Читать книгу Leiche 21 - Georg von Rotthausen - Страница 8

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Der Förster des Eutiner Staatsforstes, Hinnerk Haagböök, und sein Waldarbeiter Fritz Möller sind im Revier unterwegs, um fällreife Bäume zu markieren. Sie kommen gerade an der Wasserstandseiche vorbei, als ihnen ein aufgeregter Mann entgegengelaufen kommt.

„Herr Haagböök, Herr Haagböök, kommen Sie schnell, da hinten.”

Der Aufgeregte zeigt, sich immer wieder umdrehend, in die entgegengesetzte Richtung, und bleibt schließlich vor Haagböök und Möller stehen.

„Was ist denn los? Kommen Sie zu erstmal zu Atem, Herr Hinrichsen”, versucht Haagböök den aufgeregten Mittfünfziger zu beruhigen. „Hat sich Ihr Sohn beim Fällen verletzt?”

„Kommen Sie, es ist entsetzlich.”

Hinrichsen zieht Haagböök mit sich, der mit fragendem Kopfschütteln Möller ansieht; beide folgen dem aufgeregten Mann, der sie in ein etwas

vom Weg entferntes Waldstück führt. Nach etwa 100 Metern sehen sie den Grund für Hinrichsens Aufregung:

An dem starken Ast einer Eiche hängt kopfüber die nackte Leiche eines jungen Mannes. Am Boden unterhalb des Kopfes, an dem eine Halswunde zu erkennen ist, hat sich eine große rotschwarze Blutlache gebildet. Die rechte Kopfhälfte ist von angetrocknetem Blut dunkel gefärbt. Es sieht aus wie die Kriegsbemalung eines nordamerikanischen Prärie-Indianers. Auf dem Bauch des Toten ist in Blut geschrieben die Zahl ‘21’ zu sehen - mit einem X aus Blut durchgestrichen.

Hinrichsens Sohn Jens hockt wenige Meter entfernt an einem Baumstamm angelehnt und starrt stammelnd die Leiche an:

„Wer macht denn so ’was, wer macht denn so ’was?”

Haagböök faßt sich als erster, zieht sein Handy aus der Tasche, wählt eine eingespeicherte Nummer und wartet.

Möller besieht sich die Leiche und meint trocken: „Wie erlegtes Wild.” Er kratzt sich am Kopf. „Nur, das hier holt kein Restaurant ab.”

„Sabbel nich’ ‘rum, hol lieber den Pastor”, stößt ihn Haagböök an und deutet auf den völlig apathischen jungen Hinrichsen, den sein Vater zu beruhigen versucht.

„Hallo, Polizeistation Grube? - Ist Arne Weber da? Gib ihn mir mal.”

*

„Was soll denn die ‘21’ auf dem Bauch des Toten?” Malvoisin schüttelt den Kopf. Er wendet sich an Professor Anderson. “Sag’ mal, Klinge, wie alt könnte der Mann gewesen sein? Über 20?”

Der Gefragte sieht den Toten an, dann Malvoisin: „Über 20? Ganz sicher, mindestens 25, würde ich sagen.”

„Das erklärt die ‘21’ nicht.”

Malvoisin sieht sich die Leiche nochmals an, geht näher und betrachtet die Halspartie.

„Warum ist denn hier ein hellerer Strich durch das Blut?” Anderson sieht ebenfalls genau hin.

„Vermutlich Abspülung durch heruntergelaufenen Urin. Angstpinkeln oder Loslassen im Erschlaffen des Todes. Wir prüfen das auf dem Tisch.” Anderson nickt. Er ist sich ziemlich sicher. „Hm, Kot liegt keiner am Boden. Seltsam.”

„Habe ich Deinen Bericht morgen früh?” Malvoisin wendet sich wieder der Leiche zu, nimmt seinen Rembrandt ab und kratzt sich am Kopf. „Warum ist die 21 ausgekreuzt? Zeichen für ‘erledigt’?” Professor Anderson unterbricht Malvoisins Gedanken.

