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Erstes Kapitel: Der erste Mai des Jahres 1626.
ОглавлениеDas Rathaus, dies ehrwürdige Gebäude, jetzt noch eine der vornehmsten Zierden Rothenburgs wie einst der Mittelpunkt seiner Geschichte, erhebt sich auf dem Marktplatze, dessen ganze westliche Länge es bekleidet. Nicht ohne Stolz geht noch heute der Enkel an diesem Denkmal vorelterlicher Herrlichkeit, an den ehrwürdigen Hallen vorüber, in denen einst der ehrsame Rat das Steuer des kleinen Staatsschiffes handhabte. Über diese langen, steinernen Stufen, durch diese — nunmehr mit Kramladen besetzte Vorhalle schritten damals die Senatoren jene Wendeltreppe hinan, von deren Höhe noch immer der riesige Doppeladler wie schirmend herabsieht in den schönen altertümlichen Saal, dessen aus Stein gehauene Sitze rings an den Wänden der Südseite sie zu ernster Beratung einnahmen.
In diesem geräumigen Saale regte sieh alljährlich mit der frühesten Morgenstunde des ersten Maitages ein gar seltsamliches Leben. Der erste Mai, jener im deutschen Volksbewusstsein durch urdenkliche Erinnerungen gefeite Tag war für die Stadt Rothenburg zugleich der Zeitpunkt, an welchem sich noch vor dem ersten Morgengrauen Rat und Bürgerschaft versammelten, um die Wahl und die Verteilung der reichsstädtischen Ämter entweder zu bestätigen oder zu erneuern und um sich sodann gegenseitig auf die Verfassung zu vereidigen.
Man schrieb den 1. Mai des Jahres 1626. Der Wächter des Rathausturmes hatte kaum mit seinem Hammer die zweite Stunde nach Mitternacht, oder nach der dortigen eigentümlichen Uhr „Drei gen Morgen“ geschlagen, als auch schon der schrille Ton seiner Glocke die gesamte wahlfähige oder mit irgend einem Dienste bekleidete Bürgerschaft zu jener wichtigen Feier in den Rathaussaal beschied.
Ernste Stille lag auf der zahlreichen Versammlung. Aller Augen waren dabei nach der Tiefe des Saales gerichtet, wo der edle Rat innerhalb eines kleineren Raumes, den ein steinernes Geländer einfasste, so eben die Verpflichtung der obersten reichsstädtischen Würden vornahm. Zwei der Ehrwürdigen fesselten dort allernächst die Aufmerksamkeit. Der Eine derselben, im Begriff, mit kurzen, schlichten Worten die Leitung des Staatsruders in die Hände seines zeitweiligen Nachfolgers niederzulegen, war ein Mann, an welchem die Natur dasjenige, was sie an ihm nach der Höhe hin auszubauen versäumt hatte, mehr und mehr in reichlich bemessener Rundung nachzuholen strebte. Diese Verkürzung seiner Person nach oben hin, vielleicht eben deshalb bemerklicher, weil sie zugleich mit einer so respektablen umkreislichen Ausdehnung zu konkurrieren hatte, suchte der brave Mann — sonderlich da, wo es seine bürgermeisterliche Würde zu vertreten galt, durch eine umso strengere Haltung des Oberleibes und vorzugsweise durch die möglichst emporgehobene Richtung seines Hauptes auszugleichen, — eine Stellung, die jedoch Niemand, der den freundlichen Herrn näher kannte, für Stolz nahm. Vielleicht zu demselben Zweck trug er sein dichtes, graulich gemischtes Haar aufwärts gesteift; und mit Zuhilfe all dieser Kunstmittel gelang es ihm denn auch, in seiner gesamten Figur. Einen Mann des stattlichsten Ansehens, einen vollkommen würdigen Repräsentanten des kleinen Freistaates darzustellen. Seine Augen, obgleich den Ausdruck gemütlichen Wohlbehagens nie verleugnend, belebten sich in dem gegenwärtigen feierlichen Momente mit dem Feuer eines schönen Selbstbewusstseins, welches sich dann auch weiter über das mannhaft gerundete Antlitz bis zum Knebelbart nieder und selbst in die ziemlich lebhaft vorstehende und etwas gerötete Nase ergoss.
