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Kapitel 2: Jennifer – Boulder im Juni 1967

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Richard betrat die Wohnung seiner Freundin. Schon zwei Monate zuvor hatte sie ihm einen Schlüssel zu ihrer kleinen Wohnung regelrecht aufgedrängt. Die Wohnung befand sich im Keller eines großen Hauses, das in viele Wohnungen aufgeteilt und nun von Studenten bewohnt war. Das Haus stand an einer stark befahrenen Straße in der Nähe des Universitätsgeländes in der rasant wachsenden Stadt am Fuße der Rocky Mountains. Richards eigene Wohnung war ein baufälliger ehemaliger Eiscremeverkaufsstand, der Jahre zuvor zu einer winzigen Studentenwohnung umgebaut worden war. Die Bude sollte der Bauwut, die das sehr schnell wachsende Städtchen ergriffen hatte, bald zum Opfer fallen, denn sie stand auf einem Gelände, auf dem der Bau eines neuen Einkaufszentrums geplant war. Richard verbrachte kaum noch Zeit in der Bude, denn die Wohnung seiner Freundin Jennifer lag ganz in der Nähe der Universität auf dem sogenannten Hügel.

Außerdem konnte er von Jennifers Wohnung aus mit seinem Rennrad schnell einen Sportplatz mit einer Laufbahn erreichen, auf der er seine Runden drehen konnte. Oder er konnte bei schlechter Witterung die kurze Laufbahn in dem „Field House“ benutzen. Darüber hinaus konnte er meistens in der Nähe der Wohnung einen Parkplatz für seinen alten VW-Käfer finden. Aber er fuhr nur sehr selten Auto. Er lief meistens zu Fuß oder war mit dem Fahrrad unterwegs.

Das kurze Sommersemester hatte gerade angefangen. An diesem späten Nachmittag wollte Rick, wie üblich, Jennifer ein schönes Abendessen zubereiten. Er hatte eine Art Parmesana geplant, selbstverständlich fleischlos, denn Jennifer war rabiate Vegetarierin. Jennifer stammte aus Hannover. Ihre Mutter, eine Amerikanerin, hatte vor Jahren einen deutschen Geschäftsmann geheiratet und war mit ihm nach Hannover gezogen. Sie hatte ihre kleine Tochter Jennifer aus erster Ehe selbstverständlich mitgenommen und die Tochter war in Hannover zweisprachig aufgewachsen. Nach dem Abitur war Jennifer nach Boulder gezogen um dort zu studieren. Nach ihrem BA-Grad studierte sie als Graduate-Studentin Komparatistik.

Als Rick die Auflaufform in den Ofen geschoben hatte, hörte er Jennifer die Kellertreppe herunterkommen. Bald stieß sie die Wohnungstür nach innen auf und trat, mit einem Rucksack und einer Tragetasche schwer bepackt, in die Wohnung ein. Sie schleppte immer viele Bücher und Hefte mit sich herum, damit sie zwischen ihren Veranstaltungen nicht nach Hause zu kommen brauchte. Sie stellte die Tasche auf ihren kleinen Schreibtisch und den Rucksack daneben. Dann eilte sie auf Rick zu, umarmte ihn und küsste ihn auf die Lippen.

Der Kuss dauerte länger und Jennifer fragte: „Wie lange müssen wir warten, bis das Essen im Offen fertig geworden ist? Hätten wir Zeit für erotische Spielchen?“ „Das wäre eine reizvolle, aber gefährliche Idee. So wie ich mich kenne, würden die Spielchen so lange dauern, bis das Essen völlig verkohlt wäre. Vielleicht können wir die Spielchen als lustvolle Nachspeise betrachten. Dann werden wir nicht unter Termindruck stehen.“ „Einverstanden!“, trillerte Jennifer, „obwohl es mir schwerfällt, die Hände von dir zu lassen.“ „Greif nur zu, solange es dir nicht peinlich ist, dass ich mit einer steinharten Erektion in der Hose herumlaufe.“ „Das werde ich wohl lieber lassen. Du brauchst etwas Blut im Kopf, damit du das Abendessen richtig hinbekommst.“

Danach ging Jennifer ins Bad, Während Rick den Avokadosalat zubereitete, hörte er sie duschen. Sie machte sich für die erotische Nachspeise frisch. Als der Salat fertig war, schnitt er ein Roggenbaguette entzwei und bestrich beide Hälften mit Kräuterbutter und streute etwas Knoblauchsalz darauf. Später wollte er die Baguettehälften in den Offen schieben. Dann bereitete er die Salatsoße nach seinem Geheimrezept zu. Er deckte den Tisch und schenkte Granatapfelsaft in zwei Gläser ein.