„Malle, weil Du’s bist, vielleicht sogar schon heute abend, aber jetzt nehme ich ihn erst einmal mit, lasse den jungen Mann zu mir sprechen und denn vertell ik Di wat he mi vertellt hett. Goot?”

„Mok dat as jümmers, Klinge.” Malvoisin wendet sich dem Hauptmeister Weber zu. „Weber, holen Sie den Toten jetzt herunter und ab nach Lübeck.”

Während Weber die Leiche mit zwei Kollegen langsam auf ein ausgebreitetes Tuch herabläßt und einsargt, geht Malvoisin zu den Spurensicherern, die sorgfältig ihre Sachen einpacken. Hans Nielsen zieht gerade seine Einweghandschuhe aus und steckt sie ein.

„Habt Ihr alles? Könnt Ihr schon ’was sagen?”

„Es sind auf jeden Fall zwei Personen gewesen, die das hier bewerkstelligt haben. Einer allein hätte ihn kaum hinaufziehen und gleichzeitig am Baum befestigen können. Und vorher müssen sie ihn hergeschleppt haben.”

„Woraus schließt Du das?”

„Es besteht keine Möglichkeit, mit einem Auto selbst kleinster Bauart bis hierher zu fahren, und wenn, dann wären Fahrspuren zu sehen. Knutschkugeln und Messerschmitt-Kabinenroller habe ich hier schon seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn - es fehlte dann der Platz für den dritten Mann.”

„Du gehst von Männern als Tätern aus?”

„Bei dem Kraftaufwand? Das hätten schon russische Gewichtheberinnen gewesen sein müssen.” Der Mann vom Erkennungsdienst grinst.

„Irgendwelche Blutspuren, von der Blutlache abgesehen?”

„Nein, nichts. Die Halswunde ist ihm vermutlich erst beigebracht worden, als er bereits kopfüber hing.”

„War er bei Bewußtsein?”

„Schlecht zu sagen. Das wird Klinge, äh, ich meine Professor Anderson Dir nach der Obduktion sicher sagen können. Aber sieh hier.” Der Spusi-Mann, was Nielsen, im Gegensatz zu anderen Kollegen, ganz gern hört, klinge irgendwie niedlich, deutet auf Rötungen an beiden Mundwinkeln. „Das könnte ein Anzeichen für eine Knebelung sein. Vermutlich hat man ihm am Schreien hindern wollen.”

„Gib mir doch mal die Prüflampe.” Nielsen reicht sie ihm und Malvoisin beginnt, in halb gebückter Stellung den Waldboden um die Blutlache herum abzuleuchten. Im Schein des blauen Lichtes erkennt er, was er vermutet hatte.

„Sieh hier. Einzelne Blutstropfen, mal fast runde Kleckse, mal einige Zentimeter lang, als würde man sich Ketchup auf den Hotdog ziehen.”

Malvoisin richtet sich auf und reicht Nielsen die Lampe zurück.

„Was schließen wir daraus?”

„Der Mann hat sich bewegt.”

„Richtig. Hat er noch gelebt oder bewegte ihn die Brise von See her? Wir hatten gestern starken anlandigen Wind.”

„Oder die Täterschaft hat ihn angestoßen.”

„Warum sollte sie das tun”, bohrt Malvoisin nach.

„Um den Eindruck eines gehängten Verbrechers am Galgen zu erzeugen?” Langeland tritt näher. Er hatte abseits bei den Bestattern gestanden und sich die Leiche nochmals genau angesehen.

„So eine Art Triumph beim Verlassen der Leiche, in der Art ‚Hätte nicht sein müssen, wenn du nicht das getan hättest, was du getan hast’?”

„Vielleicht. Aber noch mal zurück zur Frage, ob er noch gelebt hat. Kommt mal mit.”