Das war der Senator Georg Rasch, der heute die Regierung in die Hände seines Nachfolgers niederlegte, um seinerseits unter dem Ehrentitel eines Altbürgermeisters für die nächste Periode die Stelle eines Reichsrichters im innern Rat einzunehmen.
Im interessanten Gegensatz erhob sich neben ihm die Gestalt des neuen regierenden Bürgermeisters — Johann Bezold. Dem Anscheine nach ein angehender Sechziger von etwas mehr als mittlerer Größe ließ er in der leicht vorgesenkten Haltung seines Oberleibes und der schmächtigen Brust weder eine besondere körperliche, noch in den tief liegenden, zuweilen wie schlummernd sich schließenden Augen eine erhebliche geistige Kraft erkennen. Die weißen Haupthaare lagen dünn und schlicht gekämmt um eine hohe, so zu sagen trockne Stirn; selten verzog ein flüchtiges Lächeln die dünnen Lippen oder glättete die strengen Falten seines vergilbten Gesichtes. Es bedurfte eines mächtigeren Hebels als die alltäglichen Ereignisse, um die nur scheinbar versiegte Kraft in ihm zu voller Tätigkeit anzufachen, und diese Weckung fand er in allen Fragen, welche das Wohl und die Blüte des kleinen Freistaates oder aber das Gebiet seiner eignen religiösen Überzeugungen berührten. Dazu boten die damaligen Zeiten mehr als genügenden Anlass. Wie er sich stets mit Stolz bewusst blieb, dass sein Geschlecht von jeher eine der kräftigsten Stützen und Träger der protestantischen Interessen gewesen war, so hoffte er dereinst in seinem Namen der Geschichte seiner Vaterstadt ein ebenso leuchtendes Beispiel von Glaubenstreue und Glaubensmut hinterlassen zu können. Mit vorzugsweiser Teilnahme wandte er sich daher Denjenigen zu, die in jener Zeit harter religiöser Verfolgungen bei dem — der neuen Lehre zugetanen Freistaate gegen kirchliche Bedrückungen Schutz zu suchen kamen, und so wie er als ein Muster sittlicher Strenge gegen sich selbst gelten konnte, so machte er auch wie weit sein Arm reichte, bis zum Anschein von Härte die Reinhaltung seiner kirchlichen Grundsätze geltend. Wie Alle, die mit dem Ernst ihrer Glaubensansichten nicht auch die nötige Milde zu paaren vermögen, war er daher in den Augen seiner Mitbürger mehr ein hochgeachteter, gewissermaßen gefürchteter, als ein volkstümlich beliebter Mann.
Er also war es, der soeben die Vorstandschaft des innern Rats angetreten hatte.
Allgemeines Schweigen begleitete den wichtigen Staatsakt; erst nach einigen Augenblicken regte sich in einer Gruppe von Bürgern, die am Eingang des Saales der Verhandlung zusahen, ein äußerliches Zeichen der Teilnahme an dem, was vorgegangen.
