Читать книгу Die ganz Großen - Georg Markus - Страница 8

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Über die Frage, wann das alte Jahrhundert tatsächlich zu Ende ging, wurde viel gerätselt. Am 31. Dezember 1999, sagen die einen. Am 31. Dezember 2000, meinen die anderen. Theaterfreunde freilich lassen weder den einen noch den anderen Tag gelten. Für sie endete das Jahrhundert am 11. Mai 2000, exakt um 21.30 Uhr. Da ist die große Paula Wessely gestorben. Damit also war das Jahrhundert vorbei und ein neues begann.

Denn das 20. Jahrhundert, das war die Wessely. Unsere Großeltern haben schon geschwärmt von ihr, und wir taten es, seit wir denken können. Gerhart Hauptmann und Carl Zuckmayer schrieben ihr die Rollen auf den Leib; George Bernard Shaw drängte darauf, sie kennen zu lernen; und Ingrid Bergman antwortete, als man sie fragte, wer ihr Vorbild sei: »Die Wessely!«

Ich hatte oft die Freude, dieser Frau, der Wessely, zu begegnen, beruflich und privat. Und es war jedesmal ein Erlebnis. Einmal, im Juni 1991, wurde im Hotel Sacher eine Edition ihrer besten Filme auf Video vorgestellt. Ich saß an diesem Abend neben ihr und fragte sie, irgendwann nach dem Dessert, beiläufig, ob sie sich die Filme zu Hause ansehen würde.

»Ja, Maskerade«, antwortete Paula Wessely, »Maskerade möchte ich gerne noch einmal sehen. Aber leider – ich besitze kein Videogerät.«

Eher aus Höflichkeit denn in der Annahme, sie würde von meinem Angebot Gebrauch machen, erwiderte ich, dass ihr mein Recorder jederzeit zur Verfügung stünde.

Ein paar Wochen später erschien sie tatsächlich in meiner Wohnung. Und sah sich Maskerade an.

Ich wusste an diesem Nachmittag nicht recht, auf welche Wessely ich mehr achten sollte – auf die neben mir sitzende oder auf die im Film agierende, fand aber einen guten Mittelweg.

Nach einer halben Stunde etwa – im Ballsaal, bei ihrer ersten Begegnung mit Adolf Wohlbrück – holte die junge Wessely in ihrer Rolle als Leopoldine Dur zu einer wunderbar grazilen Handbewegung aus, mit der sie aber im Rückblick nicht ganz zufrieden schien. »Zu dumm«, unterbrach die neben mir sitzende Paula Wessely die im Film agierende, »zu dumm, das hätte ich anders machen sollen.« Und sie zeigte mir vor, wie’s vielleicht besser gewesen wäre.

Auch wenn die kleine Begebenheit nicht wirklich weltbewegend war, bleibt mir unvergesslich, dass die – wie viele meinen – größte Schauspielerin des Jahrhunderts, als sie ihren berühmtesten Film wieder sah, mit einer kleinen Handbewegung, die sie vor sechzig Jahren durchführte, nicht ganz zufrieden war.

Das alte Winzerhaus in der Himmelstraße am Stadtrand von Wien, in dem sie ihr halbes Leben verbrachte, strahlt so viel Ruhe aus und ist voll von Erinnerungen. Die Erzählungen der Paula Wessely waren mit keinem anderen Gespräch zu vergleichen. Da war das Ereignis, einer Jahrhundertkünstlerin zu begegnen, da war der Zauber ihrer Sprache, der Klang, dieser einzigartige Klang.

Für ein Interview mit der Wessely – so man je das Glück hatte, eines zu bekommen –, musste man sich viel Zeit nehmen. Man ging hin, sprach mit ihr, nahm alles, was sie sagte, auf Band auf, schrieb es zu Hause nieder, kam wieder zu ihr zurück. Korrigierte das Geschriebene, kam noch einmal, korrigierte das Korrigierte … Bis der letzte I-Punkt stimmte, bis alles so da stand, wie sie ihre Worte im Druck vorzufinden gedachte. Ja, wenn jemand ein Leben lang so präzise ist im Rollenerarbeiten, in der kleinsten Bewegung, in jeder Nuance des gesprochenen Wortes, dann ist er auch präzise, wenn es gilt, etwas aus diesem Leben niederzuschreiben. Es war anstrengend, zweifellos. Aber faszinierend.

