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Kapitel 3: Marie Hartmann

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Am nächsten Tag war die Sitzung des Grass-Seminars gerade zu Ende gegangen, und als Rick aufstand und zur Tür laufen wollte, hielt Marie Hartmann ihn am Arm fest: „Langsam, hübsch langsam, hetz er nicht so, er macht mich ganz verrückt mit seinem Gehetze. Das ist bestimmt falsch zitiert, aber du erinnerst mich gelegentlich tatsächlich an Woyzeck. Wenn die Sitzungen vorbeisind, stürmst du davon, als ob der Leibhaftige hinter dir her wäre. Hast du immer so viel zu erledigen, dass du ständig in Eile bist?“ „Das ist wohl Gewohnheit, weißt du. Jahrelang musste ich neben dem Studium arbeiten um genug Geld zum Leben zu verdienen. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass mir jeden Monat Geld überwiesen wird, obwohl ich nicht arbeite.“

„Es ist höchste Zeit, dass wir das ändern. Willst du mitkommen? Ich lade dich zu einem Plausch ein. Ich kann dich mit Granatapfelsaft bewirten. Dass du Granatapfelsaft gern trinkst, hat sich herumgesprochen. Du giltst als komischer Kauz, weißt du? Dass du nichts Alkoholisches trinkst, finden einige sehr schräg. Und dein Sportfimmel kommt einigen urkomisch vor.“ „Na, damit werde ich mich wohl abfinden müssen. Das ist die geringste meiner Sorgen.“ „Und was ist? Kommst du mit mir auf einen Plausch mit? Ich würde dich gern näher kennen lernen und außerdem müssen wir unsere Zusammenarbeit planen.“

„Das wäre reizend, aber ich finde den Tambourmajor, mit dem du zusammenwohnst, ziemlich einschüchternd, um im Bild zu bleiben. Er ist imposant und geradezu furchteinflößend.“ „Ach, du meinst den Rechtsanwalt Lewis Mercer. Der Steueranwalt ist zurück in seine Wohnung nach Denver gezogen. Die meisten seiner Kunden hat er dort. Er hat bei mir nur ein kurzes Gastspiel gegeben. Es wurde ihm bei mir zu langweilig. Ich rede ungern die ganze Zeit über Abschreibungsmöglichkeiten. Kannst du dir das vorstellen? Es gibt Menschen, die sich brennend für Steuerschlupflöcher interessieren. Wie ich mich von seinem guten Aussehen blenden lassen konnte, ist mir schleierhaft. Die ganze Affäre ist mir peinlich.“

„Bist du jetzt auf der Suche nach neuer männlicher Unterhaltung?“ „Nun, hör mal. Nicht frech werden. Und wenn dem so wäre? Du willst Klartext reden? Dann legen wir los. Ja, ich finde dich interessant und attraktiv. Ich sage es gerade heraus. Wenn das für dich ein Problem ist, sag es gleich und ich werde dich in Ruhe lassen. Haben wir uns verstanden?“ Rick lachte laut los. „Du bist eine kleine Furie, was? Na, dann gehen wir schon und besaufen uns mit Granatapfelsaft.“ „Ich bin keine Kleine und feurig gefiele mir besser als Furie.“ „Wenn du feurig bist, so hoffe ich, dass ich mich nicht verbrennen werde.“ „Ich glaube, ich kann jeden möglichen Brand bei dir löschen.“

„Das Gespräch wird immer anzüglicher. Das Terrain wird mir immer schlüpfriger. Du musst wissen, dass du es im Grunde genommen mit einem unerfahrenen Unschuldslamm zu tun hast.“ „Vielleicht kann ich dir manches beibringen.“ „Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Davon bin ich überzeugt.“ „So, mein Unschuldslamm, wir sind bald beim Schlachthaus angekommen. Ich versuche den Vorgang so schmerzfrei durchzuziehen wie möglich.“ „Ach, du Feurige, können wir mit dem Flachsen aufhören. Erstens strengt es mich sehr an, schlagfertig zu sein. Und zweitens würde ich mich lieber ernsthaft mit dir unterhalten.“ „Einverstanden, mein Kauz.“

Inzwischen hatten die beiden Maries Wohnung betreten und befanden sich in Maries Wohnzimmer. Rick setzte sich auf das riesengroße Sofa, während Marie Gläser und einen Krug Granatapfelsaft aus der Küche holte. Sie stellte den Krug und die Gläser auf den Kaffeetisch, der vor dem Sofa stand, und setzte sich in den Sessel Rick gegenüber.

