Читать книгу Die ganz Großen - Georg Markus - Страница 15
ОглавлениеWir können sein komödiantisches Talent nur erahnen, kaum jemand der heute Lebenden wird Alexander Girardi noch auf einer Bühne gesehen haben. Und wir können seine Zeitgenossen zu Rate ziehen. Felix Salten etwa, der »Schauspieler wie Girardi als Naturereignisse« bezeichnete, »die auch wie diese mit unwiderstehlicher Macht wirken. Erscheinungen wie er gehen neben der Kunst einher, gehen, wenn man will, manchmal hoch über die Kunst hinaus. Man muss sie hinnehmen, wie man ein Wunder hinnimmt, muss sie als Wunder staunend genießen.«
Alexander Girardi, so wird erzählt, hätte einmal den alten Kaiser bei einem Spaziergang durch Bad Ischl begleitet, da drehten sich die Leute um und fragten: »Wer ist denn der alte Herr neben dem Girardi?« Es wird schon nicht ganz so gewesen sein, aber die Episode zeigt, wie populär der Volksschauspieler war. Jeder Wiener, der auf sich hielt, trug einen Girardihut, stützte sich auf einen Girardistock, sprach und bewegte sich wie Girardi. Johann Strauß hatte einige seiner schönsten Melodien für ihn geschrieben, kurzum: Österreich war im Girardi-Fieber.
1850 in Graz geboren, musste der junge »Xandl« vorerst gegen seinen Willen das Schlosserhandwerk erlernen. Erst nach dem Tod des strengen, aus Cortina d’Ampezzo eingewanderten Vaters konnte er zum Theater gehen. Ohne Schauspielausbildung debütierte er 19-jährig in Nestroys Tritsch-Tratsch am Sommertheater von Rokitsch-Sauerbrunn. Nach mehreren Provinzengagements ging Girardi ans Strampfertheater auf der Wiener Tuchlauben. Bald holte ihn das Theater an der Wien, an dem er das Lied »Nur für Natur« in der Strauß-Operette Der lustige Krieg so unvergleichlich interpretierte, dass er über Nacht berühmt wurde. Mehr als zwanzig Jahre blieb er an diesem Theater, an dem er in den komischen Rollen fast aller Strauß-Operetten wahre Triumphe feiern sollte. So kreierte er den Frosch in der Fledermaus und den Zsupan im Zigeunerbaron. Er war in seiner Glanzzeit so populär, dass er es sich leisten konnte, den wohl kuriosesten Vertrag der Theatergeschichte abzuschließen. Da er mit der Eigentümerin und Direktorin des Theaters an der Wien verfeindet war, lautete eine Passage seines Kontrakts: »Wenn Herr Girardi die Bühne betritt, hat Fräulein von Schönerer dieselbe augenblicklich zu verlassen.«
1885 hob er das Fiakerlied von Gustav Pick bei einem Praterfest der Fürstin Pauline Metternich aus der Taufe, später – nach seinem Abgang als »Dritter-Akt-Komiker« am Theater an der Wien – gastierte er auf allen großen Bühnen der Stadt, zeigte seine unübertroffene Komödiantik vor allem in den großen Raimund-Rollen.
Seine Karriere hätte keinen besseren Verlauf nehmen können – doch sein Privatleben entwickelte sich zur Katastrophe. Von Millionen geliebt, bewundert, verehrt, lernte Girardi – just auf dem Höhepunkt seiner Popularität – die Hölle auf Erden kennen.
Schuld an der Tragödie, die im Leben und nicht auf einer Bühne zur Aufführung kam, war die Liebe zu seiner Frau, der ebenso populären wie schönen Helene Odilon. Die Schauspielerin des Wiener Volkstheaters galt als verführerischste Frau ihrer Zeit, mit ihrem schmiegsamen Körper und der ihr eigenen sinnlichen Sprechweise betörte sie Wiens Männerwelt. Und »sie hatte den gesunden Appetit eines jungen Raubtieres«, wie ein Chronist sie beschrieb.
Ausgerechnet diesem »Raubtier« war Alexander Girardi, der ehemalige Schlosserbub, mit Haut und Haaren verfallen. Am 14. Mai 1893 wurde Hochzeit gefeiert, doch schon nach wenigen Monaten kam, was kommen musste: Treu blieb Helene Odilon selbst als Ehefrau nur ihrem Ruf, »Wiens gefährlichste Frau« zu sein. Und Girardi, der sich auch als Volksliebling sein schlichtes Gemüt bewahrt hatte, wurde krank vor Eifersucht. Zwischen der 27-jährigen Herzensbrecherin und ihrem 43-jährigen Ehemann kam es zu erbitterten Szenen.
Konkreten Anlass für die Tragödie gab Helene Odilons Flirt mit dem Bankier Albert Baron Rothschild. In den ersten Dezembertagen verließ sie seinetwegen die eheliche Wohnung in der Wiener Nibelungengasse, um sich im Hotel Sacher einzuquartieren.
