Читать книгу Einführung in die Kunstpädagogik - Georg Peez - Страница 14
1.3 Konsens im Fach – Ästhetische Erfahrung und Bildkompetenz
Оглавление»Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen – in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts« (Kirchner/Otto 1998, S. 1). Mit diesen Worten charakterisierten Constanze Kirchner und Gunter Otto eine noch gültige Hauptaufgabe heutiger Kunstpädagogik. Diese Aufgabe besteht nicht in der Vermittlung von Kunst, sondern kunstpädagogische Grundintentionen zielen ab auf die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen im Bildnerischen. Ästhetische Erfahrungen lassen sich sowohl produktiv im eigenen bildnerischen Gestalten ( Kap. 4.1 und Kap. 4.2) als auch rezeptiv, etwa in der Kunstbetrachtung ( Kap. 4.3), aber auch im Alltag »in Ereignissen und Szenen« machen, »die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und, während er schaut und hört, sein Gefallen hervorrufen« (Dewey 1934/1980, S. 11), so der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in seiner Sammlung von Vorlesungstexten »Art as Experience« aus dem Jahre 1934. Auf diese Grundaussagen Deweys bezieht sich die deutsche Kunstpädagogik häufig. Ästhetische Erfahrungen können als Erfahrungen der Diskontinuität, der Differenz zum bisher Erlebten gelten (Mattenklott/Rora 2004). Sie überschreiten das mittels unserer Wahrnehmung Erwartbare und »erzeugen Risse in der gedeuteten Welt« (Seel 2007, S. 59). In dieser »Schwellenphase« werden »kulturelle Spielräume für Experimente und Innovationen eröffnet« (Küpper/Menke 2003, S. 140).
Strukturmomente von ästhetischer Erfahrung sind zusammengefasst, chronologisch geordnet von der ersten Aufmerksamkeit bis zur Mitteilung und abgeleitet aus den oben genannten Literaturquellen:
• Aufmerksamkeit für Ereignisse und Szenen, die Gefallen und Interesse wecken und hierdurch unmittelbares Spüren der Wahrnehmung bedingen;
• Offenheit und Neugier;
• Versunkensein und emotionales Involviertsein im Augenblick;
• Genuss der Wahrnehmung selbst und hiermit verbundenes Lustempfinden (nicht nur angenehm, sondern auch verstörend oder erschaudernd);
• Spannung und Überraschung, die Staunen vor dem wahrgenommenen Phänomen auslösen können;
• Erleben von Subjektivität und Individualität im Wahrnehmungsprozess;
• Anregung der Fantasie durch Entdeckung von neuen Assoziationen zu scheinbar Bekanntem und Gewohntem;
• Reflexion über die eigene Wahrnehmung und deren Prozesshaftigkeit mit hierdurch bedingter nötiger Distanz zum eigenen Wahrnehmungserleben, zum Abschluss der ästhetischen Erfahrung;
• Voraussetzung für die Reflexion sind Wissen und Einsicht, die sich aus früherer Wahrnehmung und Erfahrung ergeben;
• In-Beziehung-Setzen der eigenen ästhetischen Erfahrung mit kulturellen und künstlerischen Produkten;
• Festhalten der ästhetischen Erfahrung in ästhetischer Produktion;
• Mitteilen dessen, was die ästhetische Aufmerksamkeit erregte (kommunikativer Aspekt).
Deweys Auffassung steht in Opposition zu ästhetik-philosophischen und bildungstheoretischen Standpunkten, beispielsweise des Kunsthistorikers Gottfried Boehm, der es für die ästhetische Erfahrung als kennzeichnend ansieht, dass ihre Eingliederung ins Pädagogische nicht nur in Frage zu stellen sei, sondern dass die Idee einer natürlichen Annäherung von Kunst und Pädagogik ein fragwürdiges Unternehmen bleibe (Boehm 1990, S. 471). Für Boehm ist ästhetische Erfahrung nur an Kunstwerken bzw. in Verbindung mit Kunstwerken zu gewinnen. Die sich gegen einfache Erklärungen wehrende zeitgenössische Kunst – wie etwa die Erwin Wurms ( Kap. 1.1) – errichte eine schwer überwindbare Barriere gegenüber jenen Versuchen, sie zum Instrument ästhetischer Erziehung zu machen.