Malvoisin, Langeland und Nielsen gehen zum Sarg, der gerade angehoben werden soll. Malvoisin kommandiert:

„Stellt noch mal ab.” Mürrische Gesichter.

„Macht noch mal auf.” Die mürrischen Gesichter werden nicht besser. „Mann, ich hatte schon zwei Leichen heute nacht. Ich will nach Hause.”

Malvoisin sieht den Mauligen in einer Mischung aus Ach-was-tust-du-mir-leid und strafendem Blick an.

„Rate mal, wobei man mich heute morgen gestört hat? Und gegen das maulige Gesicht meiner Frau bist Du jetzt geradezu eine Schönheit. Und unsere Zwillinge wurden auch wach. Gegen meine zwei Krähhälse …”. Er schluckt die Erinnerung an das lebhafte Geschrei der beiden herunter

Verhaltenes Lachen der Umstehenden. „Junger Vater!” „Kann einem leid tun.”

Malvoisin sieht ungnädig in die Richtung der spöttischen Kommentare. „Wie bitte?”

„Nichts!” Eifriges Kopfschütteln.

„Also, aufmachen.” Der Deckel wird abgehoben. Langeland fordert den Bestatter auf, den rechten Arm des Toten anzuheben und die rechte Handfläche zu zeigen.

„Blutig.” Malvoisin sieht Langeland fragend an.

„Richtig. Und warum?”

„Weil aus der Halswunde das Blut auch am Arm entlanggelaufen ist.”

„Und sich schön gleichmäßig von selbst auf der Innenfläche verrieben hat.” Langeland verzieht kritisch-spöttisch sein Gesicht. „Der Tote hat, als er noch nicht ohnmächtig war, offenbar bemerkt, was mit ihm passiert und hat instinktiv versucht, mit der rechten Hand an der rechten Halsseite die Wunde zuzuhalten.”

„Und woher kommt der blaue lange Striemen über dem rechten Bizeps?”

Langeland geht weg. Malvoisin und die anderen sehen ihm mit Achselzucken nach. Langeland sucht den Boden südlich der Blutlache ab, bückt sich plötzlich, hebt ein etwa einen Meter langes Aststück auf. Dann kommt er zurück.

„Daher.” Er hält das Fundstück Malvoisin und dem Nielsen unter die Nasen.

Im oberen Drittel ist ein längliches Stück angetrockneten Blutes zu sehen.

„Also hat er versucht, sich zu wehren und wurde auf den Arm geschlagen. Vorsichtig ins Labor. Das Blut dürfte vom Toten sein, aber vielleicht findet Ihr noch mindestens eine weitere DNA, wenn das Stück ohne Handschuhe angefaßt wurde.” Malvoisin bedeutet den Bestattern, den Sarg nun zu schließen.

„Na endlich”, murmelt einer, der Sarg rutscht ins Wageninnere und beide Männer beeilen sich, abzufahren.

„Und Deine Leute, Hans, durchkämmen mir jetzt genauestens den Boden, notfalls tragt ihr ihn ab. Irgendwas wird die Täterschaft verloren haben, Haare, einen Knopf, Wollflusen, egal. Finden!” Malvoisin klingt sehr bestimmt.

„Du weißt doch, wir kriegen sogar ‘raus, ob des Teufels Großmutter hier vorbeigelaufen ist.”

Hans Nielsen grient Malvoisin an, der ihm wortlos, mit einem Anflug von Lächeln, gegen die linke Schulter klopft. Er ist immer noch stinkig, am Morgen mit Maren gestört worden zu sein und für den unnötigen “Gesang“ der Zwillinge. Am liebsten würde er den Störern die beiden Alarmsirenen einmal “ausleihen”, aber seine Löwin machte dabei sicher nicht mit. Ruhe hin oder her.

