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»Was ich bin, verdanke ich der Paula«
ОглавлениеEine Begegnung mit Attila Hörbiger. Und ein Nachruf.
Wenige Stunden bevor sein Bruder Paul im März 1981 verstorben war, besuchte er diesen im Lainzer Krankenhaus. Seit einem Dreivierteljahrhundert hatten die beiden nur deutsch miteinander gesprochen, doch angesichts des nahen Todes unterhielten sie sich in der Sprache ihrer Kindheit, auf ungarisch.
Sechs Jahre später ist auch Attila Hörbiger tot, der jüngere Bruder, das Oberhaupt der legendären Schauspielerdynastie. Er verstarb am 27. April 1987, wenige Tage nach seinem einundneunzigsten Geburtstag, in seinem Wiener Haus an den Folgen eines Schlaganfalls.
Gewiß, diese Stadt ist reich an großen Schauspielern, nach wie vor. Doch war er der letzte vielleicht, dessen Auftreten uns verzaubern konnte, dessen Bühnenpersönlichkeit genügte, die Zuschauer einen kalten Schauer spüren zu lassen, bevor er noch ein Wort gesagt hatte. Der letzte, den man in einem Atemzug nennen konnte mit Werner Krauß, Raoul Aslan, Albin Skoda, Ewald Balser.
Etwas mehr als ein Jahr vor seinem Tod hatte ich – aus Anlaß seines neunzigsten Geburtstags – das Glück, Attila Hörbiger noch einmal persönlich zu treffen. Das heißt, eigentlich sollte ich ihn gar nicht treffen. Paula Wessely wollte ihren Mann schonen.
Sozusagen als Kompromiß bot sie mir damals, im April 1986, an, mit mir »über ihn« zu sprechen. Ich bin also hingegangen, in die Grinzinger Himmelstraße, habe mit ihr zwei, drei Stunden »über ihn« geplaudert, dann habe ich Papier und Bleistift eingesteckt, um mich mit einem artigen Handkuß zu verabschieden. Fast schon an der Tür angelangt, fragte sie mich: »Wollen Sie ihm vielleicht doch noch ›Guten Tag‹ sagen? Er würde sich sicher freuen.«
Und wie ich wollte. Schließlich war er der Jubilar.
Im Nebenzimmer kam mir Attila Hörbiger, neunzig, auf einen Stock gestützt, entgegen. Und doch: die Haltung kerzengerade, wie wir ihn noch knapp zwei Jahre davor auf der Bühne des Burgtheaters erlebt hatten. Ein wenig schlanker vielleicht, das Gesicht noch kantiger, aber mit dem klaren Blick scheinbar ewiger Jugend gesegnet.
Auch wenn er nicht mehr Theater spielte, vor mir stand unzweifelhaft eine der größten Schauspielerpersönlichkeiten deutscher Sprache. Und aus dem »Guten Tag«-Sagen wurde ein langes Gespräch.
»Was ich bin und was ich habe«, begann er, »verdanke ich der Paula Wessely . . .«
» . . . aber geh, Vater«, unterbrach sie ihn, »du kannst doch nicht sagen ›der Paula Wessely‹. Jetzt, wo wir schon fünfzig Jahre verheiratet sind. Sag Paula, das genügt.«
»Ich mein’s aber so. Nicht meiner Ehefrau allein verdanke ich’s, sondern der großen Schauspielerin Paula Wessely.« Das gefiel ihr noch weniger. »Eine Übertreibung«, warf sie ein. »Was ich für ihn getan habe, war, etwas Ordnung in sein Leben zu bringen. Er hätte es sich vielleicht ein bißl zu leicht gemacht.«
Die kleine Szene, die mir da geboten wurde, war ein Ereignis. Wer erlebt schon eine Privatvorstellung in der Besetzung? Und es berührte menschlich, wie diese beiden Giganten das Verdienst dem jeweils anderen zukommen lassen wollten.
Dabei hatten sie vielleicht beide recht. Ja, sie war schon »die Wessely«, als sie im November 1935 heirateten, denn mit dem Willi-Forst-Film Maskerade, der im Jahr zuvor herausgekommen war, hatte sie ihren ersten Welterfolg bereits hinter sich. Aber auch er war auf dem besten Weg der eigenständigen Karriere. Max Reinhardt hatte ihn im Sommer vor der Hochzeit als Jedermann nach Salzburg geholt.
Attila Hörbiger erzählte gerne von seinen persönlichen Kontakten zu solchen Größen. »Max Reinhardt war die beglückendste Begegnung für uns beide«, sagte er, »aber da waren ja noch so viele andere.« Und er nannte die Dichter Werfel, Zuckmayer, Friedell und Polgar. Die Regisseure Heinz Hilpert, Berthold Viertel, Ernst Lothar und Leopold Lindtberg. »Heute kann ich es genießen, diesen Menschen begegnet zu sein, mit ihnen gearbeitet zu haben, jetzt erst finde ich die Zeit dazu.«
Während er sprach, zeigten mir seine Augen, daß es gerade diese Erinnerungen waren, die ihn jung hielten. Physisch war er damals nicht mehr in der Lage, Theater zu spielen, aber der Geist, die Sprache, die Mimik, die waren noch da. Einmalig, unverwechselbar. Er tröstete sich selbst: »Ich war ja ohnehin sehr lang am Burgtheater.«
Dabei war dieser Weg alles andere als vorgezeichnet, »denn bis zum heutigen Tag habe ich keine einzige Schauspielschule besucht«, gestand er damals, mit neunzig, und er schmunzelte dabei. Das Schicksal hatte ihn zwar mit jeder Menge Talent versorgt, ihm aber auch genügend Hindernisse in den Weg gelegt.
