Читать книгу Schuld ist nur das Publikum - Georg Markus - Страница 8
»Ich bitte Sie, um Himmels willen,
lachen Sie über mich!«
ОглавлениеWarum das Publikum schuld ist
Sechsundzwanzig Jahre alt war er damals, der Herr von Goethe, als er in Weimar eine Dilettantenbühne gründete, die sich bald zur Wirkungsstätte von Berufs- und Hofschauspielern entwickeltn sollte. Herr von Schiller unterstützte ihn als Dramaturg, wobei die Dichterfürsten gegenseitig die Werke des jeweils anderen inszenierten.
Während der Generalprobe von Shakespeares Macbeth in der Bearbeitung von Schiller müssen die beiden Herren feststellen, daß Heinrich Voß, der Darsteller der Titelrolle, seinen Text mehr als mangelhaft beherrscht. Während Goethe zornig aus seiner Loge »Der Mann kann ja kein Wort von seinem Text« brüllt, versucht Schiller einzulenken. Überraschenderweise geht die Premiere anderntags, man schreibt den 14. Mai 1800, gut über die Bühne, worauf Schiller zu seinem Regisseur Anton Genast sagt: »Sehen Sie, Genast, ich habe recht gehabt. Er hat zwar ganz andere Verse gesprochen, als ich geschrieben habe, aber er ist vortrefflich!«
Goethe ließ seinen treuen Helfer Johann Peter Eckermann später in 91 Paragraphen »Regeln für Schauspieler« niederschreiben, in denen er auf die Beherrschung der Sprache und der Bewegung (§ 1) ebensolchen Wert legt wie auf »gesteigerte Rezitation« (§ 20) und »Körperhaltung: Brust herausgekehrt, die obere Hälfte der Arme bis an die Ellbogen etwas an den Leib geschlossen« (§ 37). Um schließlich zusammenzufassen: »Alle diese technischgrammatischen Vorschriften mache man sich zu eigen nach ihrem Sinne und übe sie stets aus, daß sie zur Gewohnheit werden. Das Steife muß verschwinden und die Regel nur die geheime Grundlinie des lebendigen Handelns werden.« Wer gegen Goethes Regeln verstieß, mußte in Weimar mit drakonischen Strafen rechnen. Bei Zuwiderhandeln gab es für Schauspieler Stubenarrest, dessen Einhaltung von einer vor der Haustüre postierten Schildwache überprüft wurde!
Naturgemäß ist die Schauspielkunst in jeder Generation neuen Strömungen unterworfen. Einst zählte es zu den edelsten Pflichten des Mimen, sich »durch Verleugnen des eigenen Ichs« der Kunst des Dichters zu unterwerfen. Für den Komödianten und Theaterdirektor Friedrich Haase galt vor hundert Jahren als Kennzeichen des guten Schauspielers, »so weit hinter der Rolle verborgen zu bleiben, daß man oft minutenlang den Spieler nicht erkennt«. Und der Burgschauspieler Josef Lewinsky meinte am Beginn unseres Jahrhunderts: »Wir dürfen nie vergessen, daß wir nur die Diener der Dichter sind, deren Gestalten wir darzustellen haben!«
Ganz anders Max Reinhardt, fündfundzwanzig Jahre später: »Das Heil kann nur vom Schauspieler kommen, denn ihm und keinem anderen gehört das Theater.«
Daß die Stimmen Albert Bassermanns oder Alexander Moissis, auf Platte konserviert, in ihrem übertriebenen Pathos heute schwer verständlich sind, ist nicht deren »Schuld«, sondern liegt an den Strömungen ihrer und unserer Zeit. Lebte Josef Kainz heute, wäre er selbstverständlich modern, knapper, sachlicher, schlichter, würde er »unsere Sprache sprechen«.