*

In einem mit kunsthandwerklichen Kacheln ausgeschmückten Bad sitzt eine schöne junge Frau unter dem prasselnden Strahl eines großen englischen Brausekopfes auf dem Boden des Duschbeckens. Die milchige Kabinentür wird zugeschoben und gleich darauf die Badezimmertür von außen geschlossen. Die Schöne zieht die Knie an, schließt die Augen und senkt den Kopf. Die Sonne des noch jungen Tages hüllt sie, eindringend durch das gegenüberliegende Fenster, plötzlich in eine gleißende Lichtdusche. Sie richtet sich auf und sieht in die Sonnenflut. Ihre blauen Augen scheinen zu brennen.

*

Malvoisin und Langeland biegen am Strandkasino auf die Promenade von Kellenhusen ein und gehen auf die Fischstube von Ueli Bäni und Lisa zu. Malles Schweizer Freund sitzt draußen. Lisa bedient drinnen einen der letzten Frühstücksgäste.

Ueli steht auf und begrüßt fröhlich die beiden, denen man nun die Abgespanntheit anmerkt.

„Hallo, gruezi miteinand. Schön, Euch auch mal etwas früher zu sehen.

„Moin, Fischbändiger.” Malvoisin und Fritz geben ihm die Hand.

„Nur, der Grund ist nicht so schön.” Malvoisin nimm mit einem verpustenden Seufzer auf der Bank Platz, Langeland spreizt die Beine und setzt sich quer hin.

„Ich hab’ schon gehört. Der Dorffunk ist schnell. Möchtet Ihr ‘was essen, und vielleicht ein Flensburger? Geht auf‘s Haus.”

„Du weißt doch, wir dürfen nichts umsonst nehmen. Wir können uns noch ‘rausreden, aber wenn ein profilierungssüchtiger junger Staatsanwalt seine moralisch-ethischen fünf Minuten hat, bist Du dran, Deine Konzession ist weg und Du gehst Alphornblasen. Wie oft soll ich Dir das noch sagen? Aber danke fürs Angebot. Gib mir bitte ein Fischbrötchen …”, er dreht sich um „… Du auch, Fritz?” Langeland nickt wortlos. „Also zwei Fischbrötchen und zwei Mineralwasser.”

„Lisa, hasch g’hört?”

„Kommt gleich!” schallt es aus der Küche zurück.

„Schlimme Sache das. Wir sind ein schönes Ostseebad. Bi ois sollet Gäschte sich erhole und nüt an de Füaß in de Bäume g’hängt werre, oder?” Ueli schüttelt nachdenklich den Kopf. Da kommt Lisa mit einem kleinen Tablett heraus.

„Guten Morgen, schöne Männer. Da, laßt es Euch schmecken.” Sie klopft Langeland auf die Schulter und geht wieder hinein.

Der beißt herzhaft in sein Fischbrötchen, Malvoisin setzt auch dazu an, als ihn eine ihm wohlbekannte, markant aufgeregte Stimme unterbricht und er im Zubeißenwollen wieder absetzt und das Gesicht verzieht.

„Herr Hauptkommissar! Was ist hier los? In meinem Wald hängen nackte Männer kopfüber in den Bäumen?”

Malvoisin legt sein Fischbrötchen wieder weg und steht auf.

„Guten Morgen, Frau Bürgermeisterin”, wobei er das jeweils sehr betont. Erst beim Orgasmus unterbrochen, Morgenkrähen und jetzt beim Fischbrötchen - es wird ihm langsam zuviel.

„Erstens ist es bislang Gottseidank lediglich eine Leiche, männlich in der Tat, und mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Laufende Ermittlungen, Sie verstehen, und zweitens hat mein Staatsanwalt die ihm eigene Art daran festzuhalten, daß er zuerst über unsere Feststellungen informiert zu werden wünscht, und nicht irgendwelche Zivilisten, die zu lange Nasen haben.”

Die Bürgermeisterin pluustert sich auf, ringt nach Luft.

