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»Ein Kommunikationsraum« von Christine und Irene Hohenbüchler in Zusammenarbeit mit der Kunstwerkstatt Lienz
ОглавлениеAuf den Böden eines weißen, etwa 1,70 m hohen Regals lagen viele Objekte, denen man bereits von Weitem ansah, dass sie mit etwas handwerklichem Ungeschick hergestellt worden waren: kleine figürliche Darstellungen von Phantasietieren aus Keramik; eine selbstgehäkelte Mütze; mehrere etwa handgroße, meist bunt glasierte Keramikschalen und -gefäße; einige mit Ornamenten grell bemalte Frottee-Handtücher; das Porträtfoto einer lachenden Frau, welches nachträglich durch Wachsmalkreide mit Mustern bunt verziert und auf ein Stück Pappe aufgeklebt war.
Dies alles war im Sommer 1997 in einem großen, hellen Raum der documenta X zu sehen, dem »Museum der hundert Tage« für zeitgenössische Kunst in Kassel. Am Eingang dieses Raumes hing an der Wand ein kleines Schild: »multiple autorenschaft. Christine & Irene Hohenbüchler in Zusammenarbeit mit Kunstwerkstatt Lienz. Ein Kommunikationsraum. 1996–1997«. Weitere schriftliche Angaben zu den Ausstellungsobjekten wurden nicht gemacht.
Diese Objekte waren auf ungewöhnlichen Möbeln präsentiert ( Abb. 3): An der Rückwand eines halbrunden, mitten im Raum stehenden, mit Ausstellungsobjekten bestückten Regals befand sich eine Sitzbank. Eine andere Konstruktion sah aus wie ein hoher Stuhl mit einer viel zu kurzen Lehne bzw. wie ein niedriger Schreibsekretär. Diese Stellage wurde als Präsentationstisch für einen Ringbuchordner mit in Prospekthüllen eingelegten Zeichnungen genutzt. Zwei Besuchende standen an diesem »Tischchen« und blätterten im Ordner. Sie unterhielten sich hierbei. Auf einem anderen Tisch stand ein Computer, auf dessen Bildschirm Grafiken aufgerufen werden konnten: Darstellungen eines Feuerwehrautos, eines Lastwagens, eines Hauses, einer Landschaft. An einer Wand stand eine ca. 1,50 m hohe Konstruktion aus Drähten, an denen mit greller Farbe bemalte Badeanzüge, Badehosen, mehrere Schwimmreifen und eine große aufgeblasene Plastikente präsentiert wurden.
Die Zwillingsschwestern Christine und Irene Hohenbüchler, 1964 in Wien geboren, arbeiten seit Jahren mit Menschen zusammen, die u. a. in Nervenheilanstalten oder in Gefängnissen untergebracht sind. Die auf der documenta X ausgestellten Werke wurden von ihnen gemeinsam mit 20 geistig Behinderten in einem Zeitraum von zwei Jahren in der »Kunstwerkstatt« der »Nervenheilanstalt Lienz«, Osttirol in Österreich, geschaffen. Durch diese projekt- und werkstattorientierte künstlerische Kooperation entstanden verschiedene Werke mittels unterschiedlichster Herstellungsverfahren und Materialien, die die Geschwister Hohenbüchler zum Gesamtwerk, dem »Kommunikationsraum«, zusammenfügten.
Abb. 3: Christine und Irene Hohenbüchler (*1964), multiple Autorenschaft: Ein Kommunikationsraum, verschiedene Materialien und Medien, 1996/97. Resultate kollektiver Arbeiten in der »Kunstwerkstatt Lienz« mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Nervenheilanstalt Lienz, Osttirol, Österreich
Christine und Irene Hohenbüchler sind weder Kunstpädagoginnen noch Kunsttherapeutinnen, sie sind sowohl in ihrem Selbstverständnis als auch im kunsttheoretischen Kontext durch ihre Teilnahme an der documenta X anerkannte Künstlerinnen. Auf vergleichbare Weise wie die Geschwister Hohenbüchler arbeiten gegenwärtig eine Anzahl zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler prozesshaft direkt in pädagogischen Zusammenhängen. In der Kunsttheorie wird gar gemutmaßt, dass sich langfristig künstlerisches Tun von der Bereitstellung ästhetischer Produkte zum Angebot ästhetischer Tätigkeiten für Menschen, die im weitesten Sinne etwas gestalten wollen, verschieben könnte. Diesen Kunstschaffenden ist ein zentraler Aspekt künstlerischen Arbeitens gemeinsam: Sie integrieren kunstpädagogische Handlungsweisen in ihre Kunstäußerungen und erweitern den Kunstbegriff hierdurch. Sie bearbeiten die Grenze zwischen Pädagogik und Kunst. Gerade durch die von ihnen ausgelöste Irritation an der Grenze zum pädagogischen System erfahren die Geschwister Hohenbüchler Aufmerksamkeit und Akzeptanz im Kunstsystem.