»Die Probe hat angefangen«, soll ein Inspizient des alten Burgtheaters einmal gesagt haben, »und schon wird unnatürlich geredet.« Heute wird an Schauspielschulen gelehrt: »Man deklamiert nicht, man rezitiert nicht – man spricht!«
Wien hatte sein erstes »Comödi-Haus« bereits 1651 in der Himmelpfortgasse (auf dem Platz, an dem das Winterpalais des Prinzen Eugen, das heutige Finanzministerium, steht), weitere »Ballhäuser« am Franziskanerplatz und in der Teinfaltstraße folgten. Sie alle waren sehr unsicher gebaut, so daß sich die Stadt Wien 1708 entschloß, am Kärntnertor einen richtigen Theaterbau für Komödianten zu errichten. Josef Anton Stranitzky war sein erster Schauspieler und Prinzipal, dessen berühmte Maxime lautete: »Die Bühne ist so heilig wie der Altar, die Probe wie die Sakristei.«
Weniger »heilig« waren die lasziven Stegreifburlesken, die er aufführte. In die Geschichte der Schauspielkunst ging der von ihm geschaffene Hanswurst ein, der seine Wurzeln im Harlekin der Commedia dell’arte hat. War Stranitzkys Hanswurst noch eine bäuerliche Volkstype, so wurde diese unter seinem Schüler und Nachfolger Gottfried Prehauser zutiefst wienerisch. Seit 1752 in Wien das Extemporieren staatlich verboten wurde – offensichtlich weil man der »frechen« Schauspieler überdrüssig war –, mußten Bühnentexte Wort für Wort niedergeschrieben und von der Zensur »abgenommen« werden. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurden das Theater in der Leopoldstadt, das Theater an der Wien und das Theater in der Josefstadt gegründet, an denen die Wiener Lokalposse entstehen konnte. Ferdinand Raimund und Johann Nestroy waren deren wichtigste Schöpfer und Interpreten. Im Mittelpunkt ihrer Stücke – typisch wienerisch: der Komiker.
Apropos: In der Hierarchie des Theaters gibt es den Ersten und den Zweiten Helden, die Intriganten und jugendlichen Liebhaber, den Bösewicht, die Bonvivants, Offiziere und Aristokraten, die Mütter, Salondamen und Töchter, die Soubrette und die Naive . . ., die allesamt mit unterschiedlichem Status agieren. Vielfach unterschätzt wird aber der Komiker – manchmal gar despektierlich als Vertreter des »Charleytantismus« bezeichnet. Und das, obwohl gerade sein Geschäft, das Publikum zum Lachen zu bringen, zum schwierigsten gehört. »Hanswurst« Prehauser warf sich, als das Publikum am Kärntnertor einmal auf seine Scherze nicht reagierte, auf die Knie und flehte es inständig an: »Ich bitte Sie, um Himmels willen, lachen Sie über mich!« Von einem anderen Komiker, der nicht ankam, sind die Worte überliefert: »Herrschaften, lacht’s bitte. Es hat doch alles so viel gekostet!«
Sind Schauspieler »nur« reproduzierende Künstler oder – wie die Dichter – nicht auch produzierende? Immerhin steht fest, daß der Mime die vom Dichter erfundenen Figuren in seiner Interpretation neu schafft. Wenn drei Schauspieler den Hamlet spielen, dann bringen sie drei grundverschiedene Hamlets auf die Bühne. Oder, wie der dichtende Physiker Georg Christoph Lichtenberg es formulierte: »Wer gut nachahmen kann, ahmt nicht nach!«
In einem Streitgespräch versuchten Josef Kainz und der Schriftsteller Leo Feld (der uns diesen Dialog hinterlassen hat) dieser Frage nachzugehen.
KAINZ: »Die Schauspielkunst ist die edelste Kunst, sie arbeitet mit dem edelsten Instrument, mit dem Menschen!«
FELD: »Der Schauspieler ist an das Wort gebunden, daher ist seine Kunst eine unfreie Kunst.«
KAINZ: »Der Dichter ist auch unfrei. Er ist an die Natur gebunden.«
FELD: »Sie sind ungerecht! Glauben Sie wirklich, daß das Gehirn des Mephisto-Darstellers und das des Mephisto-Dichters gleichwertig sind?«
KAINZ: (springt auf, rennt durchs Zimmer, schreit): »Das ist die interessanteste Frage, die jemals an mich gerichtet wurde. Nehmen Sie meinen Carlos. Der ist mein Persönlichstes, mein Eigenstes, die Rolle, in der ich mich ganz fühle. Also: wenn man eine Gestalt so erlebt und so lebendig macht, alle Äderchen und alle Fäserchen, alle Übergänge und alle Zusammenhänge – die der Dichter gar nicht angedeutet hat –, und wenn der Mensch dann so dasteht, so überzeugend, so zwingend, darf ich dann nicht sagen, daß sich mein Carlos neben den des Dichters stellen darf? Daß in ihm so viel schöpferische Kraft frei geworden ist wie in der Gestalt des Dichters?«
Der Schriftsteller wagte nicht zu widersprechen. Nicht, weil Kainz ihn überzeugt hätte, sondern weil er »die schöne Emphase eines großen Künstlers nicht stören wollte«. Klar in der nie enden wollenden Auseinandersetzung zwischen Dichter und Schauspieler ist nur, wer von den beiden früher da war; das erkannte schon ein Zeitgenosse des im 18. Jahrhundert wirkenden großen Shakespeare-Interpreten David Garrick, als er diesen Zweizeiler verfaßte:
Die Dichter sind der Mimen Väter,
Shakespeare kam erst, Garrick später.