„So, du Feurige, du willst mich kennen lernen. Schieß los.“ „Vieles weiß ich schon. Ich habe mich erkundigt. Du bist in Nebraska auf einem Bauernhof aufgewachsen, und zwar in einem Tal, das lange Zeit als deutsches Siedlungsgebiet galt. Die meisten Leute dort sprachen bis 1917 Deutsch. Nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg verzichteten viele darauf, weiterhin in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen. Deine Onkel und Tanten jedoch nicht. Deine Eltern sprachen Englisch und Deutsch und du hast viel Zeit bei einer Tante verbracht, die ein kleines Haus auf dem Bauernhof deiner Eltern bewohnte.“ „Halt, halt!“, unterbrach Rick Marie, „woher weißt du das alles? Einige Einzelheiten sind vertraulich.“

„Du bist wirklich ein Unschuldslamm. Wenn man Beziehungen hat, kommt man an die Personalakten in Frau Kronowskis Büro. Sie ist manchmal etwas vergesslich und lässt Schränke unabgeschlossen, auch wenn sie im Zimmer der Fakultätsleiterin Anweisungen entgegennimmt. Jeder Student, der sich um eine Assistentenstelle oder ein Stipendium bewirbt, muss, wie du sicherlich weißt, einen ausführlichen, handgeschriebenen Lebenslauf einreichen. Deine Handschrift ist übrigens sehr gut leserlich, sehr sauber und ordentlich, wie du selbst.“

„Was hast du noch alles in Erfahrung gebracht?“ „Ich weiß, dass du zweimal in München studiert und beide Male nachts auf dem Flughafen in Riem gearbeitet und tagsüber die Uni besucht hast. Du hattest auf dem College drei Hauptfächer, Mathe, Physik und Deutsch. Du hast ein Stipendium von Harvard in Mathe abgelehnt um in Boulder dank eines NDEA-Stipendiums Germanistik zu studieren.“

„Da bin ich baff. Der gläserne Mensch. Du kennst in groben Zügen meine Lebensgeschichte. Was willst du noch wissen?“ „Das sind nur die nackten Fakten. Ich weiß noch nicht, wie ein Mensch wie du im Innersten tickt.“ „Da muss ich dich bitter enttäuschen. Hinter den Fakten steckt nichts Rätselhaftes. Ich bin ganz einfach gestrickt.“ „Das werden wir ja sehen. Ich glaube nicht, dass du ein einfaches Seelenleben hast. Du lebst zurzeit mit Jennifer Renken zusammen.“ „Ja, das ist richtig. Sie ist eine tolle Freundin, sehr einfühlsam und intelligent. Wir kommen bestens miteinander aus.“

„Bist du leidenschaftlich in sie verliebt?“ „Tu veux savoir si je suis éperdument amoureux d’elle ?, wie die Franzosen zu sagen pflegen. „Exactement!“ „Das weiß ich nicht. Ich bin zu unerfahren um das beurteilen zu können.“ „Wenn du leidenschaftlich verliebt wärest, würdest du es wissen, glaub mir.“ „Ich weiß nur, dass ich Jennifer unglaublich gernhabe und sie als Vertrauensperson brauche. Ich will auf gar keinen Fall, dass ihr wehgetan wird.“

Nach einer kurzen Pause fuhr Rick fort: „Vielleicht können wir jetzt zu unserer Aufgabe kommen.“ „Wird das Gespräch zu brenzlig für dich?“ „Vielleicht. Selbstanalyse ist wohl nicht mein Ding. Ich schlage vor, dass du dich mit Alfred Mazeraths Beziehung zu Oscars Mutter und zu Maria Truczinski befasst. Ich kann mich auf seine Rolle als Mitläufer im Dritten Reich konzentrieren. Bist du damit einverstanden?“ „Du gehst davon aus, dass ich die sexuellen Beziehungen besser analysieren kann als du.“ „Das mag wohl sein. Wie gesagt, ich bin nicht nur ein Kauz, sondern auch ein Unschuldslamm.“

„Weißt du was, Rick? Ich glaube, du hast es faustdick hinter den Ohren und du genießt es, mit deiner angeblichen Unerfahrenheit zu kokettieren und dabei andere hinters Licht zu führen.“ „Sei bitte nicht so misstrauisch. Versuchen wir es mit der von mir vorgeschlagenen Aufgabenteilung und dann sehen wir weiter.“