Doch ihre Beziehung zur bildenden Kunst ist für die Kunstpädagogik zwar zentral, aber nicht allgegenwärtig. Ästhetische Erfahrungen sind für die Kunstpädagogik nicht das Mittel zum Zweck der Kunsterfahrung. Ästhetischen Erfahrungen kommt ein hiervon unabhängiger Wert an sich zu. Aber Kunsterfahrung ist ohne zuvor erfolgte ästhetische Erfahrungen im Alltag nicht möglich. »Die Erfahrung der Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst – und hier gerade von ästhetischen Erfahrungen in den Räumen der Stadt und der Natur, in denen die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinander geraten« (Seel 2007, S. 66) (Zu den philosophischen Wurzeln der ästhetischen Erfahrungen und ihrem Verständnis heute vgl. Tatarkiewicz 2003, S. 448ff.; Küpper/Menke 2003). Unser Wahrnehmungsverhalten bildet sich mitgängig und muss deshalb im Kunstunterricht thematisiert und geschult werden. Ästhetische Erfahrungen und Empfindungen erleben zu können, ist ein Teil unserer »Grundausstattung«, so der Kunstpädagoge Gert Selle, sie werde von Künstlerinnen und Künstlern lediglich intensiver genutzt und sensibler entwickelt (Selle 1988, S. 30).
Jede ästhetische Erfahrung enthält eine zweifache Orientierung: Zum einen sollte sie auf die sinnlichen Anteile der Wahrnehmungen und Empfindungen gerichtet sein. Zum anderen sollte dem Spüren und Wahrnehmen ein Sinn gegeben werden: Es geht um Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Auslegen und Deuten; wie etwa bei Peter Eisenman ( Kap. 1.1). Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, wenn wir ihr gewahr werden, wenn wir die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und auslegen, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch. Ein solches ›Sinn-Bewusstsein‹ muss nicht in Worte gefasst werden, es sollte aber reflexiv verfügbar sein.
Kunstpädagogik geht davon aus, dass im Alltag und in der Sozialisation durch Umwelterfahrungen nicht genügend Situationen geboten werden, in denen ästhetische Erfahrungen in den angesprochenen Dimensionen in ausreichendem Maße und tiefgreifend zu machen sind; ästhetische Erfahrungen, die auch grundlegend für Bildungsprozesse sind (Kämpf-Jansen 2001, S. 153ff.). Für die Entwicklung (selbst-)kritischer und selbstbestimmter ästhetischer Entscheidungen sind Impulse, Gegenerfahrungen und Irritationen erforderlich.
Zugleich hat sich in den letzten Jahren Schul- und Bildungspolitik immer stärker einer Kompetenzorientierung verschrieben. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) erließ Empfehlungen mit Kompetenz-Auflistungen für alle Schulfächer, zusammengefasst in so genannten Bildungsstandards. Bildungsstandards greifen laut KMK »allgemeine Bildungsziele auf und legen fest, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen. Die Bildungsstandards konzentrieren sich auf Kernbereiche eines Faches und beschreiben erwartete Lernergebnisse« (KMK 2004, www.kmk.org) ( Kap. 5.1). In eine solche Vorstellung von Bildung als »erwartete Lernergebnisse« passt ästhetische Erfahrung freilich nicht hinein.