Gerade in der Zeit, als David Garrick in dem von ihm geleiteten Londoner Drury Lane Theatre eine epochale Shakespeare-Renaissance einleitete, erhielt auch Wien ein Bühnenhaus, das bald zum bedeutendsten im deutschsprachigen Raum werden sollte: das 1776 von Kaiser Joseph II. gegründete Hof-Burgtheater.
Der »kleine Mann« freilich kam dort nie hin, er sah nichts anderes als Schmierenkomödianten – Schauspieler, die von einem Dorf zum anderen zogen, in Schuppen und Wirtshäusern auftraten, ehe sie sich, so genügend Talent vorhanden, in die viel angesehenere »Provinz« oder gar in ein städtisches Theater hochspielten. Die soziale Stellung des »fahrenden Volkes« (das eigentlich ein »gehendes« war) beleuchtet eine Episode um Emanuel Schikaneder, der in seinen jungen Jahren bei einer Wanderbühne war:
In der Nähe von Krain bat der spätere Librettist der Zauberflöte nach stundenlangem Fußmarsch, schwitzend und zum Umfallen erschöpft, auf dem Feld arbeitende Bauern um einen Krug Wasser, den man ihm und seinen Kollegen auch reichte. Als kurz danach heftig einsetzender Hagelschlag das Getreide vernichtete, glaubten die Bauern, das Gewitter sei die Strafe Gottes dafür, daß sie »den Komödianten« geholfen hatten. Sie liefen ihnen nach, griffen sie mit ihren Sensen und Heugabeln an, wobei mehrere Mitglieder der Truppe verletzt wurden.
So tief unten im gesellschaftlichen Leben standen die Schauspieler, daß man sich vor einem Kontakt mit ihnen fürchten mußte!
Der berühmteste aller Schmierenkomödianten hat nie gelebt – und doch gab es ihn tausendfach: »Wissen Sie denn überhaupt, was ’ne Schmiere ist?« fragt der sächsische Theaterprinzipal Emanuel Striese in dem Schwank Der Raub der Sabinerinnen. »Ja, ich gebe zu, wir ziehen von eenem Ort zum anderen und meine Schauspieler kriegen fast keene Gage, aber dafür leisten sie mehr als manche Hofschauspieler! Mein erster Heldendarsteller, der früher Schneider war, der macht Ihnen aus ’nem Bettlerkleid ’ne römische Toga, daß Sie keen’ Unterschied merken. Meine Frau kocht für das ganze Ensemble. Magenschmerzen kuriert unser Beleuchter, der früher Apotheker war . . . Und wie anhänglich mir die Leute sind. Meine jugendliche Naive, die bereits achtzehn Jahre bei mir engagiert ist, die legt Ihnen noch heute ’n Gretchen hin, daß der Faust ihr ’n Kind machen muß, ob er will oder nicht. Und der Gute ist auch keen Jüngling mehr, das können Sie mir glauben. Sehen Sie, das wird an eener Schmiere geleistet!«
Immerhin haben Josef Kainz, Werner Krauß, Emil Jannings und Hans Moser auf dieser untersten Stufe des Theaterbetriebs begonnen.
War einst am Theater, auch auf den großen Bühnen, vieles dem Zufall überlassen, so stieg in unseren Tagen der Regisseur aufs Podest, um jeden Schritt, jeden Ton, jede Träne, jedes Lächeln präziser denn je zu kalkulieren. Zum Vergleich: Dauerten die Proben im vorigen Jahrhundert, in der Ära des Burgtheaterdirektors Heinrich Laube, sechs bis acht Tage, so probiert man heute bis zu drei Monaten, ehe man sich an die Premiere heranwagt. Es war Max Reinhardt, der diese Revolution am Theater einleitete.