„Irgendwelche Zivilisten? Wer ist hier irgendwer? Als Gemeindeoberhaupt …”

„… haben Sie sicher sehr viel zu tun, und dem sollten Sie sich jetzt widmen, Verehrteste.”

Malvoisin klingt sehr bestimmt, die Bürgermeisterin ist wohltuend sprachlos, und er nutzt diesen raren Zustand.

„Fritz, zahl’ mal.”

„Immer ich.” Langeland mault.” „Steck’ Dir endlich selber eine Börse ein. Du schuldest mir noch drei Frühstücke.”

„Schick’ mir ‘nen Mahnbescheid.”

„Så jeg vil med Maren indlæg, det er hurtigere end med de fogeder.”

[„Da werde ich mit Maren reden, das geht schneller als mit dem Gerichtsvollzieher.“]

„Dänischer Gemütsmensch.”

„Moin, Frau Bürgermeisterin.” Die Gegrüßte sieht Malvoisin und Langeland entgeistert nach. Malvoisin dreht sich nach drei Schritten um und wendet sich der Stehengelassenen nochmals zu.

Ihr Wald?”, fragt er sie betont. „Der neue Seesteg war doch schon so teuer. Und dann noch der letzte schwere Sturm. Strand weg, neu aufschieben, Lady-Prom unterspült … diese bösen, bösen Extrakosten …! Woher hat die Gemeinde das Geld, den Eutiner Staatsforst zu kaufen? …”

Die Bürgermeisterin bringt kein Wort heraus, macht stumme Mundbewegungen wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Also nicht. Dachte ich mir’s doch. Na ja, die Kurtaxe auf 3,50 € zu erhöhen wäre auch nicht so gut. Da bleiben zu viele Gäste weg. Moin!”

Malvoisin dreht sich im Weggehen noch einmal um.

„Übrigens, hätten Sie den Seesteg von Brückenpionieren bauen lassen, wäre es bedeutend billiger geworden, und schneller wäre es auch gegangen. Sie erinnern sich an das Theater mit den genervten Gästen? Rammen in der Hauptsaison! Schlimmer Fehler.“

Er genießt einen Augenblick lang das verblüffte Gesicht der Bürgermeisterin.

„Äh ja, Moin!”

Malvoisin schließt zu Langeland auf. Der grinst.

„Wir hätten sie zur Leiche rufen sollen.”

„Warum?”

„Weißt Du noch, bei Malte Kröger, wie sie da mit aufgepluusterten Backen ankam und dann in Ohnmacht fiel?”

„Jou, Schweigen im Sand. Guter Zustand.”

Beide gehen grienend zurück zum Auto.

*

In einer Jugendstilvilla in Dahlem. Ein junger Mann, 26 Jahre alt, durchtrainiert, blendend aussehend, schwarze Haare, dunkelbraune Augen, glattrasiert, kommt, sich abtrocknend, aus dem Bad neben seinem Zimmer. Er hat eine große Zukunft vor sich, gekrönt von einem dichten schwarzen Pelz. Sein Blick schweift im Zimmer umher.

„Wo habe ich es denn nur wieder hingelegt?”

„Führst Du Selbstgespräche?”

Der Angesprochene wendet sich um, hält kurz inne, trocknet sich weiter ab.

„Hallo, Paps. Habe Dich gar nicht kommen hören.”

Der Blick eines grauhaarigen Mittfünfzigers ruht mit wohlgefälligem Lächeln auf dem jungen Mann.

„Jetzt kenne ich Euch schon 26 Jahre, und ich staune immer wieder, was für schöne Söhne ich habe.”

Der junge Mann wirft das Handtuch über einen Stuhl, geht zu seinem Vater und umarmt ihn lachend.

„Paps, Du bist ja eitel!”

„Nein, mein Junge. Ich bin einfach nur stolz auf Euch. Wenn nur Eure Mutter Euch noch so sehen könnte!” Der Grauhaarige strahlt.