Sie erzählte damals aus ihren Erinnerungen an Kindheit und Jugend, über ihre Eltern und die Tante Josefine – gesprochen: »Tant’ Josefin’«. Sie sprach über ihr Leben mit Attila Hörbiger, ihre Film- und Theaterstationen (»Karriere dürfen Sie nicht schreiben, das klingt so schrecklich eitel«), über ihre Töchter, über die Religion und den Tod.

»Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich hundert«, schmunzelte Paula Wessely, als sie mir – rund ein Jahr nach unserem gemeinsamen »Maskerade-Erlebnis« – die Erinnerungen an ihr Leben anvertraute. Die langen Gespräche damals, die sich über mehrere Wochen hinzogen, waren gleichzeitig das letzte große Interview ihres Lebens. So viel hatte sie erlebt, dass sie selbst es nicht fassen konnte, erst 85 Jahre alt zu sein.

Von Millionen bewundert, angehimmelt zu werden, das war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Sie kam als Tochter des Fleischermeisters Carl Wessely und seiner Frau Anna, geb. Orth, am 20. Jänner 1907 in der Vorstadt Wien-Sechshaus zur Welt. Ihre Tante, die große k. u. k. Hofschauspielerin Josefine Wessely, war die Schwester ihres Vaters, doch sie war, als Paula geboren wurde, schon seit zwanzig Jahren tot. »Dennoch hörte und las ich in meiner Jugend viel von der Tant’ Josefin’ und vom alten Burgtheater, an dem sie engagiert war. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages selbst dort auftreten würde. Die Scheu vor dem großen Haus war ungeheuer.« Josefine Wessely wurde als Luise Miller, als Klärchen und als Gretchen gefeiert. Sie starb im Alter von nur 27 Jahren während eines Theatergastspiels in Karlsbad.

»Mein Vater«, setzte Paula Wessely fort, »war ein begeisterter Theatergeher, meine Mutter wäre gar zu gerne Tänzerin geworden.« Mit fünfzehn, in der Bürgerschule, wusste Paula bereits, »dass das Theater mein Wirkungskreis in späteren Jahren werden soll«.

Dabei wollte sie ursprünglich Lehrerin werden. »Ich habe als Kind gerne Schule gespielt. Mir war aber sehr bald klar, dass ich für den Lehrberuf viel zu ungeduldig gewesen wäre. Die Entscheidung fiel durch meine Deutschlehrerin Madeleine Gutwenger, die mich zum Vorsprechen in die Akademie für Musik und darstellende Kunst brachte.«

Durch Zufall fiel mir vor ein paar Jahren eine Ausgabe der Theaterzeitschrift Die Bühne vom 11. Dezember 1924 in die Hände, in der sich ein Kritiker unter dem Titel »Theater der Schauspielschüler« als Prophet in Sachen Schauspielkunst versuchte. In seinem Bericht von einer »Übungsaufführung der Akademie für darstellende Kunst« glaubte der Rezensent in Wallensteins Lager die »Marketenderin Mizzi Vlck als kommende Hansi-Niese-Begabung« zu erkennen. Für nicht minder talentiert hielt er »die Damen Duhm, Hradsky und Buschek sowie die Herren Schwandner, Zechel und Aichinger«.

Unnötig zu erwähnen, dass kein einziger der von dem Kritiker »entdeckten« Künstler in die Theatergeschichte eingegangen ist. Neben der Betrachtung in der Bühne findet sich jedoch ein Foto der gesamten Schauspielklasse, also auch jener Damen und Herren, die der Kritiker nicht für würdig befunden hat, als Begabungen zu erwähnen.

Und auf diesem Foto ist klar und deutlich Fräulein Paula Wessely zu erkennen.

Womit besagtem Kritiker eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des Jahrhunderts nicht weiter aufgefallen wäre. Die Wessely schmunzelte, als ich ihr den Artikel zeigte. »Ist doch ein Glück, dass mich der Herr Redakteur nicht erwähnt hat. Sonst wär’ vielleicht nichts aus mir geworden.«

Karl Paryla, ihr Jahrgangskollege in der Akademie, erinnerte sich freilich, dass »ihr außergewöhnliches Talent vom ersten Tag an spürbar war«.

