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Kapitel 4: Liebesglück und Zweifel

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Marie und Rick genossen den schönen Sommer in Boulder und in dem Vorgebirge. Sie feierten ihre Liebe, indem sie auf Wanderungen gingen, bei denen Rick einen Picknickkorb schleppen musste. Sie fanden auf ihren Wanderungen Stellen, von denen aus die Aussicht auf die weite Ebene herrlich war. Dort lagerten sie und picknickten. Dabei aßen sie von Maries kostbaren Porzellantellern und tranken Granatapfelsaft aus ihren Kristallgläsern. An manchen Abenden gingen sie ins Freilichttheater oder besuchten Veranstaltungen der Musikfakultät, für die Rick eine starke Vorliebe hatte. Vor allem genoss er Arien. Gelegentlich sahen sie Jennifer in der Ferne und Rick empfand jedes Mal einen Stich ins Herz.

Als Rick eines Tages Jennifer auf dem Universitätsgelände begegnete, forderte sie ihn auf, vorbeizukommen und einige Bücher abzuholen, die er in ihrer Wohnung gelassen hatte. Als Rick am späten Nachmittag an Jennifers Tür anklopfte, zog sie die Tür auf und bat ihn herein. Ohne jegliche Begrüßung sagte sie: „Dir scheint der Widerspenstigen Zähmung schnell geglückt zu sein, mein lieber Rick.“ Darauf wusste Rick nichts zu erwidern. So stand er einfach vor Jennifer da und wartete. Sie trug wieder die kurze ausgebleichte Jeanshose und das enge rote T-Shirt und ihre Brüste zeichneten sich darunter deutlich ab. „Wollen wir Erinnerungszärtlichkeiten austauschen?“, fragte sie. Rick antwortete: „Meine liebe Jennifer, ich finde dich genauso attraktiv und verführerisch wie eh und je, aber ich schätze dich zu sehr, als dass ich hier auf die Schnelle Sex mit dir haben kann. Du hast mehr verdient und im Augenblick kann ich dir mehr nicht geben. Bleiben wir einfach gute Freunde.“ Dann küsste er sie auf die Stirn und ergriff den Karton, in dem sich seine Bücher befanden, und verließ die Wohnung.

In dem folgenden Semester dauerte das Glück von Marie und Rick an und Marie verlangte, dass sie heiraten sollten. Schließlich bat Rick um zwei Wochen Bedenkzeit und Marie flog in den Weihnachtsferien zu ihren Eltern nach Topeka, während Rick in seinem alten Käfer die lange Fahrt durch die schier endlose Ebene in das Plumcreektal antrat.

In seinem alten Zuhause erkannte Rick an manchem verstohlenen, verstörten Blick seiner Eltern, dass sie ihn für geistesabwesend und sein Verhalten für befremdend hielten. Einmal ging er auf Fasanenjagd um allein zu sein. Am späten Nachmittag setzte er sich auf einem Hügel ins hochgewachsene fahle Gras und schaute in das Tal hinunter. In dem Augenblick wusste er, dass er nie wieder auf die Jagd gehen würde. Die zauberhafte Wirkung der Spätnachmittagsstille zog ihn so sehr in ihren Bann, dass er spontan in seinem Kopf einen lyrischen Text formulierte, den er später niederschrieb. „Die purpurfarbene Abendstille ruht schwer auf dem dunklen Land. Aus einem schwarzen Dickicht ruft eine schüchterne Vogelstimme einmal.“

Zurückgekehrt nach Boulder rang Rick immer noch mit der Frage, ob er und Marie heiraten sollten. Einmal wandte er sich an Horst Steenken, einen deutschen Studenten, der ursprünglich aus Westberlin stammte.

