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»Denkmal für die ermordeten Juden Europas« von Peter Eisenman
ОглавлениеMit der Aussage, es handele sich um ein »offenes Kunstwerk«, übergab der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 10. Mai 2005 das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« der Öffentlichkeit. In kürzester Zeit wurde dieses begehbare erste Nationaldenkmal der ›Berliner Republik‹ ein besonderer Anziehungspunkt für Schulklassen und unzählige Berlin-Reisende aus aller Welt ( Abb. 1). Wer unter dem Brandenburger Tor hindurch läuft, begibt sich auch zum südlich hiervon gelegenen Mahnmal, das ursprünglich vom US-amerikanischen Bildhauer Richard Serra gemeinsam mit seinem Landsmann Peter Eisenman geplant wurde. Nachdem sich Serra 1998 vom Wettbewerbsbeitrag zurückzog, überarbeitete der dekonstruktivistische Architekt Eisenman den Entwurf. Denn in der Öffentlichkeit war Kritik am Monumentalismus des Wettbewerbsmodells laut geworden (vgl. »Kunst+Unterricht« 227/1998, S. 24). Übrig blieben 2711 Beton-Pfeiler (Umriss einer Stele: 95 x 238 cm), zwischen denen 54 x 87 im rechten Winkel zueinander organisierte Pfade hindurchführen. Zudem wurden 41 Bäume auf das wellenförmig angelegte 19.000 m2 große Areal gepflanzt (www.holocaust-mahnmal.de).
Abb. 1: Peter Eisenman (*1932): »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, Berlin, fertiggestellt 2005, im Hintergrund (Mitte) das Reichstagsgebäude sowie das Brandenburger Tor (Foto: Georg Peez)
Alle Besuchenden müssen zu diesem offenen, Tag und Nacht begehbaren Kunstwerk Position beziehen – im wörtlichen und übertragenen Sinne. Wer am Rande des Stelen-Feldes ankommt, wird unwillkürlich »hineingezogen«. Am Anfang sind die dunkelgrauen Betonpfeiler noch überschaubar niedrig. An manchen Stellen im äußeren Bereich des Mahnmals ähneln sie eher dunklen, auf dem Boden liegenden Grabplatten. Ab und zu sind einzelne Blumen und Steine auf ihnen abgelegt. An anderen Stellen kann man sich auf ihnen sitzend niederlassen. Das uneben verlegte Pflaster unter den Füßen verunsichert beim Laufen: Es führt zunächst zur Mitte des Feldes hin leicht abwärts. Die Stelen werden schnell höher, bis zu viereinhalb Meter. Sie scheinen – teilweise leicht schräg stehend – bedrohlich aus dem Boden zu wachsen, nehmen das Licht. Sie schlucken die Geräusche der Umgebung. Beim Durchschreiten wird man überrascht von anderen Menschen, die ebenfalls auf den schmalen Pfaden laufen, die die strenge Ansicht jeweils für wenige Sekunden verändern. Ihre Wege kreuzen sich mal näher, mal weiter entfernt mit den eigenen. Aber schnell ist man wieder alleine, biegt um eine Ecke und sieht andere Fremde. Diese begehbare Skulptur spricht in den engen Gängen die Einzelbesuchenden an, isoliert sie, ermöglicht ihnen eine kontemplative Besinnung auf sich selbst. Distanz ist zugleich in der Enge nur schwer möglich.
Peter Eisenman sagt, das Holocaust-Mahnmal solle ein »dauerhaftes Gedächtnis« an die sechs Millionen von Deutschen ermordeten Juden schaffen. Doch die Besuchenden überprüfen diese Aussage: Kann das zwischen Landart, abstrakt-minimalistischer Skulptur und Denkmal changierende Kunstwerk das leisten, was Eisenman vorgibt? Das Werk ist offen, ungewiss und deshalb sehr unterschiedlich zu erfahren und auszulegen. Erinnert die Tatsache, dass man zwischen den Stelen schnell allein ist, an die Isolation der Opfer? Soll und kann das Mahnmal Mitgefühl wecken? Oder assoziiert man die perfekt geordnete ›kalte Grammatik‹ der unpersönlichen Betonpfeiler, die ein wenig an Nazi-Architektur erinnern, mit der Gewaltherrschaft des Dritten Reichs? Oder ist es doch eher eine Stadt der Toten, ein Gräberfeld, auf dem die Namen fehlen?
Persönliche Eindrücke, historisches Wissen, kunsthistorische Assoziationen, eigene Körperempfindung, Gefühle und ästhetische Erfahrungen ( Kap. 1.3) beim Durchschreiten bilden für viele Berlin-Besuchenden eine eigentümliche Gemengelage, die sich nicht auflösen lässt, sondern ihre Wirkung meist eindrücklich entfaltet. Eine ›Handlungsanweisung zum Erinnern‹ wird weder vom Kunstwerk noch vom Künstler mitgeliefert. Muss uns dieses Werk etwas Bestimmtes sagen? Es ist ja schließlich ein Denkmal. Sollte Kunst heute eine klare Aussage treffen, etwas vermitteln? Oder muss Kunst mittels der ästhetischen Erfahrung, die sie auslöst, »ein Bewusstsein der Offenheit von Gegenwart« (Seel 2007, S. 66) herstellen, weil ihre Bedeutung sowieso stets individuell konstruiert wird?
Eisenman lehnt jede Deutung seines Werks ab: Es solle nichts symbolisieren, keinen Friedhof, keine Totenstadt, kein Kornfeld, es solle auch kein Gegenbild zu den ineinander verkeilten Eisschollen in Caspar David Friedrichs Gemälde »Gescheiterte Hoffnung« von 1822 sein. Das Leiden derer, an die es erinnere, habe ihn zum Schweigen bewogen. Lediglich Einzigartigkeit war Eisenmans Ziel: einen Ort zu gestalten, der wie kein anderer auf der Welt ist. Denn nie zuvor habe es auch einen Holocaust gegeben.
Durch die performativen Eigenschaften ( Kap. 3.3) dieses Mahnmals wird der Begriff des Denkmals dekonstruiert: Es regt zum Denken an, ohne einen Gedanken vorzuschreiben. In diesem Sinne ist das eigentliche Denkmal die Diskussion hierüber. Der bebaute Raum ist demnach Anlass dafür, das Denkmal im sich immer wieder erneuernden Diskurs zu schaffen und weiterzuentwickeln; ein Diskurs, der lange vor der Errichtung begann, 1988, als Deutschland noch geteilt war und als eine Bürgerinitiative um die Journalistin Lea Rosh begann, ein Holocaust-Denkmal für die ehemalige Hauptstadt des faschistischen Deutschlands zu fordern.
Ob Anstoß, Ablehnung oder Zustimmung: Eisenman hat das erreicht, was ein Kunstwerk erreichen kann: über die bildnerische Form und über die ästhetische Erfahrung ( Kap. 1.3) zum selber Denken und zum Disput anzuregen (vgl. »Kunst+Unterricht« 316/2007). Denn hier findet keine Vermittlung von festgelegten Ideen und Inhalten statt – zumindest oberirdisch. Aus der Furcht heraus, dass solche Offenheit zur Beliebigkeit führe, war ein Ergebnis der jahrelangen Diskussionen, dass unter diesem Areal ein »Ort der Information« geschaffen wurde. Hier wird in vier ausstellungsdidaktisch geplanten Räumen eindrücklich an die Opfer erinnert, etwa indem unablässig die Namen von 800 ermordeten Juden genannt und deren Schicksale geschildert werden.