Um der Gefahr entgegen zu wirken, dass das Schulfach Kunst ohne Bildungsstandards und Kompetenzauflistung dastehen könnte und dann plötzlich kein aktuell legitimierbares Schulfach mehr sei, verabschiedete die Hauptversammlung des BDK, Fachverband für Kunstpädagogik ( Kap. 9.1.1), die Formulierung facheigener Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss (also bis zur Klasse 10) – veröffentlicht in den »BDK-Mitteilungen« (3/2008, S. 2–4). Hier fällt nicht nur die bürokratische Sprache auf, sondern auch die Vorgehensweise wirkt sehr geregelt. So heißt es etwa im zentralen Bereich des Faches, der bildnerischen »Produktion«: »Herstellen
• Arbeitsprozesse in einzelnen Arbeitsschritten planen, strukturieren und organisieren
• das Arbeitsumfeld sachgerecht organisieren
• bildnerische Verfahren, Techniken und Medien erproben und strategisch sinnvoll verwenden« (ebd., S. 4).
Oder: »Gestalten (…)
• eigene bildnerische Lösungen dokumentieren und reflektieren
• kreativ und strukturiert bei der Gestaltung von Bildern vorgehen« (ebd.). Was aber bedeutet eigentlich »kreativ und strukturiert« konkret? Kontroverse Diskussionen werden hierzu geführt.
Zwar betont der BDK, dass die »Standards – auch im Fach Kunst – nicht die gesamten, komplexen Bildungsmöglichkeiten des Fachs umfassen« (ebd., S. 2), gemeint sind etwa die Potenziale der ästhetischen Erfahrung. Doch lässt sich langfristig am starken Echo in der Fachdiskussion absehen, dass die ästhetische Erfahrung als Ziel und bisheriger weitgehender Konsens des Faches inzwischen häufig von der Kompetenzdiskussion überlagert wird. Somit stehen »ästhetische Erfahrung« und »Bildkompetenz« nebeneinander (Grünewald 2009, S. 17; Kirchner 2009, S. 53). Neue, zumindest bildungspolitisch ausgerichtete Fachlegitimation wird langfristig offenbar die »Bildkompetenz« werden ( Kap. 5.1). Denn die »Bildkompetenz« ist in den ministerialen Bildungsstandards fest verankert, und sie hat Potenziale eines Alleinstellungsmerkmals gegenüber anderen, ebenfalls kompetenzorientierten Schulfächern.
»Bildkompetenz« mit ihren rezeptiven und gestalterisch-praktischen Anteilen differenziert Rolf Niehoff in sechs sich durchdringende Teilkompetenzen, die im Kunstunterricht zu fördern sind:
• »Bildstrukturale Dimension«: »Schüler können Bilder als komplexe gestaltete Phänomene wahrnehmen, untersuchen und gestalten.«
• »Bildinhaltliche Dimension«: »Schüler können Bilder als komplexe Form-Inhalt-Gefüge wahrnehmen, untersuchen, deuten und gestalten.«
• »Biografische Dimension«: »Schüler können Bilder – durch ihre Hersteller sowie durch ihre jeweiligen Betrachter subjektiv-biografisch bedingt – wahrnehmen, untersuchen und deuten.«
• »Komparative Dimension«: »Schüler können Bilder als spezifische Zeichensysteme von anderen spezifischen Zeichensystemen der menschlichen Kommunikation unterscheiden.«
• »Crossmediale Dimension«: »Schüler können Bilder unterschiedlicher Sorte und medialer Provenienz sowohl rezeptiv als auch gestalterisch in Wechselbeziehungen bringen.«
• »Bildgeschichtliche Dimension«: »Schüler können Bilder als historisch-kulturelle Kontexte determiniert wahrnehmen, untersuchen und deuten.« (Niehoff 2009, S. 38; u. a. aufgegriffen von Loffredo 2014, S. 16f. und Bering u. a. 32013, S. 65)
Diese operationalisierbar klingende Aufzählung macht nochmals deutlich, dass es sich in Bezug auf die Bildkompetenz lediglich um einen Teilbereich der Kunstpädagogik handeln kann, Kunstbezüge und Bezüge zur ästhetischen Erfahrung und ästhetischen Bildung ( Kap. 2.13) müssen explizit geknüpft werden, um die fachlichen Möglichkeiten umfassend erfassen und ausschöpfen zu können.