„Weißt du, was, Horst?“, sagte Rick, „ich würde Marie liebend gern heiraten. Sie liegt mir seit Wochen in den Ohren damit, aber ich weiß nicht, wie ich mit der ständigen Angst, sie könnte mir untreu werden, fertig werden könnte. Du weißt ja, dass sie extrem promiskuitiv war, als ich sie kennen lernte. Ich könnte den Gedanken, dass sie auch mit anderen Männern verkehrte, kaum ertragen. Du bist seit drei Jahren mit Elinor verheiratet. Wie kommst du mit dem Zweifel an ihrer Treue klar?“

Als Rick Horst anblickte, sah er, wie dieser schmunzelte, Dann lachte Horst und fing zu erzählen an: „Ich habe wohl meinen eigenen Schutzmechanismus entwickelt. Schließlich habe ich mir gesagt, wenn Elinor mir untreu gewesen sein sollte, so hat sie mich zumindest bislang nicht verlassen um eine Beziehung zu einem anderen zu beginnen. Dann stellte ich mir die Frage, woran dies wohl liegen könnte. An meinem Pimmelchen liegt es mit Sicherheit nicht. Schon nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, teilte sie mir schonungslos mit, mein Glied sei ausreichend, aber mehr nicht. An meinem tollen Aussehen liegt es auch nicht. Es laufen viele Männer herum, die besser als ich aussehen. Könnte es vielleicht an meinem einnehmenden Charakter liegen? Wohl nicht. Elinor beklagt sich gelegentlich über meine wechselnden Launen und sie hat mir einige Male sogar vorgehalten, ich sei manisch-depressiv. Liegt es an sozialem Druck? Angesichts des Milieus, in dem wir hier in Boulder leben, ganz bestimmt nicht. Anscheinend muss ich den Umstand, dass sie bei mir bleibt, auf das Gesamtpaket zurückführen, das ich darstelle.“

„Was meinst du mit sozialem Druck?“, fragte Rick. „Na, wir leben hier in Boulder in einem außergewöhnlichen sozialen Umfeld“, antwortete Horst. „Hier herrscht so etwas wie grenzenlose Toleranz im Hinblick auf Partnerschaft und Sexualmoral. Wenn man hier seinem Partner untreu wird oder die Partnerschaft scheitern lässt, löst das kaum ein Schulterzucken aus. Zu anderen Zeiten war das völlig anders. Partner blieben zusammen, auch dann, wenn es im Gebälk gewaltig knirschte, weil das soziale Umfeld, die Verwandten und Nachbarn zum Beispiel, dies von einer guten Partnerschaft erwartete. Der Druck, den Schein eines harmonischen Zusammenlebens aufrechtzuerhalten, war stark. Dies ist heute noch in vielen Gegenden der Fall.“

„Du weißt also nicht, ob Elinor dir treu ist oder nicht?“, fragte Rick. „Die Frage ist irrelevant“, erwiderte Horst, „ausschlaggebend ist, dass sie aus welchen Gründen auch immer bei mir bleibt und wir miteinander gut auskommen. Ich habe es aufgegeben, die weibliche Sexualität verstehen zu wollen. Ich weiß nicht, ob man, was weibliche Sexualwünsche anbelangt, überhaupt verallgemeinern kann oder ob jede Frau ganz individuelle Bedürfnisse und Wünsche hat. Auf jeden Fall habe ich mich damit abgefunden, dass ich Elinors sexuelle Strebungen nicht werde ergründen können.“

„Für mich klingt das so, als hättest du resigniert“, stellte Rick fest, „würdest du es hinnehmen, wenn Elinor ganz offen eine Affäre mit einem anderen hätte und weiterhin bei dir bleiben wollte?“ „Weißt du, ich habe immer wieder festgestellt, dass du das ganze Leben im Voraus kontrollieren willst“, entgegnete Horst. „Ich habe eine andere Einstellung: Das Leben ist zu dynamisch, als dass man immer vorher wissen kann, wie man auf bestimmte Eventualitäten reagieren wird. Sollte Elinor irgendwann gleichzeitig mit mir und einem anderen Sex haben wollen, dann werde ich darüber nachdenken, was ich am besten tun sollte. Ich werde die Brücke überqueren, wenn ich davorstehe. Ich kann vorher nicht alle möglichen Aspekte einer solchen Situation vorhersagen.“ „Du könntest dir allerdings grundsätzlich vorstellen, eine solche Beziehung à trois hinzunehmen?“, fragte Rick. „Das überrascht mich, aber vielleicht bin ich ganz anders gestrickt als du.“