Inzwischen hatte sich Jennifer geduscht und umgezogen. Sie trug eine kurze ausgebleichte Jeanshose und ein knappes rotes T-Shirt. Da sie keinen BH trug, sie trug so gut wie nie einen, zeichneten sich ihre festen Brüste deutlich ab. Rick empfand ein Ziehen in den Lenden und fragte sich, ob er vielleicht die lustvolle Nachspeise notgedrungen als Vorspeise würde verzehren müssen. Jennifer fragte: „Ist das Essen fertig? Ich habe Hunger auf das Essen und auf dich.“ „Nur etwas Geduld. Ich schiebe das Baguette in den Ofen und es dauert nur noch einige Minuten. Inzwischen können wir uns etwas unterhalten. Deinem roten T-Shirt zum Trotz habe ich noch ein paar Tropfen Blut im Gehirn und müsste einen halbwegs brauchbaren Gesprächspartner abgeben können. Wie verlief die Seminarsitzung über Virginia Woolf? Ist jemand von Angst gepackt worden?“

„Rick, Witze sind wirklich nicht deine Stärke. Die Sitzungen sind immer sehr interessant. Der Assistenzprofessor Burke versteht wirklich etwas von seinem Fach. Er bietet uns fesselnde Deutungsansätze an und lässt uns den nötigen Freiraum, zu eigenen Ergebnissen zu kommen. Und was hast du in der ersten Sitzung des Grass-Seminars erlebt?“ „Vorweg eine Frage: Kennst du Marie Hartmann?“ „Wer kennt sie nicht? Sie ist in Boulder berühmt-berüchtigt.“ „Na, ich kannte sie zum Beispiel bis heute nicht. Warum berühmt-berüchtigt?“ „Sie ist als eine Art femme fatale verschrien, die immer schick und modisch gekleidet ist und deren Männerkonsum legendär ist. Dass du bisher nichts von ihrer Existenz wusstest, ist ganz typisch für deine Haltung. Du bist auf deine Weise unheimlich egozentrisch und das meine ich nicht unbedingt in einem negativen Sinn. Du bist derart auf deine Zielsetzungen fixiert, dass du vieles gar nicht mitbekommst.“

„Das mag sein“, sagte Rick nachdenklich. „Du weißt ja, dass ich viel nebenbei arbeiten musste um in den ersten Jahren meines Studiums durchzukommen, auch während meiner Aufenthalte in München.“ „Das war kein Vorwurf, sondern eher ein Ausdruck meiner Bewunderung für deine Leistungen. Die wenigsten hätten deine Zähigkeit, Gewissenhaftigkeit und dein Durchhaltevermögen gehabt. Aber, sag mal: Ist Marie Hartmann in deinem Grass-Seminar?“ „Ja, das erzähle ich gleich, aber jetzt muss ich das Essen aus dem Ofen holen.“

Rick stellte den Auflauf auf den Tisch und legte die Baguettehälften auf eine Platte. „So, Madame T-Shirt, je vous prie de vous asseoir.“ „Du willst also jetzt den cuisinier français geben?“ „Oh nein, Madame, ich bin nur ein Bauerntölpel aus Nebraska, der den Germanistikstudenten gibt und ständig damit rechnet, entlarvt zu werden.“ „Nicht kokettieren! Jemand, der ein NDEA-Fellowship bekommen hat, kann kein Tölpel sein.“ „Auf jeden Fall, guten Appetit!“

„Danke! Und jetzt zu meiner Frage: Ist Marie Hartmann in deinem Seminar?“ „Ja, das ist sie. Ich war wie immer bei den Anfangssitzungen besonders früh erschienen, um meinen Lieblingsplatz links-vorn zu ergattern, und las, nichts ahnend, in meiner Ausgabe von ‚Katz und Maus‘, als ein Schatten auf mein Buch fiel. Ich schaute auf und erblickte eine recht attraktive und sehr schick angezogene junge Frau vor mir. Sie fragte, ob der Platz neben mir frei sei. Ohne eine Antwort abzuwarten setzte sie sich hin.“ „Oh, oh, hat sie dich als ihr nächstes Opfer auserkoren? Ich glaube, ich muss mir ernsthafte Sorgen um deine Keuschheit machen. Wahrscheinlich hat sie vor, dich mit Haut und Haar zu verschlingen. Übrigens, das Gericht schmeckt köstlich!“ „Vielen Dank. Wenn meine Gerichte dir gefallen, steigt mein Selbstwertgefühl um mindestens zehn Meter. Und ich gelobe die winzigen Reste Keuschheit, die du mir womöglich gelassen haben könntest, tapfer zu verteidigen.“