Als Siebzehnjährige spielt sie eine Hofdame in George Bernard Shaws Heiliger Johanna. »Die Ehrfurcht vor den Schauspielern war so groß, dass ich es nicht wagte, meinen Fuß ins Konversationszimmer des Deutschen Volkstheaters zu setzen. Denn dort saßen die Schauspieler, die die großen Rollen spielten, und vor ihnen hatten wir tiefen Respekt.«

Zwei Jahre später ist sie am Deutschen Theater in Prag, wo der Kritiker Max Brod, ergriffen durch ihr Spiel, ankündigt: »Nächstesmal werde ich wohl schon ›die Wessely‹ schreiben.« Max Reinhardt holt sie nach Wien und Salzburg, und sie ist »die Wessely«, als ihr 1932 mit Rose Bernd in Berlin der Durchbruch gelingt.

»Reinhardt stand ich zum ersten Mal im legendären Elferzimmer des Theaters in der Josefstadt gegenüber. Man hatte mir vorher verraten: Er bringt junge Schauspieler sehr gerne in Verlegenheit, indem er nichts sagt. Glücklicherweise hatte ich die Kraft, auch nichts zu sagen. So sind wir also eine Zeit lang stumm dagesessen. Dann hat er als erster geredet, mir ein paar Fragen gestellt – und von da an gehörte ich dem Theater in der Josefstadt an.«

1933 ist sie das Gretchen in Reinhardts legendärer Faust-Inszenierung in Salzburg, im darauf folgenden Jahr wird sie durch Maskerade über Nacht weltberühmt. »Am Film faszinierten mich die Möglichkeiten, etwa in der freien Natur zu drehen. Ich war vor Maskerade schon zehn Jahre am Theater, hatte aber ein Gesicht, das als nicht fotogen galt. Willi Forst hat mir ein Tor geöffnet, als er den Mut hatte, mich in Maskerade zu besetzen. Es war mein Glück, zur richtigen Zeit dazugekommen zu sein, als der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wurde.« Episode, Späte Liebe, Der Engel mit der Posaune, Cordula waren weitere Stationen ihres Filmschaffens.

Mitunter ist man enttäuscht, wenn man großen Schauspielern privat begegnet. Was an ihnen fasziniert, ist oft doch »nur« gespielt. Ganz anders war es bei Paula Wessely, die ihr Visavis auch im persönlichen Gespräch bezaubern, durch ihre Ausstrahlung gefangen nehmen konnte. Unsere Gespräche fanden in ihrem Garten, im schattigen Innenhof oder in der Bibliothek ihres Hauses in der Grinzinger Himmelstraße statt. Dieses Haus passte auch in einzigartiger Weise zu ihr. Es ist elegant, ohne schick zu sein, riesengroß und doch verwinkelt. Als Kind bin ich, von Wienerwaldtouren kommend, immer wieder daran vorbei marschiert, und meine Eltern haben jedesmal darauf hingewiesen, dass hinter diesen Mauern die berühmteste Schauspielerin des Landes lebte. Ich war sehr beeindruckt, wenn auch eher von der geheimnisvollen Nachricht und den Mauern des lang gestreckten Gebäudes mit dem breiten, dunkelgrünen Tor – zumal ich keine Ahnung hatte, was eine »berühmte Schauspielerin« sein mochte.

Jetzt aber, als ich das Haus von innen sah und ihr gegenüber saß, da wusste ich es längst. Ich hatte sie im Burgtheater gesehen oder in Aufzeichnungen ihrer großen Rollen. Als Genia Hofreiter im Weiten Land, als Mrs. Arbuthnot in Eine Frau ohne Bedeutung, als Nora Melody in Fast ein Poet. »Meine Theaterauftritte, das sind Erinnerungen an eine andere Zeit«, sagte sie. »Inzwischen ist so viel passiert, so viel versunken am Theater und in der Welt überhaupt. Gleichgeblieben ist nur der Mangel an guten und publikumswirksamen neuen Bühnenstücken. Abgesehen davon nimmt das Theater nicht mehr die Stellung ein, die es zu meiner Zeit hatte. Das tut mir weh, denn es hat mir und meiner Generation so viel Freude bereitet.«

Zurück nach Prag, 1926. Dort lernt sie Attila Hörbiger kennen. »Ich war neunzehn Jahre alt, wurde als blutjunge Schauspielerin des Deutschen Theaters vom Ehepaar Dittrich liebevoll als ›Kind im Haus‹ aufgenommen. Wir wohnten Smečka – so hieß die Straße – Nummer 33. Vom Wenzelsplatz links hinein, das weiß ich noch. Durch die Familie Dittrich, er war Professor für Gerichtsmedizin, und beide waren unglaubliche Theaterliebhaber, begegnete ich damals, wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Monarchie, einem bunten Kreis interessanter Menschen. Die Gesellschaft in Prag war doch ganz anders als die in Wien. Ich habe ungeheuer viel gelernt, was mir menschlich und in meinem Beruf zugute kam, auch deshalb war Prag so wichtig für mich.«