Nach einer kurzen Pause fuhr Rick fort: „Als ich Marie kennen lernte, unterhielt sie sexuelle Beziehungen zu mindestens zwei anderen Männern. Wenn ich sie später nahm, musste ich manchmal unweigerlich daran denken, wie sie sich den beiden anderen hingegeben hatte. Ich zog daraus einen bitter-süßen Schmerz, der meine Lust sogar steigerte. Das fand ich krankhaft. Ich betrachtete mein Empfinden als eine Art perverser Homoerotik. Das will ich nicht noch einmal erleben, aber das würde ich wieder empfinden, wenn ich wüsste, dass sie nicht nur mit mir Sex hätte, sondern auch mit anderen verkehrte.“

„Rick, du hast mir sehr viel über deine Kindheit und Jugend in dem Plumcreektal erzählt“, erwiderte Horst, „ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass deine Sozialisation Züge eines extremen calvinistischen Arbeitsethos, verbunden mit einer hyperkritischen Moral, aufweist, die Selbstkasteiung als edle und lustbetonte Beschäftigung einstuft. Wenn Marie eine solche sexuelle Beziehung zu dritt oder meinethalben zu viert beginnt, lass dich darauf ein, genieß den bitter-süßen Schmerz und schaue, was dabei herauskommt. Dann kannst du entscheiden, was zu tun ist.“ „Ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage wäre“, entgegnete Rick.

„Eins muss ich dich noch fragen“, sagte Horst. „Hast du je daran gedacht, dass dein Drang, alles zu kontrollieren und vor allem dich selbst, eine lebensfeindliche Strebung sein könnte? Dass du durch Kontrolle lebenswichtige Neigungen abtöten könntest?“

Einige Tage später beschlossen Marie und Rick Anfang April in den Osterferien zu heiraten. Marie kannte einen liberalen Pfarrer, der bereit war, eine Heiratszeremonie an einem Teich abzuhalten, dort, wo Marie und Rick häufig gelagert, gepicknickt und den Blick auf die majestätischen, in weiß gehüllten Berge der Hauptkette genossen hatten. Der Pfarrer war sogar damit einverstanden, dass sie die Zeremonie selbst gestalteten und die Texte verfassten, natürlich auf Englisch. Sie beschlossen, einander nicht ewige Treue, sondern schonungslose Aufrichtigkeit zu versprechen. Maries Mutter und Schwester wollten aus Topeka zu der Zeremonie anreisen. Ricks Eltern beabsichtigten ebenfalls zu erscheinen. Horst Steenken erklärte sich bereit, als Ricks Trauzeuge zu fungieren, und Maries Schwester übernahm die Rolle der Trauzeugin. Schlichte Goldringe wurden gekauft und Rick ließ die Gäste von einem Lieferservice bewirten und bestellte bei einem Bäcker eine Hochzeitstorte. Es war eine sehr bescheidene Hochzeit, aber Marie war sehr zufrieden und fand die Zeremonie im Freien beim besten Wetter einmalig schön.

Der reiche Vater der Braut war sehr enttäuscht. Er hatte ganz andere Pläne für seine Lieblingstochter vorgehabt und zu ihnen gehörte auf gar keinen Fall die Ehe mit einem mittellosen Studenten. Außerdem fand er die Hochzeitsgestaltung beschämend. Deswegen weigerte er sich daran teilzunehmen. Seine Haltung trübte die Stimmung herzlich wenig, wofür Rick sehr dankbar war.

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