„Und wie ging es weiter mit the predator?“ „Oh ho, wenn du Englisch sprichst, wird’s ernst. Sie sagte kein Wort, bis die Aufgaben für die Gruppenarbeit verteilt wurden. Ich meldete mich für die Aufgabe, die Charakterisierung von Mahlke zu untersuchen, und sie schloss sich mir gleich an.“ „Nun bin ich vollends in Panik. Vielleicht hat sie Mahlke wegen seines Riesenglieds gewählt. Du siehst, ich kenne die Novelle. Sie hat eine Vorliebe für solche physischen Attribute. Allerdings befürchte ich, dass sie es auf dich abgesehen hat.“ „Ich kann dich beruhigen. Sie verhielt sich sehr zurückhaltend. Außerdem glaube ich nicht, dass eine so adrett gekleidete Frau, die, wie du sagst, viel Wert auf schicke Sachen legt, ein Auge auf einen so schäbig gekleideten Mann wie mich werfen könnte.“

„Ach, Rick. Was Frauenempfinden anbetrifft, bist du wirklich ein Tölpel. Du weißt gar nicht, wie du auf Frauen wirkst. Viele halten deinen Kleidungsstil, wenn man überhaupt von Stil sprechen kann, für eine raffinierte Masche. Du trägst nur T-Shirts und Jeanshosen. In den T-Shirts kommen deine muskulösen Arme, Schultern und dein breites Kreuz ausnehmend gut zur Geltung und in den Hosen ist dein Knackarsch deutlich zu bewundern. Im Winter wird zwar alles durch deinen Armeeparka aus dem Gebrauchtwarenladen bedeckt, aber den ziehst du ja in den Seminaren und in der Mensa aus.“ „Aber es ist eine Frage des Geldes. Mit meinem Stipendium kann ich mir keine großen Sprünge leisten.“

„Ja, Rick, ich weiß, ich weiß, aber zurück zum eigentlichen Thema, Fräulein Raubtier.“ „Eine Frage hätte ich noch: Wie kommst du darauf, dass sie auf große Glieder fixiert ist?“ „Ach, das ist ein Witz, der die Runden macht. Kannst du dich an den Kälteeinbruch im letzten Frühling erinnern? Wir hatten zwei kalte Tage, als die Bäume in voller Blüte standen. An dem ersten Abend des Kälteeinbruchs feierte der Assistenzprofessor Kister eine Party, zu der auch Marie Hartmann eingeladen war. In Kisters Garten stehen fünf herrliche Apfelbäume. Jemand wies darauf hin, dass im kommerziellen Obstgartenbau man bei Kälteeinbrüchen versucht, die Blüten zu retten, indem man sie mit Wasser bespritzt. Jemand schlug vor, Kisters Bäume zu wässern.“

Nach einem Schluck Granatapfelsaft setzte Jennifer ihre Erzählung fort: „Unter lautem Lachen und Gejohle rannten, so erzählte mir Harlan Bench die Geschichte, alle in den Garten. Kister schloss zwei Gartenschläuche an und Bench holte eine Riesenwasserpistole aus seinem Auto und die Wasserschlacht begann. Nach dem, was mir Bensch sagte, bekamen die Partygäste mehr Wasser ab als die Bäume.“ „Was hat die Geschichte mit Riesenpimmeln zu tun?“ „Unterbrich mich nicht, Rick, und höre zu. Das kommt gleich. Als alle wieder im Hause waren und vor Kälte schlotterten, schlug Kister vor, alle sollten sich ausziehen. Er wollte die Klamotten in seinem Trockenapparat trocknen. In der Zwischenzeit könnten sich alle heiß duschen, allein, zu zweit, dritt oder viert, ganz wie sie wollten. Er habe ja zwei riesig große Badezimmer. Als nun alle nackt dastanden, soll Marie Hartmann gesagt haben, es gebe nicht genug Frauen um die Nachfrage zu befriedigen. Dann soll sie sich zwei sehr gut bestückte Burschen geschnappt haben und alle drei verschwanden zusammen nach oben.“