Der junge Mann geht drei Schritte zurück und breitet die Arme aus.

„So nackt?”

„Sie hat Euch nackt geboren, Cornelius, wir haben Euch keine falsche Scham anerzogen - warum nicht?”

Cornelius schmunzelt, geht zu einem Kleiderschrank, holt sich frische Unterwäsche, ein weißes T-Shirt und eine kurze blaue Hose heraus und zieht sich an.

„Und was ist mit unserer schönen Schwester? Vergessen?” Cornelius zupft seinen Slip zurecht.

„Wie könnte ich meine Prinzessin vergessen, aber Du weißt doch, daß sie in Eutin wohnt, kommt ja nicht zurück, seit äh ...” Der Grauhaarige hat plötzlich einen traurigen Ausdruck in seinen Augen. Er will sich an den Grund nicht erinnern, räuspert sich, und sein ferner Blick ist wieder im Raum.

„Hat sich Dein Bruder aus Grömitz schon gemeldet?”

„Paps! Er ist doch gerade erst vor ein paar Tagen gefahren. Warum sollte er sich melden? Vielleicht hat er am Strand schon eine Schönheit im Schlepptau, da vergißt er doch alles.”

Sein Vater schaut nachdenklich, dann aber auch amüsiert. Magnus hat schon mit 15 als schnellster seiner Jungs am Strand oder wo auch immer neue Mädels kennengelernt und für sich eingenommen. „Vielleicht hast Du Recht, aber rufe ihn bitte trotzdem an und frage, ob er nicht eine Woche früher zurückkommen kann. Richter Rosslowski hat den Prozeß in Sachen Hartmann & Co. um eine Woche vorverlegt, weiß der Kuckuck warum, die Änderungsladung haben wir schon. Sei so gut. Vielleicht hat Dein Bruder sein Handy nicht abgeschaltet.”

„In Ordnung Paps, ich versuch’s gleich.”

„Ich bin dann in der Kanzlei.”

„Okay, bis nachher.”

Während sein Vater ihn verläßt, sucht der junge Mann weiter nach seinem Handy, das er schließlich unter einer Tageszeitung findet. Er tippt die Nummer seines Bruders ein und wartet.

Im Hotel „See-Deich” in Grömitz klingelt in einer Suite ein Handy. Niemand nimmt ab.

„Wenn er gescheit ist”, murmelt der junge Mann in der Villa in Dahlem, steckt sein Handy in die Tasche, zieht seine Sandalen an und geht.

*

Hanne von Bauwitz sitzt immer noch bass erstaunt vor der eidgenössischen Fischstube auf “ihrer” Promenade. Ueli wartet leise schmunzelnd auf die Detonation “seiner” Bürgermeisterin. Sie kocht.

„Brückenpioniere? Warum Brückenpioniere? Wir sind doch keine Militäranlage! Was denkt der sich eigentlich? Dieser vorlaute Mensch.”

Ueli lächelt, beugt sich zu ihr vor: „Wissen Sie, daß er als Kommandeur eines Brückenbaukommandos bei einem Wettkampf einen Trupp Schweizer Brückenbaupioniere geschlagen hat?”

Die Bürgermeisterin sieht ihn ungläubig an. Im Weggehen setzt Ueli nach: „Der Mann ist maximal!” Das maximal kommt dabei so heraus, als hätte er Halsschmerzen, aber das haben die Schweizer von Natur aus - sprachtechnisch, oder?

*

Im großen Garten des Privathauses des Kommissars von Malvoisin bahnt sich ein Streich an.

Karin und Tessa, seine Töchter, kommen aus der Terrassentür, bleiben stehen und sehen sich an. Die Mädels jetzt mittlerweile 16 und 17 Jahre alt. Sie tragen beide knappe Bikinis, die optisch nichts zu wünschen übrig lassen; sie haben unübersehbar die Schönheit ihrer Mutter geerbt. Tessas Körbchen haben sich sehr vorteilhaft gefüllt. Karin ist eine Sensation geworden.