Marie und Rick standen auf, und als Rick sich zur Tür wandte, hielt ihn Marie am Arm zurück. „Eine Frage hätte ich noch: Du flichtst immer wieder französische Äußerungen in deine Konversationen ein, häufig recht willkürlich. Warum?“ „Das ist tatsächlich eine Marotte von mir. Französisch kann ich relativ gut lesen und schreiben, aber nicht fließend sprechen. Manchmal fallen mir französische Wendungen ein und ich plappere dann ein paar französische Worte.“ „Hängt das auch damit zusammen, dass du während deiner Münchener Aufenthalte zusammen mit einer dunkelhäutigen francophonen Afrikanerin aus dem Senegal zusammengewohnt hast?“ „Woher weißt du denn, dass ich mit Léa Mambaly zusammenwohnte?“ „Du kennst das Klatschmaul Sylvia Briggs. Sie stammt aus Nebraska und kennt einige Studenten von deinem alten College, die während einer Europareise dich im letzten Sommer in München besuchten. Sie erzählten Sylvia von der molligen Léa.“ „Ich würde Léa nicht als mollig bezeichnen. Sie hat jedoch in der Tat üppige Rundungen. Aber genug jetzt von meinem Leben. Du weißt schon viel zu viel darüber und ich weiß so gut wie nichts über deine Vergangenheit.“ Damit eilte Rick zur Wohnungstür und entkam mit einem knappen Tschüs.

Am späten Nachmittag hatte Rick einen Zucchiniauflauf mit Tomaten, Möhren und Schafskäse zubereitet und die Auflaufform rechtzeitig in den Ofen geschoben und danach einen grünen Salat sowie wieder ein Püree zubereitet, diesmal aus Äpfeln und Birnenstücken. Er wartete darauf, dass Jennifer das Bad verlassen und sich an den Tisch begeben würde. Als sie sich gesetzt hatte, holte Rick den Auflauf aus dem Ofen und stellte ihn auf zwei Untersetzer hin und platzierte die große Salatschüssel daneben. „Madame, je vous souhaite un bon appétit! Möge dir alles munden.“ „Rick, was du auf den Tisch zauberst, schmeckt immer vorzüglich. So, erzähl mal. Wie hast du dich aus der Affäre gezogen? Ist dir eine gute Ausrede eingefallen oder musstest du the predator vor den Kopf stoßen?“

Rick schaute gebannt auf seinen Teller, bevor er antwortete: „Nun ja, das war recht schwierig. Für mich kam eigentlich nur die eine Aufgabe in Frage. So flexibel wie du bin ich nicht. Deshalb musste ich in den sauren Apfel beißen und doch die Zusammenarbeit mit Marie Hartmann in Kauf nehmen.“ „Rick, ich sehe schon. Marie Hartmann hat dich schon umgarnt. Bald holt sie dich in ihr Bett.“ „Liebe Jennifer, was Betterlebnisse anbelangt, erfüllst du alle meine Sehnsüchte und Träume. Da bleibt kein Verlangen nach anderen Schlafzimmeraktivitäten übrig. Darf ich dir etwas Granatapfelsaft einschenken?“

„Ja, bitte. Das Zeug schmeckt mir immer bessert, und bevor ich dich kennen lernte, wusste ich gar nicht, dass es den Saft überhaupt gibt.“ „Na, siehst du. Ich habe dein Leben doch bereichert. Darf ich dir heute Abend wieder den Rücken massieren?“ „Rick, deine Fürsorglichkeit ist rührend. Hoffentlich empfindest du auch etwas leidenschaftliche Liebe für mich.“ „Wenn Tante Meni wieder ausgezogen ist, werde ich dir zeigen, was wahre Leidenschaft ist. Mien Deern, ik heff di bannig geern!“ „Rick, dein Platt klingt ganz niedlich, aber ganz überzeugt bin ich noch nicht.“

Nach dem Abendessen wusch Rick alles ab und dann ging er mit Jennifer ins Schlafzimmer und massierte ihr den unteren Rückenbereich, bis sie ihn bat aufzuhören. „Wenn du mir den Rücken weiter massierst, schlafe ich ein und das darf ich nicht. Ich habe noch zu viel Arbeit zu erledigen.“ So stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch, setzte sich hin und fing an zu lesen und sich Notizen zu machen. Rick setzte sich an den Küchentisch und las in Grass‘ Roman und notierte sich einige Gedanken zu Grass‘ Darstellung von Alfred Matzeraths Charakter.

