mit ihr im Auto wegfahren können. Der alte Volvo war jedoch längst verkauft worden und er musste alle Einkäufe mit seinem Fahrrad und dem kleinen Anhänger erledigen.
Er bemühte sich eine feste Routine aufrechtzuerhalten um nicht der Selbstaufgabe anheimzufallen: Jeden Morgen stand er schon um fünf Uhr auf, aß eine Kleinigkeit, zog sich um, ging in den Keller, mühte sich anderthalb Stunden lang in seinem spartanisch eingerichteten Fitnessraum ab und hörte dabei im Radio Nachrichtensendungen. Dann duschte er sich, frühstückte noch einmal, diesmal ausgiebig, und las danach eine Stunde in seinem iPad und schrieb an seiner Autobiographie, falls ihm passende Formulierungen einfielen. Danach kaufte er ein, was nicht selten länger dauerte. An Markttagen wählte er seine Lebensmittel überlegt und sorgfältig aus. Das tat er auch in den Supermärkten und Fachgeschäften, denn Kochen war eine Leidenschaft, die er pflegte. Er war auf jeden Lebensanreiz dringend angewiesen. Bis seine Frau drei Jahre zuvor völlig unerwartet an einem geplatzten Aneurysma im Stammhirn starb, hatte er liebend gern für sie gekocht.
Am Nachmittag gab er Nachhilfeunterricht, nicht deshalb, weil er das zusätzliche Einkommen benötigte. Seine Rentenleistungen und Ersparnisse ermöglichten ihm ein sehr bequemes Leben. Der Nachhilfeunterricht bot ihm jedoch eine sinnvolle Beschäftigung, die ihn von seiner Einsamkeit ablenkte. Außerdem wusste er, dass die Unterstützung, die Schülerinnen, Schüler, Studentinnen und Studenten in den Fächern Mathematik, Deutsch und Französisch sowie Englisch bei ihm erhielten, ihm Anerkennung einbrachte, und diese stärkte sein Selbstwertgefühl, das dringend der Kräftigung bedurfte.
Abends besuchte er gelegentlich Veranstaltungen in der Stadt. Nur sehr selten wurde er von Bekannten eingeladen. Freunde im eigentlichen Sinne des Wortes hatte er keine mehr. Er wusste, dass er einfach zu reserviert und unnahbar war. Sein bester Freund, ein ehemaliger Deutschkollege am hiesigen Gymnasium, dämmerte nach dem Tod seiner Frau im Altersheim dahin. Er war inzwischen derart dement geworden, dass an vernünftige Gespräche nicht zu denken war. Der einzige Kontakt zu ihm beschränkte sich auf immer seltener werdende Pflichtbesuche. Der andere gute Freund, auch ein Deutschkollege am Gymnasium, war schon vor Jahren an Pankreaskrebs gestorben. Die beiden Deutsch- und Geschichtslehrer hatten ihn am Anfang seiner Unterrichtszeit als Deutschlehrer großzügig unterstützt und ihm mit vielen wirklich hilfreichen Ratschlägen zur Seite gestanden.
Zwei- oder dreimal im Monat lud er eine ehemalige Kollegin, eine Englisch- und Geschichtslehrerin, zum Abendessen ein. Danach ging er mit ihr ins Bett und sie verbrachte die Nacht bei ihm. Sie war ungefähr zehn Jahre jünger als er, hatte die Figur einer jungen Frau. Ihr Gesicht war zwar vom Alter gezeichnet, aber nicht abstoßend. Er konnte sich relativ gut mit ihr unterhalten, aber von Liebe konnte keine Rede sein. Die erotische Beziehung war allerdings nicht unbefriedigend. Sie hatte nie einen Ehemann abbekommen, wie es im Kollegium hieß, ein Schicksal, unter dem viele gebildete Frauen in Neuenbrok litten. Wie viele Leidensgenossinnen hatte sich seine Bettpartnerin mit wechselnden Beziehungen zufriedengeben müssen. Eine solche Beziehung musste nun auch ihm genügen, denn er rechnete nicht damit, dass er sich je wieder verlieben würde.
