Читать книгу Die Rhetorik-Matrix - Georg Nagler - Страница 11
III. Der Hörer ist das Ziel: Was ein Redner bei seinen Hörern voraussetzen kann – und wie er an sie herankommt 1. Die Interaktion Redner – Hörer
ОглавлениеNachdem wir die wesentlichen modernen Erkenntnisse erarbeitet haben, die dem kommunikativen Denken zugrunde liegen, können wir uns nun der Interaktion zwischen Redner und Hörer/Zuschauer zuwenden. Diese Interaktion heißt Kommunikation. Und auch hierfür gibt es einige wesentliche Grundlagen, die wir als Redner unbedingt kennen sollten: Nur dann können wir wirksam beeinflussen. Sollten Sie dies vertiefen wollen, darf ich Ihnen dazu eine Empfehlung mitgeben: Das deutsche Standardbuch hierzu ist nach wie vor von Friedemann Schulz von Thun „Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation“; es erscheint seit über 30 Jahren mittlerweile in der 54. Auflage (s.a. zu den psychologischen Grundlagen Höhle, Psycholinguistik).
Grundlage der wirksamen Kommunikation ist die Erkenntnis, dass sie auf verschiedenen Kanälen parallel erfolgt. Wir kennen zwei Hauptkanäle: Verbale Kommunikation und nonverbale Kommunikation. Beide Aktivitätsebenen „produziert“ der Redner zur gleichen Zeit und parallel. Und nur dann, wenn beide „Produkte“ authentisch und glaubwürdig parallel beim Zuhörer ankommen, wird dieser den Redner und seine Rede akzeptieren.
Da wir uns der nonverbalen Kommunikation noch später intensiv widmen, zuerst eine Darlegung der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur verbalen Kommunikation. Die verbale Kommunikation ist – wie wir mittlerweile wissen – ein „Gemeinschaftsprodukt“ von unbewusstem System 1 und bewusstem System 2. Diese Kooperation führt letztlich zu vier potentiellen Inhalten einer Rede und damit ihrer Kommunikationsaussage:
1 Die Sachinformation: Hier wird, klar von System 2 überwacht, das mitgeteilt, was sachlich-objektiv vermittelt werden soll.
2 Die Selbstkundgabe: Der Produktion der Sachinformation geht in wenigen Millisekunden in den aktivierten Gehirnteilen eine kaum messbare Fülle von neuronalen Abgleich-, Emotions- und Generationsprozessen voraus, die tief in den unbewussten Teil des System 1 hineinreichen. Damit ist unvermeidlich, dass wir auch viel von dem kundgeben, was buchstäblich „in uns arbeitet“, wie wir zu der mitgeteilten Information stehen: Zuversicht, Konstruktivität, Sorge, Destruktivität, neutrale Einstellung und vieles andere mehr. Wir haben dabei schon drei Instrumente kennen gelernt, die hier reflexiv unsere Einstellung mit beeinflussen: das Priming, das Ankern und das Framing (s.o. S. 31ff.). Dies gilt nicht nur für den Zuhörer, sondern auch für den Redner selbst: Wenn er zum Beispiel einen inhaltlichen Frame/Rahmen setzt, dann gibt er bewusst und auch unbewusst, also auf beiden Ebenen, kund, innerhalb dieses Frames weitersprechen und seine Gedanken an den Hörer vermitteln zu wollen. Gerade die Beeinflussung der unbewussten Gedankenführung darf hier nicht ausgeklammert werden; Frames können sich dabei über die Sprachverarbeitung hinaus sogar auf die Wahrnehmung auswirken (vgl. Wehling mit Beispielen, S. 32f.).Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis: Bei der Besprechung eines studentischen Projektes zur beruflichen Integration von Flüchtlingen ging es um die Frage von Eignungskriterien, die Flüchtlinge für eine Studienrichtung erfüllen sollten. Ich erwähnte dabei scherzhaft ein bekanntes Leitmotto der Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München: „Wir nehmen jeden“, um zu demonstrieren, dass man in einem Studienprojekt eben nicht jeden nehmen könne. Dies führte dazu, dass die Projektleiterin im folgenden Redebeitrag ausführte, welche Eigenschaften sie von ausgewählten Häftlingen (nicht Flüchtlingen!) erwarte. Errötend beschrieb sie mir später die unbewusste Denksequenz, die zu diesem belachten Versprecher führte – der Inhalt der Selbstkundgabe war Abgelenktsein und die Verarbeitung einer persönlichen Erfahrung.