Am nächsten Tag saß Rick erneut in Marie Hartmanns Wohnzimmer auf der großen Couch. Ihm gegenüber hatte Marie in ihrem großen Sessel Platz genommen. „Viel Zeit haben wir nicht mehr. In der übernächsten Sitzung müssen wir etwas Vernünftiges präsentieren“, stellte Rick fest. „Ganz der von seiner Gewissenhaftigkeit angetriebene Musterstudent. Ich dachte, wir könnten noch einmal ein wenig über dich plaudern.“ „Wie gesagt, über meine Persönlichkeit zu plaudern, das lohnt sich wirklich nicht. Enigmatisches ist dort nicht aufzudecken.“ „Ich würde mir lieber selbst ein Bild von deiner Persönlichkeit bilden, als das, was du mir sagst, für bare Münze zu nehmen.“

Rick sah Marie lange an und sagte dann: „Gut. Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum. Ich finde dich äußerst attraktiv und faszinierend. Vor allem deine dreiste Art erregt mich. Dein Gesicht ist wunderschön und, mit Verlaub, ich finde deinen Körper sehr knackig. Entschuldige bitte die derbe Ausdrucksweise. Die Begegnung mit dir stellt mich vor ein Dilemma: Ich weiß, dass du Männer gern ausprobierst und sie dann, wenn deine Neugierde gestillt oder der erste erotische Reiz verflogen ist, entsorgst. Für eine solche Beziehung möchte ich mich nicht hergeben. Darüber hinaus will ich Jennifers Vertrauen in mich nicht verraten. Ich will ihr nicht wehtun. Das ist der Stand der Dinge.“

Marie schaute Rick lange an, bis sie sich schließlich äußerte: „Ich danke dir für deine freimütige Erklärung. Ich glaube an deiner Mimik erkennen zu können, dass du ganz aufrichtig bist. Jetzt bin ich an der Reihe. Ja, ich bin äußerst promiskuitiv und viele halten mich deshalb wohl für eine schamlose, zügellose Schlampe. Das ist das Los von Frauen, die für sich das Recht beanspruchen, das zu tun, was man seit Generationen Männern zubilligt. Vermutlich hängt meine Promiskuität jedoch auch damit zusammen, dass ich bis jetzt keinen Mann gefunden habe, den ich leidenschaftlich und innig liebte. Was ich jetzt sage, klingt schmalzig und wie aus einem Trivialroman, aber es stimmt. Ich beobachte dich seit Wochen heimlich, und ich wusste dabei, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von meiner Existenz ahntest. Liefen wir aneinander vorbei, schienst du mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Und dabei wollte ich sehr von dir beachtet werden. Zum Teil deshalb belegte ich Plusters Grass-Seminar, nachdem ich herausgefunden hatte, du hattest vor, daran teilzunehmen. Kurzum, ich habe das völlig irrationale Gefühl, dass du der bist, den ich seit langem suche. Klingt das nicht unausgegoren?“

„Wenn es ehrlich gemeint ist, ganz und gar nicht. Manche Menschen haben ein sehr kompliziertes Gefühlsleben. Ich muss eingestehen, dass deine faszinierende Wirkung auf mich bei mir ähnliche Regungen hervorruft. Wat nu?“

Marie schwieg einige Sekunden lang. Dann fragte sie: „Rick, würdest du einmal mit mir ins Bett gehen, ganz unverbindlich? Und dann sehen wir weiter. Wenn wir danach meinen, alles war ein Missverständnis, können wir gute Freunde bleiben. Einverstanden?“ „Dann muss ich Jennifer heute Abend belügen oder zumindest den Beischlaf verschweigen.“ „Beischlaf, wie wissenschaftlich und kalt das klingt. Können wir nicht zumindest von einem Liebesakt sprechen, auch wenn wir keineswegs sicher sind, dass Liebe daraus entstehen wird? Pass mal auf. Jennifer ist kein kleines schutzbedürftiges Kind, sondern eine erwachsene Frau. Sie wird wohl wissen, wie man mit den Unbilden des Lebens fertigwird.“

Rick saß lange da und schaute Marie unverwandt an ohne ein Wort zu sagen. Dann sagte er: „Neben dem Sportfimmel habe ich eine Reinlichkeitsmacke. Könnte ich mich vorher frisch machen?“ „Natürlich. Ich schlag vor, dass wir zusammen duschen. Dann sind wir beide frisch.“

So stand Marie auf, ging um den Kaffeetisch, ergriff Ricks linke Hand und führte ihn zu ihrem Badezimmer. Dort zog sie ihn aus. Danach zog er sie aus. Und beide schwiegen. Danach führte Marie Rick unter die Dusche, drehte das Wasser auf und wusch ihn. Danach wusch er sie. Und beiden schwiegen. Dann trocknete sie ihn ab und dann trocknete er sie ab. Und beide schwiegen. Danach nahm sie ihn an die Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer. Und beide schwiegen. Als sie sich liebten, schwiegen sie. Wenn es ging, schauten sie sich in die Augen. Und sie schwiegen, bis Marie lange schrie und Rick brüllte.