Was Reinhardt für die deutschsprachige Bühne, das ist Stanislawski für Rußlands Theaterkunst. Der Schauspieler Konstantin Stanislawski (1863 bis 1938) gründete das Moskauer Künstlertheater, dessen Ensemble er als autoritärer Regisseur führte. Er inszenierte Tschechow, Gorki und Turgenjew, wobei es ihm darum ging, daß seine Schauspieler so wirklichkeitsgetreu wie nur irgend möglich »in der Rolle leben«.
Eine Episode macht seine Arbeitsweise deutlich: eine Schauspielschülerin soll Erwartung, Ungeduld, Spannung zeigen. Sie beginnt heftig zu spielen, läuft aufgeregt herum, mimt Verzweiflung, gibt sich große Mühe – und es wird nichts.
Stanislawski schüttelt den Kopf: »Moment mal, ich gebe Ihnen eine andere Aufgabe.« Er nimmt sein Notizbuch aus der Tasche, blättert, sucht. Die junge Schauspielerin steht – wartend – daneben.
»Großartig«, sagt Stanislawski, »jetzt waren Sie gut.«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht.«
»Eben darum. Jetzt haben Sie wirklich gewartet. Halten Sie diesen Ausdruck bitte fest.«
Film und Fernsehen gaben dem Schauspieler des 20. Jahrhunderts ein neues Betätigungsfeld. Dabei war es vorerst verpönt, »für den Kintopp« zu arbeiten. Werner Krauß genierte sich für seinen ersten Film dermaßen, daß er sich einen Bart anklebte, »damit mich der Reinhardt nicht erkennt, wenn er ins Kino geht«. Der war damals auf den Film auch wirklich schlecht zu sprechen. Als Anfang der zwanziger Jahre etliche Theater zusperren mußten, machte Reinhardt – neben Krieg und Wirtschaftskrise – auch das Kino und die »untreuen« Schauspieler dafür verantwortlich: »Durch alle Risse des schwankenden Gebäudes dringt der Film mit seinen materiellen Lockungen und verführt selbst die besten Elemente. Sie verkaufen ihre Seele um viel schmutziges Papier und haben nicht einmal Zeit, den Besitz zu genießen. Sie weisen die größten Rollen zurück, sie verlassen die Proben und kommen abends vollkommen erschöpft und übermüdet zu den Vorstellungen, wenn sie überhaupt kommen.«
Inzwischen haben Film und Theater zwei Kategorien geschaffen, nur in seltenen Fällen agieren Schauspieler da wie dort.
Viele Namen, für alle Zeiten mit der Geschichte des Theaters und des Schauspielerberufs verbunden, wären noch zu nennen. Lessing, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Strindberg, Wedekind und Bert Brecht; die Duse, Gustaf Gründgens und Therese Giehse; Piscator und Leopold Lindtberg; Thomas Bernhard, Wolfgang Bauer, Peter Handke . . . – Dichter, Regisseure, Schauspieler, Kostüm- und Bühnenbildner, Dramaturgen, Kritiker – sie alle machen das Theater aus. Nur sie?
Ach ja, richtig, das Publikum ist auch noch da. Ohne Publikum geht’s am Theater nicht.
Oder doch?
Bayerns Ludwig II. ließ für sich Separatvorstellungen ansetzen. Das Haus war leer, der König saß allein in seiner Loge. Die Schauspieler agierten nur für ihn. Sie sprachen ihren Text, wie an den anderen Abenden auch. Dieselben Akteure, dieselben Worte, dieselben Kostüme und Kulissen, alles war wie immer. Und doch: die Mitwirkenden hinterließen uns, daß ihre Stimmen kläglich dahinschmolzen, daß ihre Bewegungen abbrachen, die Gebärden ausdruckslos im Nichts zerflatterten. Ihren Aktionen fehlte Leben. Die dunkle, menschenleere Höhle, in deren Abgrund sie blickten, verbreitete Kälte, ließ sie erschauern. Sie sprachen ihren Text, aber sie fühlten ihn nicht. Ohne Publikum geht’s nicht, ohne Publikum kann man nicht spielen.
Schuld ist nur das Publikum.