„Es ist drum Schade“, flüsterte aus der Mitte der Umstehenden ein Mann von langer hagerer Figur nach seinem Nachbar, dem Grobschmied Klinger, indem er dabei die dunkelgebräunte Hand zur Dämpfung der Stimme nach den Lippen führte. „Es ist drum Schatze, dass unser nunmehriger Reichsrichter nicht noch eine Weile am Ruder geblieben. Aller Orten im Reiche Gefahr. und Not! Solche Zeiten erfordern einen Mann so fest und stattlich wie Herr Nusch,
„Ei, Vetter Thoms,“ entgegnete statt des Angeredeten die feine wisperne Stimme des Schneidermeisters und Zunftvorstehers Tobias Horn, seiner ausgezeichnet bedachten Nase wegen gewöhnlich Nashorn genannt — auch schon auf dem Platze, obgleich der Lammwirt erst vor wenig Stunden stille Nachtgeboten? — „Nichts für ungut“, dass ich dazwischenrede. Was aber eure Meinung von der Person des regierenden Bürgermeisters anbelangt, so bedünkt mich, dass Herr Senator Bezold, welchen heut die Reihe traf, keinem seiner Vorfahren an Würde, Klugheit und Erfahrung nachsteht; wenn ihm aber jener weidliche Umfang gebricht, den Dieser oder Jener voraus hat, so gereicht ihm dies am wenigsten zur Unehre. Ein christlicher Vorgesetzter hat der guten Bürgerschaft vor allem auch im rechten Maß von Speis und Trank und in Nüchternheit ein löblich Beispiel zu geben.“
Die letzten Worte betonte der Schneider etwas schärfer und nicht ohne einen stechenden Seitenblick auf seinen Nachbar linker Hand, indem er dabei, um mit den Augen über die etwas hinderliche Nase hinüber zukommen, mit seiner rechten Brauen eine merkwürdige Bewegung machte.
Derjenige, aus welchen sich ein wesentlicher Teil dieser Bemerkung zu beziehen schien, war ein Mann von mehr als gewöhnlichem Körpermaße. Unter seinem borstig emporstrebenden, kurz geschornen Haar dehnte sich eine niedrige, aber breit in die Quere gezogene Stirn aus, beschattet von waldig finstern Brauen, hinter denen die kleinen, von einem frisch genossenen Trunk Weines noch überschwänglich seligen Augen gleichsam Versteck spielten; denn sie schlossen sich nicht selten etwas länger als nötig gewesen wäre, um sich vor dem Glanze des gegenüber schimmernden Kronleuchters zu schützen. Nase und Kinn dieses Mannes rundeten sich zwar nach dem Maßstab andrer, ordinärer Gesichtsformen, verschwanden aber gegen ihre Umgebung allzu bescheiden hinter den aufgetriebenen Wangen und einem Doppelbarte, der mit dem kurzen, massenhaften Halse gleichsam in Eis zusammenschmolz. Offenbar hätte sein Geruchsorgan noch eines bedeutenden Zusatzes von dem bedurft, was der Schneider in so überflüssigem Vorrate besaß. Nur der Mund erschien in proportionierlicher Ausstattung, dabei aber geräumig genug, um die ganze weitläufige Lebensmaschine in gleichförmigem Gang zu erhalten. Diese schwerfällige Gestalt lehnte, gestützt auf umfangreichen Säulen — Beine genannt — an der Wand des Rathaussaales. Geschah dies, um den beiden milden Trägern des Oberleibes wohlwollend zu Hilfe zu kommen, oder um den möglichen Folgen einiger auffallend schwankenden Bewegungen des letzteren vorzubeugen, — genug, der vielleicht auch vom Dienst einer beschwerlichen Nachtwache etwas angegriffene Bürger-Wachtmeister und Grobschmied Konrad Klinger lehnte dort in einer Gemütsruhe und Behaglichkeit, in der er jetzt wohl die Würfel eines halben Weltgeschicks, sofern dies nur seine liebe Vaterstadt nicht berührte, gleichgültig aus der Hand geworfen hätte.