Was bisher immer noch als ganz »normale« Ehekrise anzusehen war, wurde jetzt zu einer Affäre, die bald ganz Österreich in Atem hielt. Denn um ihren Mann »loszuwerden«, ersann die Odilon einen teuflischen Plan, der um ein Haar aufgegangen wäre. Die Schauspielerin ließ den berühmten Psychiater Professor Dr. Julius Wagner-Jauregg ins Hotel kommen und beauftragte ihn, den Geisteszustand ihres Ehemannes zu untersuchen. Der spätere Nobelpreisträger setzte sich vorerst mit Girardis Hausarzt Dr. Joseph Hoffmann in Verbindung und ging gemeinsam mit ihm zur Wohnung des »Patienten«, den sie dort jedoch nicht antrafen. Und dann passierte das Unfassbare: Ohne den Schauspieler je persönlich gesehen, geschweige denn untersucht zu haben, stellte Professor Wagner-Jauregg die Diagnose, dass Girardi »vom Cocainwahn befallen, irrsinnig und gemeingefährlich« sei, und beantragte bei der Polizeidirektion dessen Einweisung in die Wiener Irrenanstalt Svetlin. Später rechtfertigte sich Wagner-Jauregg damit, er hätte sich »auf Dr. Hoffmanns Aussagen verlassen«. Jedenfalls beauftragte Polizeipräsident Franz Ritter von Stejskal mittels Fahndungsbefehl sämtliche Dienststellen, »den Schauspieler Alexander Girardi, wo immer er angetroffen werde, als gemeingefährlich festzunehmen«.
Kurzfristig nahm die Tragödie jetzt eher komödiantische Züge an: Als der Ambulanzwagen mit zwei Wärtern vor Girardis Haus vorfuhr, trat gerade der Nachbar des Schauspielers – ein hochrangiger Staatsbeamter – auf die Straße. Wie so viele Wiener war auch er, mit Strohhut und elegantem Stock, à la Girardi gekleidet. Worauf der gute Mann von den beiden Wärtern in den Krankenwagen gezerrt und ins Privatsanatorium Svetlin eingeliefert wurde.
Girardi, von Freunden rechtzeitig gewarnt, befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Flucht. Er wusste: Die Einzige, die ihm helfen konnte, war seine Kollegin Katharina Schratt – mit der er in Jugendtagen kurzzeitig verlobt gewesen war.
Die Burgschauspielerin und Vertraute des Kaisers erklärte sich bereit, Franz Joseph ehestmöglich von der Affäre zu informieren, und ließ Girardi, um ihn vor seinen Verfolgern zu schützen, in ihrem Gartenhaus in der Gloriettegasse übernachten. Am nächsten Morgen begrüßte Katharina Schratt den Kaiser mit den Worten: »Majestät, in Ihrem Staat geht es schön zu« und erzählte ihm von der Verfolgung Girardis.
Da der gewissenhafte Monarch den umjubelten Theaterstar nicht voreilig »freisprechen« wollte, ordnete er die Einberufung einer ärztlichen Kommission an. »Wenn die konstatiert, dass er gesund ist, lass ich die polizeiliche Verfügung sofort aufheben«, sagte der Kaiser, »früher nicht.«
Tags darauf wurde Girardi von einem Ärztekonsilium unter dem Vorsitz des Psychiaters Regierungsrat Dr. Hinterstoisser untersucht und für »völlig normal« befunden.
Bald danach war der große Komödiant auch von Helene Odilon »geheilt«, die Ehe wurde am 16. Jänner 1896 geschieden. Girardi heiratete später noch einmal und verbrachte mit seiner zweiten Frau Leonie – der Adoptivtochter des Klavierfabrikanten Bösendorfer – zwanzig glückliche Jahre.
Der »Fall Girardi« hatte in allen Teilen der Monarchie einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Wie war es möglich, dass ein Mann ohne ärztliche Untersuchung für geisteskrank erklärt werden konnte? Und wie schützt sich ein Betroffener, der nicht gerade über einen Draht zum Kaiser verfügt?
Die scharfen Presseattacken auf die geltenden »Vorschriften des Irrenwesens« waren von Erfolg gekrönt: Franz Joseph verfügte mittels kaiserlicher Verordnung eine völlige Neuregelung des Entmündigungsverfahrens. Seit damals – und so blieb es bis zum heutigen Tag – ist ein Gerichtsbeschluss notwendig, ehe eine Person in eine Anstalt für Geisteskranke eingeliefert werden kann. Ein »Fall Girardi« könnte sich in dieser Form nicht mehr wiederholen.
Helene Odilon wurde nach Bekanntwerden des Skandals gemieden, die Verbindung mit Baron Rothschild ging bald in Brüche. Die ehemals berühmte Schauspielerin verbrachte ihre späten Jahre in großer Armut. Girardi aber wurde durch die Affäre noch populärer.
Am 15. Februar 1918 erfüllte sich sein lebenslanger Traum, als er in der Rolle des Fortunatus Wurzel in Raimunds Der Bauer als Millionär zum ersten Mal auf der Bühne des Burgtheaters stand. Doch er konnte die späte Ehrung nicht lange genießen. Nach wenigen Vorstellungen wurde der schwer zuckerkranke Schauspieler ins Spital eingewiesen, wo ihm das linke Bein amputiert werden musste. Er starb dort am 20. April 1918.
»Seine angeborene Tragikomik lag darin«, meinte Anton Kuh in seinem Nachruf, »dass sich hinter seiner Spitzbüberei der Schmerz, hinter dem Schmerz die Spitzbüberei duckte, dass er in derselben Falte seines Gesichtes Spaß und Unglück stecken hatte.« Und noch einmal Felix Salten: »Es wird ein Wein sein und wir wer’n nimmer sein, ’s wird schöne Maderln geben und wir wer’n nimmer leben – niemand hat das so gesungen. Niemand, den wir noch hören können, wird das wieder so singen wie er.«
Nach seinem Tod munkelte man hinter vorgehaltener Hand: Der Johann Strauß ist tot, der alte Kaiser ist tot – und jetzt ist der Girardi g’storben. Da wird’s die Monarchie a nimmer lang geben.
Ein halbes Jahr später sollte sich diese düstere Prophezeiung bewahrheiten.