„Sieh mal, unser hübscher Bruder will tatsächlich ganzkörperbraun werden”, stößt Karin ihre Schwester an.

„Ob wir ihn mal fragen, ob er eine neue Flamme hat”, meint Tessa daraufhin.

„Dann darf er sich aber keinen Sonnenbrand zulegen, schon gar nicht am Männerstolz!” Beide Mädchen lachen leise hinter vorgehaltener Hand.

„Hast Du die Sonnenmilch?” flüstert Tessa und sieht ihre Schwester an. „Ich habe mich schon vor einer halben Stunde eingecremt, Du nicht auch?”

„Doch, sicher, aber Christian braucht bestimmt noch etwas davon. Geh und hol mir mal die Flasche.”

Tessa geht ins Haus zurück, ist nach wenigen Augenblicken wieder da und reicht Karin das hellblaue Behältnis. „Was hast Du vor?”

„Das wirst Du gleich sehen. Komm, aber leise.”

Karin und Tessa lassen ihre Flipflops auf der Terrasse stehen und gehen barfuß über den Rasen. Christian liegt ausgestreckt, mit den Armen unter dem Kopf verschränkt auf einem der Liegestühle. Er hat die Augen geschlossen und zeigt ein feines Lächeln, als würde er an etwas besonders Schönes denken. Sein Stolz liegt ruhend auf seinem flachen Bauch, reicht fast bis zum Nabel.

Tessa bleibt hinter dem Liegestuhl stehen, Karin tritt so von der Seite heran, damit sie keinen Schatten wirft. Christian bemerkt nichts. Karin öffnet den Verschluß der Flasche beugt sich vor, sieht grienend zu Tessa hin, nimmt mit einem Blick auf den Schoß ihres Bruders Maß - und drückt über Christians gesamte Penislänge eine dicke Linie kühle Sonnenmilch heraus. Als er die Augen öffnet erschrickt sie und drückt fest zu: Ein Schwall weißer Creme klatscht auf ihres Bruders Besten.

„Was? Was ist?” Christian öffnet die Augen, sieht sich um, bemerkt die lachende Karin, sieht an sich herab und schimpft los:

„Was soll das denn? Karin, Du dumme Henne, was fällt Dir denn ein?” Er springt auf, die Sonnenmilch folgt der Schwerkraft und tropft herab.

Beide Mädchen können sich nicht mehr halten und brechen in eine Mischung aus Kreischen und Lachen aus, während Christian sich wutschnaubend abwischt, die Creme auf seinen Bauch schmiert und seinen Schwestern böse Blicke zuwirft.

„Wir dachten, Deine Neue steht vielleicht nicht auf Bratwurst.” Karin kann gar nicht glauben, daß sie das gesagt hat und sieht Tessa an. Die Mädchen biegen sich vor Lachen, daß ihnen die Tränen kommen.

„Ihr blöden Weiber.”

Während seine Schwestern sich über den gelungenen Streich weiter schier ausschütten, entdeckt Christian eine Möglichkeit, es ihnen heimzuzahlen. Karin und Tessa sind vom eigenen Gelächter so abgelenkt, daß sie nicht bemerken, was Christian vorhat. Er nimmt den Gartenschlauch in die Hand, dreht den Wasserhahn auf, hebt erst kurz vor ihnen den Schlauch an - Volltreffer. Die Mädchen kreischen auf, versuchen, dem Wasserstrahl zu entkommen, der ihnen gnadenlos folgt, und mit ihm Christian; das Lachen ist nun an ihm. Am geschlossenen Gartentor machen sie kurz halt, bleiben kreischend stehen, drehen Christian ihre Rücken zu, während sie das Törchen öffnen und auf die Straße flüchten, er aber immer weiter draufhält. Christian denkt im Eifer seiner nassen Revanche nicht daran, daß er nur Haut trägt und von der Nachbarschaft gesehen werden kann.