Danach lag sie mit ihrem Kopf auf Ricks Bauch und er fühlte, wie etwas Nasses auf seine Haut floss. Als er hinunterblickte, sah er, dass Marie leise weinte. Er unterbrach die Stille: „Warum weinst du?“ „Ich wusste nicht, dass ich so viel dabei empfinden könnte. Es war so unglaublich schön, dass ich weinen muss.“ „Una furtiva lacrima?“ „Rick, mach dich bitte nicht über mich lustig.“ „Das tue ich keineswegs. Es geht mir ähnlich. Ich glaubte immer, dass Geschichten von Tristan und Isolde und Romeo und Julia Hirngespinste alternder Dichter seien, die versuchten, Liebeserlebnisse der Jugend zu verherrlichen. Und nun befürchte ich den Liebesschock meines Lebens erlitten zu haben. Marie, ich bin verloren.“ „Warum verloren, mein Rick?“ „Ich wollte nie von einer Frau emotional völlig abhängig werden, denn ich wusste, wie verletzlich ich bei meiner Seelenkonstitution werden könnte, sollte ich mit völliger Hingabe eine Frau lieben. Jetzt ist es geschehen und es ist um mich geschehen.“ „Und wenn wir beide einander mit gleicher Hingabe lieben?“ „Ich glaubte nie, dass so etwas möglich wäre.“ „Probieren wir es aus. Mehr als umbringen kann die Liebe voller Hingabe uns nicht.“

„So soll es sein, aber ich kann nicht länger mit Jennifer zusammenwohnen. Ich muss ihr heute Abend reinen Wein einschenken und wieder in meine Eiskrembude einziehen, so schmerzhaft die Trennung werden mag. Bei meiner jetzigen Gefühlslage kann ich ihr nichts vorspielen. Das hat sie nicht verdient und meine Liebe zu dir lodert zu stark in meiner Seele, als dass ich mit einer anderen Frau zusammenleben könnte, auch wenn ich Jennifer sehr schätze und mag.“ „Rick, ich habe mir einmal heimlich deine Bude angeschaut. Die ist entsetzlich. Dorthin ziehst du auf gar keinen Fall zurück. Du ziehst zu mir. Ich will, dass alle Welt weiß, dass wir ein Paar sind und dass ich mit meinem ganzen Wesen dir gehöre.“

„Marie, weißt du, was du da sagst? Das passt gar nicht zu der Marie, die du bisher gewesen bist.“ „Das ist mir egal. Wenn das herrliche Gefühl nicht andauert, dann trennen wir uns und wir sind um eine erschütternde Erfahrung reicher.“

„Jetzt muss ich los. Ich lade die meisten meiner Habseligkeiten in meinen Käfer und fahre sie her. Dann kehre ich zurück zu Jennifers Wohnung und lade den Rest ein. Danach warte ich auf sie und erkläre ihr, was mir widerfahren ist.“ „Was uns widerfahren ist, Rick.“

Rick hatte schon eine Ladung Bücher, Klamotten und Ordner zu Maries Wohnung transportiert, sie hineingebracht und in ein Gästezimmer gestellt. Er war zurück zu Jennifers Wohnung gefahren, hatte seine restlichen Habseligkeiten in seinen Käfer gepackt und wartete nun auf Jennifer. Als sie die Wohnung betrat, sah sie sich um und zu Rick, der neben dem Küchentisch stand. Dann sagte sie: „Es ist schon heute so weit, Rick?“ Sie schwieg einen Augenblick und fuhr fort: „Ich habe es kommen sehen und will dir den Abschied so leicht wie möglich machen, denn du warst immer sehr lieb und rücksichtsvoll zu mir. Mach dir keine Gedanken über die Trauer, die ich natürlich empfinden werde. Ich liebe dich so sehr, dass das Ende mir unsäglich wehtut. But you know, whoever is not resilient will perish. Ich werde aber nicht zugrunde gehen, Rick. Ich beklage mich nicht. Ich habe sehr von meiner Liebe zu dir und von der Zeit mit dir zusammen profitiert. Profitiert, ein scheußliches Wort in diesem Zusammenhang. Gehen wir einander ab jetzt bitte nicht aus dem Weg. Wir können weiterhin füreinander da sein. Geh jetzt und grüße Marie von mir.“ Rick fühlte die Tränen, die über seine Wangen liefen. Er ging auf Jennifer zu, küsste sie auf die Stirn, drehte sich um und verließ ihre Wohnung.

In der Ferne weiße Berge

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