Vorerst war er der Sohn eines berühmten Vaters: Hanns Hörbiger ist der Entdecker der Welteislehre. Dann war er der Bruder eines berühmten Schauspielers – Paul, um zwei Jahre älter, war naturgemäß immer »etwas früher dran«. Ja, und dann war er eben der Mann der Wessely.
Erst nach dem Jedermann war er »kein Sohn und kein Bruder mehr«, formulierte es Hans Weigel einmal, »sondern: der Hörbiger«.
Am 21. April 1896 als jüngster von vier Söhnen geboren, ungarisch sprechend aufgewachsen, inskribierte er nach Matura und Militärdienst an der Hochschule für Bodenkultur. »Ich wollte in die Molkereiwirtschaft gehen«, meinte er allen Ernstes, »aber mein Vater hatte im Ersten Weltkrieg sein ganzes Vermögen verloren, und so war fürs Studium kein Geld da.« Also ging er, wie Bruder Paul, zum Theater, »weil ich bei ihm gesehen hab’, daß man da schnell Geld verdienen kann«.
In Wiener Neustadt, seinem ersten Engagement, spielte Attila noch unter dem Pseudonym Felix Weingart, »um den guten Namen meines Vaters nicht mit dem Theater in Verbindung zu bringen«. Es folgten die Provinzstationen Bozen, Reichenberg, Brünn, Prag – wo er die Paula kennenlernte –, bis er endlich nach Wien und nach Berlin gelangte.
Allein die beiden Rollen, an die er sich damals, mit neunzig, am liebsten erinnerte, zeigen die ungeheure Spannbreite dieses Schauspielers: »Das waren der Nathan und der Knieriem.« Und prompt schüttelte er, egal wie lange es schon her war, seit er die Worte zuletzt gesprochen hatte, den langen, schweren Satz aus Nestroys Lumpazivagabundus aus dem Ärmel, in dem vom Astralfeuer des Sonnenzirkels, der Parallaxe und den Fixsternquadranten die Rede ist, bis er zum berühmten Kometenlied führt: » . . . aber auch der minder Gebildete kann alle Tag’ Sachen genug bemerken, welche deutlich beweisen, daß die Welt nicht mehr lang steht. Kurzum, oben und unten sieht man, es geht auf den Untergang los.«
Und in diesem Moment war er nicht neunzig und nicht achtzig, sondern der kraftstrotzende Knieriem, der er mehr als zwanzig Jahre vor unserem Treffen gewesen war.
Ob seine Figuren von Shakespeare, Schiller, Ibsen oder Raimund waren – er hat ihnen immer Kraft und Leben verliehen. Dem Peer Gynt wie dem Tell, dem Petruchio oder dem Cornelius Melody in Fast ein Poet. »Als Gluthammer hätten Sie ihn sehen sollen«, sagte Paula Wessely, auf Attilas Rolle in Nestroys Der Zerrissene anspielend, »da hat er aus dem Stand aus Zorn einen Salto rückwärts über den Tisch gemacht.« Es war die unvergleichliche Körpersprache des »Naturburschen« Attila Hörbiger, die von Anfang an begeisterte.
Dreingeredet, flüsterte mir Attila Hörbiger schnell, irgendwann zwischendurch zu – als dürfte sie’s nicht hören –, dreingeredet habe sie ihm nie. »Manchmal vielleicht doch«, war die hellhörige Paula Wessely wieder an der Reihe, »wenn man ihm Filmrollen angeboten hat, die nicht seiner Persönlichkeit entsprachen. Da hab’ ich gesagt: ›Mach das nicht, Attila!‹«
»Und recht hat sie gehabt.«
Aber damit nur ja kein Mißverständnis entstand, betonte nun sie wiederum: »Wir haben keine Rollen miteinander erarbeitet – aber im Gespräch zu Hause haben wir vieles gemeinsam überlegt.«
Zu Hause. Er ist ja nicht nur Sohn-Bruder-Ehemann-Schauspieler, sondern auch Vater. Immerhin gibt’s die Töchter Elisabeth, Christiane, Maresa, die dem Namen ihrer Eltern alle Ehre machen. Was sicher keine Kleinigkeit ist. Von der Mutter haben sie natürlich alle viel geerbt, »aber dem Vater verdanke ich die durch nichts zu erschütternde Freude am Leben und die Freude am Spielen«, meint Christiane Hörbiger.
Während Paul Karriere beim Film machte, wurde Attila Hörbiger in erster Linie zum gefeierten Theaterstar. Trotzdem bleiben zahlreiche Filme als Zeugnis einer unvergleichlichen Schauspielerpersönlichkeit erhalten. Deutlich ist darin zu sehen, wie dieser Attila Hörbiger mit jeder Rolle reifer, größer, bewegender wurde. Seinen letzten Auftritt hatte er mit fast achtundachtzig als Firs in Tschechows Kirschgarten am Burgtheater.
Er führte mich damals, kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag, noch durch den wunderschönen Garten und begleitete mich durch den Hof zum schweren Holztor des Grinzinger Hauses, und beim Abschied blinzelte er mir, fast wie ein Lausbub, listig zu: »Sie war immer ein bißl streng zu mir, die Paula.« Und jetzt ließ er, ganz bewußt, den Familiennamen weg, denn er meinte ja die Ehefrau. Und dann sagte er noch: »Aber das war gut für mich, denn dadurch hat sie in mir erst den Ehrgeiz geweckt, der mir gefehlt hat.«
Und diesmal konnte sie gar nicht widersprechen. Weil sie ein paar Schritte vor uns ging.
Ein Jahr später starb Attila Hörbiger. Und in der Stunde seines Todes war niemand mehr da, mit dem er ungarisch hätte sprechen können.