Er war heilfroh, dass er eine enge Beziehung zu seinen drei Kindern hatte. Das älteste Kind, eine Tochter, sowie die beiden Söhne besuchten ihn häufig und alle drei telefonierten fast jeden Tag mit ihm. Er hatte das Gefühl, dass sie sich gern mit ihm unterhielten. Mit den beiden kleinen Söhnen seiner Tochter unternahm er, wenn die Familie bei ihm zu Besuch war, Radtouren, obwohl der jüngere der beiden eigentlich fast zu klein dafür war. Die beiden schienen viel Spaß mit ihrem Opa zu haben.
An diesem Vormittag saß er darüber grübelnd, wie er seine autobiografische Schrift fortsetzen könnte. Seine drei Kinder hatten ihn 18 Monate davor dazu gedrängt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben, damit sie und ihre Kinder sowie ihre Enkelkinder nachlesen könnten, was der Vater, Großvater und Urgroßvater alles erlebt habe. Nach anfänglichem Zögern hatte er Gefallen am Schreiben gefunden und mit Humor und Ironie Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend geschildert, möglichst wahrheitsgemäß, auch wenn dies angesichts der Notwendigkeit, zarte Gemüter von Kindern und Enkelkindern zu schonen, nicht immer leicht war. So hatte er einige Schlaglichter auf sein Leben geworfen, zum Beispiel auf sein Leben auf dem kleinen Bauernhof in dem Plumcreektal in Nebraska, auf einige Begebenheiten auf der kleinen Landschule unweit des Bauernhofes, auf sein High-School-Leben sowie die College-Zeit in Nebraska. Auch von seiner Studienzeit in München und der Studentenzeit an der Universität am Fuße der Rocky Mountains hatte er einen Eindruck zu vermitteln versucht. Darüber hinaus war er auf den ersten Aufenthalt in der kleinen norddeutschen Stadt eingegangen, wo er als Gastlehrer am Gymnasium tätig gewesen war.
Er scrollte zurück und las eine Textstelle über seine Kindheit in Nebraska, Er fragte sich oft, wie er die schwierige Schulzeit einigermaßen glimpflich überstanden habe, und bedauerte, dass jahrelang sein Intellekt kaum gefördert worden sei.
Ein einschneidendes Erlebnis war die Einschulung in District 20. Gemeint ist die Landschule, an der alle Klassen von der Vorschule bis zur achten Klasse in einem Raum unterrichtet wurden. Im vorangegangenen Schuljahr hatte meine Mutter mich einmal zu der Schule gebracht und wir beobachteten eine Weile das Treiben dort. Ich war eingeschüchtert, denn in dem Jahr besuchten viele Schülerinnen und Schüler, nach meiner Vorstellung auch sehr große Menschen, die Schule. Das änderte sich jedoch in den darauffolgenden Jahren, denn die Landflucht nahm immer größere Dimensionen an: Immer mehr Familien zogen nach Kalifornien.
Schon bevor ich zur Schule ging, konnte ich alle Grundrechenarten. In meiner Vorstellungswelt hatte ich eine spiralförmige Abbildung aller Zahlen. Ich begriff, dass die Zahlen immer weitergehen, und wusste, wie man immer weiter zählen kann. In meiner kindlichen Naivität nahm ich an, dass alle Menschen eine solche spiralförmige Zahlenabbildung vor ihrem inneren Auge sehen könnten. Später sollte ich, als ich die Existenz der negativen Zahlen entdeckte, feststellen, dass sich die Spirale auf wundersame Weise nach unten erweitert hatte. Ähnliches geschah, als ich mit den Brüchen und den irrationalen Zahlen vertraut wurde.
Mit meinen Eltern sprach ich Deutsch, aber ich sprach häufig Englisch mit meinen Geschwistern, die Englisch in der Schule gelernt hatten. So wuchs ich zweisprachig auf. Deutsch lesen und schreiben lernte ich von meiner Tante, der älteren Schwester meines Vaters, sowie von meiner eigenen Schwester. Der Ehemann meiner Tante war einige Jahre zuvor verstorben und sie bewohnte eine Art Kate auf dem Hof meiner Eltern. Sie war recht belesen und hatte viel Zeit, sich um mich zu kümmern. Sie war sehr daran interessiert, dass in der Familie weiterhin Deutsch gesprochen wurde.