Nachdem Jennifer etwas von der Parmesana in den Mund geschoben und eine Weile gekaut hatte, fuhr sie fort: „Nun du weißt vielleicht, dass Kisters Frau einmal ein paar Seiten von ‚Playboy‘ zierte und drei der männlichen Gäste nahmen sie mit in das Badezimmer im Erdgeschoss und sie ging sehr breitwillig mit. Als Kister das sah, ließ er sich auf einen Stuhl fallen und begann hemmungslos zu schluchzen. Vielleicht hatte er zu viel getrunken. Die anderen waren sehr peinlich berührt. So holten sie ihre noch feuchte Kleidung aus dem Trockenapparat und verließen die Ausschweifungsszene, so auch Harlan Bench. Deshalb konnte er mir nicht erzählen, wie Marie Hartmann mit den beiden Hengsten zurechtkam.“ „Ja, ich kenne Bench. Er übertreibt gern.“

Nach der langen Erzählung blickte Jennifer auf und sagte: „Rick, jetzt bist du mit dem Reden dran. Wie viele Leute sind in eurer Arbeitsgruppe?“ Rick blickte auf seinen Teller und schob etwas Parmesana hin und her, bevor er sagte: „Na, ja, wir sind nur zwei.“ Rick wusste, dass er rot geworden war. „Da hast du es, Rick. Und wo soll die Zusammenarbeit stattfinden?“ „Nun, ich schlug vor, dass wir uns in dem großen Deutschraum in der Bibliothek treffen sollten, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie betonte, dass es in ihrer Wohnung viel gemütlicher sei.“ „Mein Lieber, sie hat dich schon am Haken. Ich glaube, wir sollten heute Abend die erotische Nachspeise ausfallen lassen. Damit warten wir, bis wir wissen, ob sie dich schon bei der ersten Zusammenkunft vernascht hat.“

„Oh, meine Jennifer, du bestrafst mich für einen Verstoß, den ich nicht nur nicht begangen habe, sondern nicht im Entferntesten zu begehen beabsichtige, aber ich akzeptiere dein strenges Urteil. Morgen Nachmittag werde ich etwas mehr Zeit auf die Zubereitung unseres Abendmahls verwenden können, meine Liebste. Darf es Pizza geben? Ich werde Bericht erstatten und du wirst sehen, dass ich sowohl mit Haut und Haar als auch mit meinen unversehrten Keuschheitsresten vor dir stehen werde. Übrigens, ich denke du dämonisierst Marie Hartmann. Sie ist gewiss eine attraktive Frau, aber sie wirkt sehr zurückhaltend.“ Damit stand Rick auf und begann das Geschirr abzuräumen. „Pass auf, Rick, sie ist nicht dumm. Sie weiß, wie sie sich anstellen muss um bei dir zu punkten.“

Als am nächsten Abend Jennifer aus der Dusche kam, holte Rick seine Riesenpizza aus dem Ofen und schnitt sie in Kreissektoren. Dann schaufelte er jeweils zwei Stücke auf Jennifers und seinen eigenen Teller. Danach stellte er seinen grünen Salat auf den Tisch. „Es handelt sich um eine Thunfischpizza“, sagte er mit fragendem Blick. „Ich hoffe, dass du Thunfisch essen darfst.“ „Aber selbstverständlich, Rick. Das riecht herrlich!“ „Hoffen wir, dass die Pizza und der Salat so gut schmecken, wie sie riechen. Guten Appetit!“

„Und was gibt es als Nachspeise?“ „Honigmelone-Stücke und vielleicht etwas Erotisches, wenn ich dein Verhör bestehe. Ich glaube, ich habe sehr gute Chancen, als völlig unschuldig aus dem Verhör hervorzugehen.“ „Und was führt dich zu dieser Annahme?“ „Bei der Zusammenarbeit in ihrer Wohnung heute, wurde mir klar, dass Marie Hartmann erotisch bestens versorgt ist. Dazu braucht sie einen armen Wicht wie mich nicht.“ „Und woran hast du das erkannt?“ „Wir hatten gerade mit der Arbeit begonnen, als ein imposanter Herr im Anzug die Wohnung betrat, auf sie zukam, sie auf die Stirn küsste und ihr mitteilte, er müsse unerwartet zu einem Gespräch nach Denver fahren. Dann ging er in das Nebenzimmer, offensichtlich sein Arbeitszimmer, kam wieder mit einer Mappe in den Händen herein, steckte sie in seine Aktentasche und verließ die Wohnung mit der Mitteilung, er werde erst spät zurückkommen.“ „Ach, das wird der Rechtsanwalt sein, mit dem sie liiert ist. Ob er ahnt, dass sie es auch mit einem Assistenzprofessor in der Geschichtsfakultät treibt, weiß ich nicht. Vielleicht macht es allen drei nichts aus, dass sie mal mit dem einen, mal mit dem anderen Sex hat.“