Rund fünfzehn Prozent der Prager waren deutschsprachig, »ein phantastisches Publikum«, für das sie Komödien und Klassiker spielte. Die neuen Herren hieß das Stück, in dem sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem jungen Schauspieler namens Attila Hörbiger auf der Bühne stand. Damals, in Prag, Premiere 10. September 1926. »Wir hatten eine Liebesszene, ich lief auf ihn zu und rannte ihn fast um. Von einer Beziehung keine Rede, ich wusste nicht viel mehr von ihm, als dass er sportbegeistert war, irgendwas mit Fußball. Erst in Wien haben wir uns näher kennengelernt, an der Josefstadt.«

Neun Jahre nach dem ersten Treffen in Prag sollten sie heiraten.

Noch im hohen Alter – er war schon gestorben – freute sie sich, »wenn ich Gelegenheit habe, einen Film mit Attila im Fernsehen zu sehen. Da sehe ich nicht nur den Schauspieler Attila Hörbiger, sondern auch meinen Mann. Es ist wie ein Wunder, ihn lebendig vor mir zu haben, und mir kommen eine Fülle von Gedanken über die Zeit, wie es damals war, auch außerhalb der Dreharbeiten, als dieser Film entstanden ist.« Sie sah zum Fenster hinaus, in den schönen Grinzinger Garten inmitten der Weinberge, als blickte sie den vielen Stunden nach, die sie da unten mit ihm verbracht hatte. »Ich kann gar nicht glauben, dass er nicht mehr da ist. Er hatte die seltene Gabe, auch das Negative positiv zu sehen.«

Eine Gabe, die ihr wohl fehlte.

1936 erhält Paula Wessely ein Traumangebot aus Hollywood, sie lehnt ab und hat es nie bereut. Es gab mehrere Gründe dafür, auch private. »Für mich galt, auch im Film, was Helene Thimig einmal im Salzburger Café Tomaselli zu mir sagte: ›Man kann in einer fremden Sprache nur Theater spielen, wenn man sie von Kindheit an spricht.‹ Die Warner Brothers verlangten, ich müsste zwei Jahre Englisch lernen – das Risiko schien mir zu groß, um dafür meine hiesige Film- und Theaterlaufbahn aufzugeben.«

Die ging mit Riesenschritten voran. Millionen Frauen kleideten sich, trugen ihr Haar wie sie. Die Wessely wurde zum Idol. Doch das waren nur die äußeren Zeichen einer Karriere (verzeihen Sie, Paula Wessely, jetzt hab ich das »eitle« Wort doch niedergeschrieben). Einer Karriere, die hart erarbeitet war. »Zugeflogen ist mir nichts, ich hab’ es mir sehr schwer gemacht, habe mir auf den Proben jede Rolle erkämpfen müssen. Mir ging es um die Glaubwürdigkeit in der Darstellung, das war alles. Zufrieden war ich selten. Theater, Film, Erfolg – vieles war dann ganz plötzlich da.«

In den Jahren der Naziherrschaft wirkte sie in einem Propagandafilm mit, den sie besser nicht gedreht hätte. Und den man ihr später zum Vorwurf machte. Sie wollte das in unserem Gespräch nicht beschönigen, es lag ihr nur daran, »dass am Ende meines Lebens nicht das von mir übrig bleibt, und sonst gar nichts. Ja, es war ein Fehler, ein schwerer Fehler, dass ich nicht den Mut aufgebracht habe, abzulehnen. Es tut mir leid, dass ich die Dreharbeiten nicht abgebrochen habe – welche Konsequenzen das für mich und meine Familie auch immer gehabt hätte.«

Sicher: Damit konnte sie den Film Heimkehr nicht ungeschehen machen. Aber es war ein klares Wort. Das von ihren Gegnern – allen voran Elfriede Jelinek in dem Tendenzstück Burgtheater – nicht akzeptiert wurde. Simon Wiesenthal, zweifellos die oberste Instanz in diesen Fragen, bezeichnete das Jelinek-Stück als Höhepunkt einer »miesen Hetzjagd«. Zumal bekannt ist, dass das Ehepaar Wessely-Hörbiger Freunden zur Ausreise verhalf, seine gefährdete Sekretärin weiter beschäftigte und sich dafür einsetzte, dass diese mit ihrem jüdischen Ehemann zwischen 1938 und 1945 in ihrer Wohnung verbleiben konnte. Nach dem »Anschluss« kaufte Paula Wessely formell die Villa Kalbeck, um sie so vor der sicheren »Arisierung« durch die Nazis zu schützen. Florian Kalbeck bestätigte mir gegenüber, dass die Wessely auf diese Weise das Hab und Gut der Familie gerettet hat.