Englisch lesen konnte ich allerdings nicht, als ich mit der Schule begann. Das lernte ich jedoch in einigen Wochen mit wenig Mühe. Dennoch hatte ich beim Lesen ein Problem: Die Vokabeln sah ich ohne Textvorlage im Gegensatz zu den Zahlen nicht vor meinem inneren Auge. Deshalb hatte ich einige Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung im Englischen. Diese Tatsache verewigte meine damalige Lehrerin mit einer Eintragung in meinem „Report Card“. Dies stellte ich fest, als ich eines der Report Cards durchlas, das ich Jahre später bei meinen Eltern in einem Schuhkarton aufstöberte: „Richard don’t spell so good.“ Die Worte der jungen Lehrerin lassen ihr unglaublich niedriges Bildungsniveau, das für Landschullehrerinnen typisch war, deutlich erkennen. Die meisten von ihnen hatten nach dem High-School-Abschluss nur eine dreimonatige Fortbildung absolviert, bevor sie auf die Landjugend losgelassen wurden.
Die meisten Landschullehrkräfte bangten in der Schulzeit um ihre körperliche Unversehrtheit. Meine Geschwister erlebten einen besonders krassen Fall: An ihrer Schule, District 76, die sie besuchten hatten, bevor die Familie zu dem neuen Bauernhof zog, unterrichtete ein junger Mann, der jeden Tag, mit seiner Schrotflinte bewaffnet, den Schultag zu überstehen trachtete. Viele der Bauernjungen hatten überhaupt kein Interesse an Schulbildung und saßen ihre Schulzeit bis zum Ende ihrer Schulpflicht ab, um dann endlich sich ganz der Farmarbeit widmen zu können. Die sie anödende Zeit in der Schule vertrieben sie mit allerlei Unfug.
An meiner Schule ging es nicht anders zu. Im Unterricht flogen Steine, Baseballbälle und sogar angespitzte Schraubenzieher durch die Lüfte. Eines Tages stand eine junge Lehrerin an der Tafel und schrieb, wahrscheinlich mit allerlei orthographischen und grammatikalischen Fehlern gespickt, eine Erklärung an die Tafel, als plötzlich direkt neben ihrem recht umfangreichen Bauch ein angespitzter Schraubenzieher in das lackierte Holzbrett zwischen der Tafel und dem Putz einschlug, wo er, eine kurze Zeit vibrierend, stecken blieb. Die junge Lehrerin blickte auf die Mordswaffe hinunter, erbleichte und rannte zur Tür hinaus. Ob sie sich vor Angst und Schrecken übergeben oder ihren Darm entleeren musste, ist nicht überliefert.
Als sie verschwunden war, begann das große Tohuwabohu: Johnny Holden, ein Halbblutindianer, ergriff ein Heft, rollte es zusammen, schob es von innen durch seinen Hosenschlitz und sprang, höhnische Grimassen ziehend, herum, vor den verängstigten Mädchen seinen Riesenheftrollenphallus schwenkend. Die Großen quälten die Kleinen, die schreiend und kreischend umherliefen oder sich unter Tischen verkrochen. Nach einer mir entsetzlich lang erscheinenden Zeit trat die junge Lehrerin zögerlichen Schrittes ein und stellte, bleichen und zuckenden Gesichts, die Ordnung mühsam wieder her.