3 Die Beziehungsindikation: Mit der unbewussten Verarbeitung einher geht auch die zumeist unbewusste Verarbeitung, wie das Gehirn des Redners zu Zuschauern und Umwelt steht. Dies kann von neutral und sachlich über wohlwollend bis hin zum Extremfall, der kundgegebenen Angst vor oder der Wut in der Kommunikationssituation reichen. Für den daraus resultierenden Gefühlssturm beim Redner kennen wir auch einen Begriff im Extremfall der Angst: das Lampenfieber (dazu eingehend Kapitel X.3). Wortwahl, nonverbale Signale bis hin zur Tonhöhe: eine Fülle von Parametern wird unbewusst beeinflusst, produziert, aber damit auch für den Zuhörer wahrnehmbar gemacht.Die Kommunikationswissenschaft hat dabei überzeugend herausgearbeitet, wie eine gestörte Einstellung des Redners zum Zuhörer, versteckte Aggressionen, Sorgen und Ängste buchstäblich „zwischen den Zeilen“ durch das unbewusste System 1 des Redners eingearbeitet werden und konsequenterweise auch vom Hörer herausgelesen werden können. Die wichtige und bekannte Analysefrage „Was sagt er – was meint er“ ist zentral mit dieser Beschreibung der Beziehungsebene verbunden.Ein klassisches Beispiel für die Bedeutung der Beziehungsindikation finden wir beim Einstieg in die Rede: Hier ist es ein wesentliches Ziel, die Beziehungsebene zwischen Redner und Hörer vor allem zu Beginn einer Rede positiv zu gestalten. Ein gerade in den USA sehr beliebtes Mittel dazu ist etwa ein selbstironischer witziger Redeeinstieg. Der Redner konzentriert sich nicht auf die Sachinformation, sondern lockert die Atmosphäre dadurch auf, dass er sich selbst auf die Schippe nimmt. Er will damit von der Stufe der Rednerautorität herabsteigen und begibt sich auf eine Ebene mit den Zuhörern, insbesondere um Vorbehalte auszuschalten. Lachen über einen Witz steigert unmittelbar die sogenannte „kognitive Leichtigkeit“ und das Wohlwollen des unbewussten System 1 des Hörers (vgl. Kahneman, S. 93; s.a. unten S. 237). Die Selbstkundgabe und die Gestaltung der Beziehungsebene stehen für den Redner in diesem Moment im unausgesprochenen (!) Vordergrund. Auch die alte römische Rhetorik kannte diese Wirkung – selbst wenn sie von der modernen Kommunikationswissenschaft noch weit entfernt war. Sie verwendete das Stilmittel der „captatio benevolentiae“: Erheische das Wohlwollen des Auditoriums!
4 Die Appell-Ebene: In ihr kommt der Zweck der Kommunikation zum Ausdruck. Ich will den Zuschauer/Hörer zu einem bestimmten Verhalten, zu einer Entscheidung oder Einstellung auffordern.Schon auf der neuronalen Ebene der Redeschöpfung weiß das unbewusste System 1 durchaus, was es will. Es will mehr als nur die Beziehungsebene gestalten, sondern effektiv ein Ziel erreichen. Auf dem erfolgreichen Weg dorthin warten aber viele Hindernisse wie die geschickte Dosierung, die strategische Vorbereitung und die finale Aufforderung.Sicher steht diese Appell-Ebene nicht immer im Vordergrund, etwa bei der sogenannten Anlass- bzw. Festrede – es sei denn, man zählt den (ohnehin erwarteten) Applaus dazu. Bei der Überzeugungsrede hingegen ist die Appell-Ebene ganz klar der wesentliche Inhalt und das angestrebte Ziel des Redners. Dabei ist zu beachten, dass zu viel Appell das Gegenteil erreicht und abstoßend auf den Hörer wirken kann. Sehr leicht kippt die Stimmung, wenn der „Kauf mich, zahl es, zieh in den Krieg“-Appell wiederholt, geradezu stakkatoartig intoniert wird. Wie es richtig geht, werden wir noch sehen.
Worauf soll ich mich als Redner bei diesen vier Ebenen konzentrieren – was soll ich als Zuschauer heraushören? Diese Fragen beziehen sich im Wesentlichen auf unser bewusst denkendes System 2. Seine Aktivität ist energieaufwendig und seine Aufnahmefähigkeit überschaubar – um seine Kapazitäten einzuschätzen, muss man nicht die (angebliche) Unfähigkeit des Mannes zum Multitasking bemühen. Beachten Sie daher unbedingt folgenden Hinweis: Niemand kann auch nur über einen kurzen Zeitraum hinweg alle vier Ebenen gleichzeitig bewusst kommunikativ gestalten oder mitverfolgen.
Die Konsequenz ist klar: Was wir bewusst übermitteln, bezieht sich in der Regel auf ein bis maximal zwei Kanäle von vier Kanälen; der Rest wird unbewusst durch System 1 mitgesteuert. Der Zuschauer verhält sich als Empfänger der Kommunikationsbotschaften genauso. Nur wissen wir in der Regel nicht, ob er sich gerade auch bewusst auf dasselbe konzentriert wie der Redner oder ob es nicht ein anderer Kanal ist. Daher sollte zumindest die unbewusste Mitsteuerung der sonstigen Mitteilungskanäle des Redners synchron verlaufen! Sonst fällt dem Zuhörer womöglich auf, dass zwischen dem bewussten und dem unbewussten Auftreten eine Diskrepanz besteht. Bedenken Sie, dass gerade dies unbewusst Misstrauen, Unglauben und Skepsis im Hörer hervorrufen kann. Er spürt intuitiv, dass etwas nicht stimmt. Der weitverbreitete Appell von Redetrainern: „Seien Sie natürlich, seien Sie authentisch“ setzt hier an. Wie wir das effektiv umsetzen, werden wir noch sehen.