„Auf jeden Fall hielt Marie es nicht für nötig, mich ihrem Liebhaber vorzustellen. Sag mal, weißt du, wo sie so viel Geld herhat, dass sie sich eine solch luxuriöse Wohnung leisten kann?“ „Ja, das weiß ich. Sie stammt ursprünglich aus Topeka Kansas. Ihr Vater besitzt dort eine sehr große Saatgutfirma. Er behandelt sie äußerst großzügig. Der reiche Herr finanzierte ihr zum Beispiel ein Studienjahr in Göttingen. Seitdem sie wieder in den USA weilt, stellt er ihr einen monatlichen Betrag zur Verfügung, mit dem du wohl ein ganzes Jahr auskommen könntest. Du, deine Pizza schmeckt wieder vorzüglich und der Salat ist köstlich. Ich nehme an, du weigerst dich immer noch mir das Rezept für die Soße zu verraten.“ „Ja, ich bedaure, es handelt sich um ein Betriebsgeheimnis.“ „Hast du den Sportwagen gesehen, den sie fährt?“ „Ja, das wird der rote Flitzer gewesen sein, der vor dem Haus stand, in dem sie ihre Luxuswohnung hat.“

Rick dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: „Aber sag mal. Woher weißt du all die Details über ihr Leben. Man könnte denken, du seiest eine Verwandte von ihr oder gar ihre Vertraute und das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Jennifer schnitt sich ein Stück Pizza ab und schob es sich in den Mund. Sie kaute langsam, bevor sie aufschaute und sagte: „Rick, jetzt muss ich dir etwas erzählen, was ich dir ersparen wollte: Bevor ich dich kennen lernte, war ich mit einem Jurastudenten liiert. Er heißt Marvin Harper und hat eine Wohnung in einem Haus an der Baseline. Ich wohnte dort ein halbes Jahr mit ihm zusammen. Schließlich entdeckte ich, dass er eine Fernbeziehung zu einer Frau unterhielt, die in Housten als Rechtsanwältin bei einer Ölfirma arbeitet. Er fuhr in den Semesterferien immer wieder dorthin und wohnte dann bei ihr, was ich seinerzeit nicht ahnte. Seine Beziehung verheimlichte er mir. Eines Tages erschien die Juristin vor seiner Wohnungstür um ihn zu besuchen. Sie hatte ihren Besuch nicht angekündigt und wollte ihn überraschen. Marvin war gerade nicht da, und als ich die Tür öffnete, standen wir einander gegenüber. Ich dachte zunächst, es handle sich vielleicht um eine Verwandte von ihm, und sie schien sehr überrascht, mit einer Frau konfrontiert zu werden. Ich bat sie herein und wir kamen ins Gespräch. Schnell wurde uns beiden klar, dass der liebe Marvin uns beiden übel mitgespielt hatte. Wir verstanden uns recht gut. Ich sagte ihr, dass ich sofort ausziehen wollte, und das tat ich auch. Ich lud meine wenigen Habseligkeiten in meinen VW-Käfer und fuhr zu Annabelle. Sie wohnt in einem kleinen Haus in der Nähe der Uni. Sie hat einen kleinen Anbau, wo ich so lange unterkam, bis ich diese Kellerwohnung fand. Dass ich Marvin verlassen musste, störte mich wenig. Er war gut im Bett, wie man so sagt, und lieb, aber das Zusammenleben mit ihm war sonst ziemlich öde und kochen konnte er auch nicht.“