Um zur Schule zu gelangen, lief ich zwei Meilen: eine halbe Meile durch das Plumcreek-Tal und anderthalb Meilen durch eine hügelige Prärielandschaft. An meinem allerersten Schultag fuhr meine Mutter mich zur Schule und schärfte mir, dort angekommen, ein, ich solle mich um 16 Uhr, wenn die Schule aus sei, zu Fuß auf den Weg machen. Das tat ich auch. Ich war jedoch nicht weit gekommen, als ich oben auf dem ersten Hügel auf meinem Weg das Auto meiner Eltern erblickte. Da ich weiterlaufen wollte, versteckte ich mich im Straßengraben und meine Mutter fuhr ahnungslos an mir vorbei. Ich blickte zurück und sah, wie das Auto auf dem Schulhof hielt. Dann lief ich, mich ständig umblickend, weiter. Bald sah ich das Auto meiner Eltern heranrasen und ich versteckte mich erneut im Straßengraben. Als meine Mutter an meinem Versteck vorbeifuhr, sah ich einen panischen Ausdruck in ihrem Gesicht. So sprang ich aus dem Graben und schrie dem Auto hinterher. Sie hielt an. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr, denn an der Stelle setzt meine Erinnerung aus.
Lonnie Blunk war ein entsetzlich dummes Kind, das an der Schule dahindämmerte. Eines Tages forderte die Lehrerin Lonnie auf, doch endlich seinen Namen oben auf seine Arbeitsblätter zu schreiben: „ Write your name on your test when you are finished !“ Nun, Lonnie mag abscheulich dumm gewesen sein, aber er war folgsam. Als er an dem Tag sein Blatt strahlend abgab, prangten oben darauf die Worte: „ Your name .“
Die allermeisten Schülerinnen und Schüler, es waren in meinem ersten Jahr dort nur 10 Jungen und drei Mädchen, strotzten vor Unwissenheit und geistiger Trägheit. Schon in meinem ersten Jahr hörte ich aufmerksam zu, wenn die Lehrerin die Klassen, die sie nach vorn gerufen hatte, unterrichtete. Dort saß man im kleinen vertraulichen Kreis und führte ein Unterrichtsgespräch. Ich machte mich oft sehr unbeliebt, wenn ich mich vom Plenum aus meldete, wenn die Großen etwas nicht wussten. Als ich einmal in meinem ersten Jahr an der Schule die Achtklässler beobachtete, hörte ich, wie die Lehrerin Joe Hanker fragte, wer der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sei. Ich erkannte an Joes glasigem Blick, dass die Frage ihn völlig überfordert hatte. Er rieb sich am Kopf und stöhnte, aber er konnte mit der Frage nichts anfangen. Das war mir völlig unbegreiflich. Ich vermutete – offenkundig zu Unrecht – dass jeder wisse, dass Harry S. Truman der Präsident sei. So meldete ich mich, was dann erlaubt war, wenn niemand in dem erlauchten Kreis da vorn eine Frage beantworten konnte, und verkündete das Offensichtliche. Meine Frechheit bescherte mir Prügel in der nächsten Pause.
Ein Ereignis auf District 20 stellte für mich eine vernichtende, beschämende Niederlage dar: In einem Jahr musste für einige Tage meine geliebte Lehrerin Isabelle Schmidt, die den Schulbetrieb bestens im Griff hatte und die wirklich fundiertes Wissen vermitteln konnte, vertreten werden. Warum sie vertreten werden musste, weiß ich bis heute nicht. Die Vertretung hieß Frau Zatel, die in Plumcreek wohnte. Sie war völlig überfordert und es herrschte Chaos in der Schule. An einem Nachmittag war ich daran, einen Text vorzulesen, in dem das Wort „potato“ vorkam. Ich sprach das Wort absichtlich falsch aus und sagte nicht „potäto“, sondern „potato“ und fand das ungeheuer komisch. Sie verbot mir nachdrücklich das Wort wieder falsch auszusprechen. Darauf schrie ich unter hysterischem Gelächter „potato, potato, potato“. Die Frau war offenkundig mit ihren Nerven am Ende. Sie ergriff mich, zerrte mich in den „Cloakroom“, in den Raum, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Mäntel hinhängten und ihre „Lunchbuckets“, ihre großen Mittagessensbehälter, aufbewahrten, und dort fing sie an, mir auf den Po zu dreschen, und setzte ihre Tätigkeit eine ganze Weile fort, bis sie ihre aufgestaute Frustration zumindest zum Teil abgelassen hatte. Leider hatte ich, als ihre Strafaktion begann, eine volle Blase, und während sie auf mich eindrosch, entleerte ich dieselbe, was für mich unendlich beschämend war. Als sie mich schließlich losließ, rannte ich aus dem Raum und aus der Schule zu dem Jungenplumpsklo auf dem Schulgelände und begutachtete auf meiner Hose die nassen, dunklen Spuren meiner Schmach.