Paula Wessely wirkte sehr ernst, sehr betroffen, wenn sie über diese Zeit und das, was man ihr vorhielt, sprach. Die Angriffe haben ihr den Frieden der letzten Jahre geraubt, sie hat unvorstellbar darunter gelitten.

»Glauben Sie«, fragte sie mich und klopfte dabei eindringlich mit der Hand auf das kleine Kaffeetischchen ihres Wohnzimmers, »glauben Sie, Fritz Kortner, der seine Heimat verlassen musste, hätte nach dem Krieg mit mir gearbeitet, wenn auch nur ein einziger Punkt der Anschuldigungen, die ich mir gefallen lassen muss, zugetroffen hätte?«

Kortner. 1964 spielt sie unter seiner Regie am Burgtheater in dem Ibsen-Stück John Gabriel Borkmann. Die kleine Geschichte sei erzählt, um zu zeigen, dass die Wessely nicht nur sehr ernst sein konnte, sondern – was nur wenige wussten – auch über ein beachtliches Quantum feinen Humors verfügte. Kortner war für seine ausführliche Probenzeit bekannt. Nach zwei Wochen aufreibender Vorbereitungen erscheint Paula Wessely in der Kanzlei des Burgtheaterdirektors Ernst Haeusserman: »Es ist wirklich großartig«, sagt sie, »was Kortner alles sagt. Und wie er es sagt. Und diese Gründlichkeit. Heute, nach 14 Probentagen, sind wir glücklich auf Seite sieben des Rollenbuches angelangt. Sagen Sie, Herr Direktor, ist eigentlich auch daran gedacht, dass es in diesem Stück je eine Aufführung geben wird?«

Es war daran gedacht, und es gab auch eine. »Als Frau Wessely ihre Verzweiflung über ein verdorbenes Leben mit ganzer Seele und Stimme darbot«, heißt es in einer Rezension, »da reichte Theater weit über Kalkuliertes hinaus in Bezirke, die sonst nur der Musik geöffnet sind.«

Am 13. Oktober 1984 hatte sie – als Hoffnung in Ferdinand Raimunds Der Diamant des Geisterkönigs – ihre letzte Premiere am Burgtheater, es folgte eine Serie umjubelter Leseabende, 1987 zog sie sich für immer zurück. Ob sie die Bühne vermisste, fragte ich sie. »Eigentlich nicht. Eines Tages war’s für mich ganz klar, dass ich aufhöre. Ich sollte die Fürstin Ettin in Molnárs Olympia spielen, eine Rolle, die mir seinerzeit viel Vergnügen bereitet hat. Als ich dann achtzig war, habe ich mir das nicht mehr zugetraut, weil die körperlichen Kräfte nachließen. Es war mir beschieden, im richtigen Moment aufgehört zu haben.«

Als Paula Wessely im Herbst 1992 am Wiener Rosenhügel der österreichische Filmpreis für ihr Lebenswerk verliehen wurde, durfte ich die Laudatio halten. Wir setzten uns vorher zusammen, sie legte Wert darauf, dass ich jedes Wort der Bewunderung, der Wertschätzung, der Betonung ihrer Größe vermeide. Ich habe es dann doch nicht ganz geschafft und gesagt, was sie uns allen bedeutet. Ihren strafenden Blick werde ich nie vergessen.

Sie dankte bescheiden unter Standing Ovations, wie ich sie davor und danach nie wieder erlebte. Wenn sie an die Leistungen der wirklich Großen – der Ärzte, der Forscher und Erfinder – dachte, so sagte sie, »dann war das nicht sehr viel, was ich den Menschen geben konnte«.