„Dein vormaliges Liebesleben ist zwar recht ergreifend, aber was hat die Geschichte mit Marie Hartmann zu tun?“ „Nur etwas Geduld, mein lieber Rick, das kommt gleich. Etwa eine Woche, nachdem ich bei Marvin eingezogen war, eröffnete er mir, dass er einige Zeit zuvor eine Affäre mit Marie beendet hatte, dass sie ihn schnöde abserviert hatte. Er war ziemlich verbittert. Dass sie ihm den Laufpass gegeben hatte, schien sein Ego erschüttert zu haben. Auf jeden Fall hatte er ein großes Bedürfnis, sich über ihren fiesen Charakter, wie er sich ausdrückte, zu beklagen. Manche Wehklagen musste ich mir anhören und so erfuhr ich eine ganze Menge über Marie.“

„Sag mal, weißt du, warum sie perfekt Deutsch sprechen kann? Sie spricht wie eine geborene Deutsche. Ja, sie beherrscht die Sprache so gut wie du und ich.“ „Das ist kein Wunder. Wie wir ist sie mehr oder minder zweisprachig aufgewachsen. Der Opa Hartmann wanderte um die Jahrhundertwende in die USA ein und wurde in Kansas so wohlhabend, dass er eine Saatgutfirma gründen konnte. Obwohl nach dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg es eigentlich verpönt war, wurde zu Hause weiterhin Deutsch gesprochen. Maries Vater sowie die Onkel und Tanten sprachen alle Deutsch und Englisch als Muttersprache. Auch Maries Vater, der eine deutschstämmige Frau heiratete, achtete darauf, dass seine Kinder die Sprache der alten Heimat beherrschten.“ „Mir ist aufgefallen, dass sie mit einem norddeutschen Akzent spricht. Sie sagt zum Beispiel nicht „Hamburg“, sondern „Hamburch“. „Ja, die Familie stammt aus Norddeutschland, aber ich weiß nicht genau wo.“

„Ist ja nicht wichtig. So, wir haben heute unsere Zusammenarbeit beendet, die Gefahr, die du an die Wand gemalt hast, ist gebannt. Sie war die ganze Zeit sehr zurückhaltend. Sie scheint, wie ich schon sagte, erotisch bestens versorgt zu sein. Morgen präsentieren wir unsere Überlegungen und wollen erläutern, welche Absicht Grass mit der Darstellung von Mahlkes zerrissener Persönlichkeit verwirklichen will.“

„So, heute Abend gibt es als Nachspeise Mangostücke bestreut mit Kokosraspeln und vielleicht etwas Erotisches, wenn du mir gnädig bist. Übrigens, was deine Beichte über deine Affäre mit Marvin Harper anbetrifft, kann ich dich beruhigen: Was du mit Männern erlebtest, bevor wir uns kennen lernten, geht mich gar nicht an und stört mich auch nicht. Damit ist auch dieser Punkt geklärt.“

„Rick, da ist etwas faul an der Sache. Du bist zu vollkommen. Du hast fast nur positive Züge: Du schmeißt den Haushalt, du kochst, kaufst ein und bist meistens gut gelaunt. Wo ist der Haken?“ „Ach, Jennifer, jeder kompensiert seine Schwächen, so gut er kann, auf seine Weise.“ „Und welche Schwächen hast du?“ „Das erzähle ich dir lieber nicht. Meinst du, ich stoße dich mit der Nase darauf? Vielleicht bleiben sie unentdeckt.“ „Mir ist nur aufgefallen, dass du auf deine Routine angewiesen bist. Du musst zum Beispiel jeden Morgen deinen Sport machen und ich denke nicht, dass es dir nur um die Pflege deiner Muckis geht. Mir scheint, dass du vielleicht ein wenig neurotisch bist. Du benutzt die Routine als Lebensstütze, als Lebenssicherheit.“

Rick stand auf und fing an den Tisch abzuräumen. Er schaute Jennifer mit gerunzelter Stirn an. „Das mag stimmen, aber du lenkst von meiner Frage ab“, sagte Rick, als er die Desserttellerchen mit der Mangonachspeise auf den Tisch stellte. „Wie sieht’s aus mit dem erotischen Gang? Darf ich dich vernaschen?“ „Mit etwas mehr romantischem Feingefühl, wenn ich bitten darf! Nicht so grob! Und außerdem will ich es etwas genauer wissen. Bist du etwas neurotisch, deiner Meinung nach?“