Da die Unterrichtszeit noch nicht zu Ende war, musste ich zurück in den großen Schulraum. Ich eilte zu meinem Platz und schlug die Augen nieder, wohl wissend, dass alle auf mich blickten, tuschelten und hämisch grinsten
Als die Unterrichtszeit vorbei war, verließ ich die Schule ohne die anderen anzuschauen und lief zu der Straße, die durch die Hügellandschaft nach Hause führte. Allerdings kam ich nicht weit, denn mein Vater und Grandpa, der Vater meiner Mutter, kamen in dem Pickup herangefahren um mich abzuholen. Ich rief ihnen zu, ich wolle hinten auf der Ladefläche fahren, was ich öfter zu tun pflegte. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie den dunklen Fleck auf meiner Hose sehen sollten.
Zu Hause angekommen, lief ich sofort ins Haus, damit die beiden mich nicht genau in Augenschein nehmen konnten, und stolperte, als ich die Haustür aufriss, meiner Mutter in die Arme. Da brach es aus mir heraus und ich erzählte ihr unter Tränen, was mir am Nachmittag in der Schule widerfahren sei. Sie rief meinen Vater herbei, der Vorsitzender des Schulelternrats war, und er ging schnurstracks zum Telefon und rief Isabelle Schmidt an und machte ihr klar, dass die Vertretungszeit vorbei sei. Dann stiegen er, meine Mutter und ich ins Auto und wir fuhren zurück zur Schule.
Während der heftigen Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und der Vertretungslehrerin stand ich am Fuß der Treppe, die in die Hauptetage hinaufführte. Meine Eltern und die Lehrerin standen vor der Tür zu dem einzigen Klassenzimmer der Schule. Ich bekam wenig von dem Gespräch mit. Mein Vater muss der Lehrerin schonungslos mitgeteilt haben, dass sie fristlos entlassen sei.
Ein Ereignis, das jedes Jahr im Spätfrühling wiederkehrte, war Rural Field Day. An diesem Tag versammelten sich alle Schülerinnen und Schüler der kleinen Landschulen auf dem Gelände der Schule in Plumcreek. Da veranstaltete man Sportwettbewerbe, wie zum Beispiel Weitsprung, Laufen und Ballweitwurf. War man nicht gerade bei einem Wettbewerb beschäftigt, prügelte man sich mit irgendeinem Schüler von einer Nachbarschule. Jedes Jahr gewann ich den Lauf- und den Weitsprungwettbewerb in meiner Altersgruppe.
Am Ende des Vormittags gab es ein Essen in der Turnhalle der Schule. Alle Schülerinnen und Schüler brachten Gerichte mit und diese wurden auf Tische gestellt. Alle hatten Pappteller und Plastikbesteck mit und nahmen sich etwas zu essen. Nach der Mahlzeit kehrte man zu der jeweiligen Landschule zurück. Meistens beförderte mein Vater in seinem Pickup einige Schüler und die jeweilige Lehrerin transportierte die restlichen in ihrem Auto.
Nach der belebenden Lektüre des Auszugs stand Richard vor der schwierigen Aufgabe, zu schildern, wie er seine erste Frau kennen gelernt hatte, wie ihre Ehe zustande kam und warum sie scheiterte. Wie konnte er die Begebenheiten einigermaßen aufrichtig darstellen, ohne seine Kinder zu schockieren? Immerhin wussten sie schon in groben Zügen von seinen Erlebnissen in der Universitätsstadt am Fuße der Rocky Mountains. Er musste nachdenken. Er musste die Ereignisse Revue passieren lassen.