Zurück wieder in die Himmelstraße Nr. 24. Sie sitzt, während sie Bilanz zieht, im ersten Stock des Hauses, der immer ihr Bereich war. Im Parterre logierte Attila Hörbiger, jetzt lebt dort ihre Tochter Maresa. »Es war ein buntes, gnadenreiches Leben«, sagt die Wessely und streift mit einem Blick die vielen Bücher ihrer Bibliothek. »Zwei Kriege, viel Leid, aber auch sehr viel Freude durch Beruf und Familie. Drei gesunde Kinder zur Welt gebracht zu haben, das hat mich mit Stolz erfüllt. Aber es war mir immer bewusst, dass ich ihnen zu wenig Zeit widmen konnte. Heute bin ich glücklich und dankbar, dass alle drei als Schauspielerinnen einen sehr, sehr guten Weg gehen. Sie setzen jetzt die Tradition aus meiner und aus der Familie meines Mannes fort. Anfangs war es für sie belastend, immer wieder mit mir verglichen zu werden. Gott sei Dank ist es ihnen gelungen, sich vollkommen zu lösen und einen eigenständigen Weg zu gehen. Jetzt im Alter mache ich für meine Töchter dieselben Ängste durch, die ich seinerzeit um das Gelingen meiner eigenen Rollen durchgestanden habe.«

Hin und wieder sah man die Doyenne des Burgtheaters auch in ihren letzten Lebensjahren noch durch Grinzing schreiten, von Einheimischen und Touristen bewundert wie eine Königin. Sie lebte nicht wie ein Star, wie eine Diva, sondern sehr bürgerlich. »Manchmal«, vemerkte, sie, »scheint es in Wien so zu sein: Ist man wer, haben sie’s nicht gern. Ist man niemand, passt es ihnen auch nicht. Ich persönlich muss den Menschen dankbar sein, dass sie mir über eine so lange Zeit so viel liebevolle Anhänglichkeit zeigen.«

Paula Wessely war gläubig und befasste sich zuletzt intensiv mit dem Sterben. »Ich lese darüber in den Schriften bedeutender Theologen«, sagte sie, »ich lande aber doch wieder bei meinem Kinderglauben nach altkatholischem Bekenntnis. Und so erhoffe ich mir, im Jenseits all den Menschen, die ich geliebt habe, wieder zu begegnen.«

Als sie dann, im Mai 2000, am Ende ihres Jahrhunderts und am Anfang des neuen, im Alter von 93 Jahren gestorben war, fragten viele, warum die Wessely – ausgerechnet die Wessely! – nicht mit einer großen Trauerfeier verabschiedet worden sei. Sie hatte ihre Töchter in ihrem Letzten Willen ersucht, nur ja nicht, wie das bei Ehrenmitgliedern des Burgtheaters üblich ist, im Foyer des Bühnenhauses aufgebahrt und dann um das Gebäude getragen zu werden. Paula Wesselys schriftlich deponierte Begründung lautete: Sie hätte sich nie als reine Burgschauspielerin, sondern vielmehr als österreichische Schauspielerin gesehen. Sie hätte auch gefunden, es gäbe Berufenere, die dem Burgtheater mehr gedient haben. Und sie war der Auffassung, dass ein so großes Zeremoniell zu teuer wäre.

Sie dachte schließlich, dass ihr Abgang »ein privater« sein sollte.

»Privat« war dann auch die Trauerfeier in der kleinen Grinzinger Kirche, in der nur Familie und enge Freunde Platz fanden. Der Abschied war so ruhig, so schlicht, wie das Leben, das sie gerne geführt hätte. Sie selbst hatte noch alles minuziös geplant, von der ökumenischen Einsegnung mit zwei katholischen und zwei altkatholischen Priestern, bis hin zu Schuberts »Streichquintett«, dargeboten von fünf Herren der Wiener Philharmoniker. Es waren dieselben Klänge, mit denen man einst Attila Hörbiger verabschiedet hatte.

»Privat« ist schließlich auch der Ort ihrer letzten Ruhe. Werner Krauß, Curd Jürgens, Hans Moser, Paul Hörbiger und viele andere der ganz Großen wurden am Wiener Zentralfriedhof bestattet. Alle recht nah beisammen, in Ehrengräbern, als stünde der letzte – gemeinsame – Auftritt noch bevor. Paula Wessely hingegen ließ sich an der Seite ihres Mannes, in Grinzing, begraben. Fernab von den Freunden und Kollegen aus der alten Zeit.

»Manchmal«, schreibt Joachim Kaiser in seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung, »gibt es auch Gründe, die ein höheres Alter vorteilhaft erscheinen lassen. Und wäre es nur der, die Wessely noch erlebt zu haben – und dafür dankbar zu sein.«

Die ganz Großen

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