Nur unlieb fand sich daher der schlaftrunkene Wachtmeister durch seinen Schwager, jenen langen, hageren Rotgerber Thoms, aus den Himmeln seiner schlummersüßen Beschaulichkeit gerissen, und setzte sich erst mühsam ans den nur halb gehörten Bruchstücken der Anrede deren etwaigen Sinn zusammen, als ihm zu seinem Verdrusse der gesprächige Schneider mit der Antwort zuvorkam. Aufbrausende Heftigkeit war sonst nicht eben der Fehler des Grobschmieds, vielmehr eine gewisse friedgiebige Geduldsamkeit so bekannt an ihm, dass die bösen nachbarlichen Zungen ihm wohl gar eine übergroße Subordination gegen die Frau Wachtmeisterin andichteten. Er mochte also immerhin einer bedeutenden Anhäufung zündbaren Stoffes bedürfen, um in dieser korpulenten Masse das vulkanische Feuer des Zornes zum Ausbruch zu bringen; aber der Schneider hatte die verwundbare Ferse unsres Achilles getroffen. Sich mühsam zu einer Höhe ausrichtend, welche das Maß des kleinen Zunftvorstehers um die Hälfte überragte, und dabei die schwieligen Fäuste in die Hüften stemmend, trat er seinem Gegner so nahe, dass Meister Horn sich einen Schritt hinter den langen Gerber Thoms zurückzog, aus Besorgnis, der nahende Koloss möchte bei einem ungefähren Sturz ihn unter seiner Last begraben; und obwohl der zürnende Schmied sein raues Sprachorgan bis auf das schwächste Register dämpfte, so brummte dennoch ein so tiefes Donnerwetter über dem Haupte des Schneiders, dass man wenigstens die tiefste Saite eines Basses schnarren zu hören glaubte. „Was ficht es denn euch an“, begann er, „mein frommer Meister Nash —, wollt sagen Horn, wenn ein ehrbarer Mann nach des Tages Last und Hitze mit freudiger Danksagung eine erquickliche Gottesgabe genießt, anstatt wie ihr die erwucherten Taler unter Schloss und Riegel zu vergraben? — Allen Respekt vor Seiner Gestrengen dem Herrn Bürgermeister Bezold, der ein viel zu bekannter Ehrenmann ist, als dass er Eures Lobes bedürfte, aber —“
Ein missfälliges Gemurmel umher gemahnte jetzt den Sprecher auf die Ungebührlichkeit seiner Äußerung und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder nach dem Akte, der droben am Tische des hohen Rates vorging.
Der neu beamtete Bürgermeister beschwor so eben die uralte Verfassung des kleinen Staates, und indem er deren Schutz und Aufrechtaltung mit Gut und Blut gelobte, ermahnte er in gleicher Weise die versammelten Bürger, die edlen Rechte und Freiheiten ihrer Stadt und das kostbare Gut ihres Glaubens in diesen Zeiten schwerer Prüfung und Läuterung zu hüten und zu wahren gegen alle Gewalt und List des Feindes. Als er sie aufforderte, das Gelübde der Treue und des Gehorsams mit Hand und Mund zu besiegeln, starrte augenblicklich ein Wald von Händen empor, ein brausendes Ja antwortete dem feierlichen Aufruf, und so einmütig und ehrlich war die Gesinnung der Schwörenden, dass selbst der beleidigte Grobschmied in begeisterter Aufwallung mit seiner kräftigen Faust oben in den Lüften die Hand seines Schwagers Thoms und zugleich die dürren Finger seines Gegners von vorhin zu einem derben Kleeblatt zusammenfasste. Das Bewusstsein, dass nur völlige Einigkeit und treues Zusammenhalten der Gemeinde, die in solcher gefahrvollen Zeit doppelt nötige Festigkeit und Stärke verleihen könne, drängte den Bürger an den Bürger und versöhnte in diesem Augenblicke selbst manche Gemüter, die einander weit feindseliger gegenüber standen als der Schmied Klinger und der Schneider Horn.
Nach der Eidesleistung des neuen regierenden Bürgermeisters erschienen nun auch in feierlichem Zuge die übrigen Würdenträger, Reichsrichter, Steurer u. s. w., um vor versammeltem Volke den Schwur gerechter und getreuer Amtsführung abzulegen. Mit der Verpflichtung der niedern reichsstädtischen Bediensteten schloss die Feierlichkeit. —