Rick legte seinen Dessertlöffel auf den Tisch und schaute Jennifer lange an. Sie schwieg und wartete. „Na gut. Ich versuche es dir zu erklären. Du weißt, dass ich mir im letzten Semester den Luxus leistete, zusätzlich zu meinen Veranstaltungen in Germanistik und Linguistik den Undergraduate-Kurs in abnormal psychology zu belegen. Das fand ich höchst interessant und konnte einige Erkenntnisse auf mich beziehen. Das heißt, ich entdeckte in meiner Psyche anormale Züge: Nun, das ahnte ich schon längst. Pathologisch sind sie, die bedenklichen Züge, wohl nicht, aber ich empfinde tatsächlich das Bedürfnis, Sicherheit in der Einhaltung meiner Routine zu bekommen. Ich habe darüber nachgedacht, wie das Bedürfnis entstanden ist, und ich habe mir eine Antwort zurechtgelegt: Während meiner ganzen Kindheit und Jugend lebte ich allein mit zwei Eltern, die sich häufig bis aufs Blut stritten. Ich hatte fast ständig Angst, sie könnten sich trennen. Damals erschien mir eine solche Trennung als der Untergang meiner Existenz. Ich fing an, mir einzubilden, die Eltern würden sich vertragen, wenn ich bestimmte Routineregeln beachtete. Viele hatten mit körperlicher Ertüchtigung zu tun. Hielt ich meine Regeln ein, fühlte ich mich besser.“

„Hattest du keine Geschwister?“ „Ja, drei, aber sie waren erheblich älter als ich und schon aus dem Haus, als ich noch klein war.“ „Wir kommen deinen Schwächen vielleicht auf die Spur. Da ist noch etwas, dein Hang zu Perfektionismus. Schon wie du sprichst, flößt mir und einigen Kommilitonen Angst ein. Das weiß ich, weil das Thema ein paarmal unter einigen meiner Bekannten Gesprächsstoff war. Du sprichst Deutsch und Englisch, als säße ein Wächter in deinem Kopf, der nur darauf wartet, beim geringsten Verstoß gegen Grammatik- oder Stilregeln deinem Gewissen eins überzubraten. Wenn du bei einer saloppen Formulierung von irgendwelchen Regeln abweichst, weiß man ganz genau, dass du das absichtsvoll tust. Jetzt ahme ich dich ein wenig nach. Nichts für ungut.“

„Weißt du was, Jennifer, mir raucht der Kopf. Das Gespräch heute Abend überfordert mich: Zuerst die Marie-Analyse, dann die Marvin-Beichte und schließlich die schonungslose Entblößung meiner verkorksten Seele. Jetzt kann ich nicht mehr. Vielleicht nehmen wir morgen Abend meine Mängel aufs Korn und mich noch einmal in die Mangel, aber jetzt bin ich nur noch zu körperlichen Leistungen fähig, wie zum Beispiel erotischen Vergnügungen.“ „Weißt du was, mein Lieber, du kannst nicht nur gut kochen, du verstehst es auch, deinen harten, muskulösen Körper vortrefflich einzusetzen. Keine Angst, ich höre mit meiner Persiflage auf. Essen wir die vorzügliche Nachspeise zu Ende auf und gehen wir danach gleich ins Bett, schon bevor du abgewaschen hast, wenn du den gravierenden Verstoß gegen deine Routineregel verkraften kannst.“ „Dein Angebot verführt mich zu der von dir vorgeschlagenen Sünde, für die ich morgen Buße tun werde, indem ich drei zusätzliche Runden um den Sportplatz zurücklegen werde. Können wir jetzt mit dem Sprachquatsch aufhören?“ Lachend sagte Jennifer: „Einverstanden. Schreiten wir zur Tat!“

Vier Tage später erwartete Rick Jennifer wieder am frühen Abend. Diesmal hatte er einen Schafskäseauflauf sowie einen grünen Salat zubereitet und ein Zwiebelbaguette mit Kräuterbutter bestrichen, auf das er etwas Knoblauchsalz gestreut hatte. Darüber hinaus hatte er ein Püree aus Pfirsichstücken, einem geriebenen Apfel und Joghurt verrührt. Er wartete nur noch, dass Jennifer ihr Reinigungsritual im Bad beendet hatte, um die Baguettehälften in den Ofen zu schieben. Als sie aus dem Bad trat, rief sie aus: „Das riecht wieder einmal herrlich. Womit sollen meine Geschmacksknospen heute Abend verwöhnt werden?“ „Le garçon de la maison vous propose ce soir une casserole de feta, Madame.“ „Rick, hör doch mit dem Französischscheiß auf! Du weißt doch, dass Französisch nicht meine Stärke ist.“ „Votre souhait est ma commande. Das ist wohl ein Germanismus.“ Rick holte die Baguettehälften und den Auflauf aus dem Ofen und stellte sie auf den Tisch. „Guten Appetit, ma mignonne. Da du Wilhelm Meister in- und auswendig kennst, wirst du das wohl verstehen, meine Süße.“

„Rick, du bist heute Abend richtig aufgedreht. Hast du heute zu wenig Sport getrieben?“ „Im Gegenteil! Heute Morgen lief ich wie üblich meine Runden und heute Nachmittag traf ich mich mit Janice, dem kräftigen Mann-Weib, um etwas Tennis zu spielen. Als wir aufhörten, verabschiedete ich mich von Janice, die mich wieder einmal geschlagen hatte, und wollte den Spielplatz gerade verlassen, als Marie Hartmann mir entgegenkam. Sie fragte mich, ob sie mich auf dem Nachhauseweg begleiten dürfe. Ich erwiderte, sie könne selbstverständlich neben mir herlaufen, wenn sie den Gestank auszuhalten glaube. Ich hatte nämlich sehr stark geschwitzt. Sie meinte, ich röche gut. So liefen wir zusammen über das Universitätsgelände. Sie wollte wissen, ob wir wieder eine Aufgabe gemeinsam bearbeiten könnten. Sie habe erfahren, dass während der morgigen Grass-Veranstaltung Professor Pluster eine interessante Aufgabe vergeben werde. Es gehe darum, die Charakterisierung von Alfred Mazerath in dem Roman „Die Blechtrommel“ zu analysieren und dabei Grass‘ Intention herauszuarbeiten. Sie habe die Zusammenarbeit mit mir sehr anregend gefunden und würde gern noch eine Aufgabe mit mir zusammen bearbeiten. Jennifer, du siehst, wie vertrauenswürdig ich bin. Ich verheimliche dir nichts.“ „Und was hast du auf ihr Ansinnen erwidert, mein treuer Lebensgefährte?“ „Ich sagte ihr, ich müsse mir überlegen, ob ich glaubte, etwas mit der Aufgabe anfangen zu können. Ich würde heute Abend einige Passagen in dem Roman noch einmal lesen und dann entscheiden. So verabschiedeten wir uns voneinander und ich kam direkt nach Haus, zu meiner süßen Jennifer.

Wie steht’s? Wollen wir heute Abend wieder ein bisschen naschen?“ „Nein, heute geht das nicht. Tante Meni ist bei mir eingezogen und wird wohl sechs oder sieben Tage bleiben.“ „Oh, das tut mir leid. Ich hoffe, du hast diesmal keine so starken Bauchkrämpfe wie das letzte Mal. Wenn wir aufgegessen haben, werde ich dir den Rücken wie das letzte Mal massieren. Vielleicht wird das helfen.“ „Rick, du bist so lieb. Ich glaube, ich muss weinen.“ „Unsinn. Das sind die Hormone, die bei dir verrückt spielen. Darf ich dir noch etwas von dem Auflauf auf deinen Teller tun.“ „Ja, bitte. Tante Meni verdirbt mir keineswegs den Appetit, im Gegenteil. Und der Auflauf schmeckt wirklich vorzüglich.“ „Nun ist mein Selbstwertgefühl gegen die Decke geprallt.“

„Aber, erzähl mal, Rick. Was wirst du Marie Hartmann morgen sagen?“ „Das weiß ich noch nicht. Ich lese heute Abend nach der Rückenmassage noch einmal einige Textstellen in dem Roman durch und warte dann ab, was Pluster morgen verkündet. Mal sehen.“ „Das klingt verdächtig Wischiwaschi. Aber das musst du wissen. Ich glaube immer noch, dass Marie Hartmann dich als leckeres Opfer auserkoren hat.“

Rick stand auf und holte die Nachspeise aus dem Kühlschrank, stellte die große Schüssel sowie zwei Schalen auf den Tisch und legte zwei Dessertlöffel neben die Schalen. „So, nachdem wir den Auflauf verspeist haben, tun wir uns an dem süßen Püree gütlich.“ „Rick, du lenkst wieder ab. Was wirst du Marie Hartmann sagen?“ „Du, das weiß ich wirklich noch nicht. Mir wird bestimmt irgendeine Ausrede einfallen. Mach dir keine Sorgen.“

In der Ferne weiße Berge

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