Und er wird gesehen. Die achtzehnjährige Christiana von gegenüber hört das Gekreische und sieht von ihrer Gartenarbeit auf.

„Hhm, Christian wird auch immer hübscher.” Ihre Augen glänzen. Auf ihre Hacke aufgestützt verfolgt sie die Szene. Sie seufzt leise vor sich hin. „Er sieht ja so scharf aus.” Daß er seine Schwestern abduscht, amüsiert sie - und sie lächelt. Bei Malvoisins ist immer etwas los.

Sie hat keine Geschwister und beneidet Karin und Tessa um ihren Bruder, aber schwesterliches Interesse hat sie an ihm nicht. Seit sie ihn einmal morgens beim Nacktschwimmen sah, was er nicht bemerkt hatte, träumt sie von ihm. Vor den Ferien hat sie ihren fremdgehenden Freund “abgeschossen” und wäre frei für ihn, aber er sieht sie nicht. Mehr als „Hi!” oder „Moin, Chris” kommt von ihm nicht, aber sein Lächeln dabei verschafft ihr stets einen Kloß im Hals. So sieht sie ihn meist nur wortlos an. Was sie nicht weiß, ist, daß Christian sie ganz nett findet, sich aber über ihre Wortlosigkeit wundert und für etwas eigenbrötlerisch hält. Dabei ist sie sehr hübsch und wird sicher einmal eine schöne Frau sein. Sie ist seiner unwillkürlichen Schätzung nach um die 1,70 m groß, hat eine schöne, schlanke Figur, was ihm im Lensahner Waldschwimmbad bei der Aufsicht durchaus aufgefallen war, und ihre etwa 56 Kilogramm kamen in dem süßen Bikini sehr wohl zur Geltung, aber was Christian nicht bemerkt hatte: er stand auf der Leitung. Na ja, Biene war noch da und Christianas Freund Sven kannte er vom Gymnasium.

So waren alle Schalter von Aufmerksamkeit auf Desinteresse umgelegt. Hätte man ihn nach ihrer Augenfarbe gefragt, er hätte es nicht gewußt. Sie hingegen konnte seine braunen Augen nicht vergessen.

„Heute Blumengießen mal anders?”

Christian dreht sich der ihm wohlbekannten Stimme zu - und mit ihm der Wasserstrahl.

„Hej, ich hab’ schon geduscht.” Jan springt zur Seite. Jetzt erst hält Christian den Schlauch gegen den Rasen, als er sieht, daß sein Freund Jan gewässert vor ihm steht.

„Oh, Tschuldigung“, lacht er auf, „Du warst nicht gemeint. Das galt diesen vorlauten Kreischliesen.” Er zeigt mit dem Schlauch auf die Mädchen, die, auf der Straßenmitte stehend, sich dem Besucher gerade nähern - und wieder “gelöscht” werden.

„Christian, es reicht” schreit Karin ihn an. Es genügt ihr. „So schlimm waren wir auch nicht”, mault Tessa und streicht sich das Wasser vom Körper.

„Schlimm? Wobei?” Jan sieht die Drei fragend an. „Nicht so wichtig”, wehrt Christian ab, der ungeschickterweise mit dem Schlauch wieder auf Jan deutet, der zu spät zur Seite springt und nun vollends naß ist.

„Eh, Du, ich bin groß genug. Mich mußt Du nicht mehr gießen.” Jetzt erst wirft Christian den Schlauch hinter sich, der sich auf dem Rasen wie eine Schlange hin und her windet.

Jan sieht die Schwestern an, die nun wieder den Garten betreten und das Törchen schließen, und kann sich ein breites Schmunzeln nicht verkneifen. „Hhmm, schön, neue Bikinis. War wohl die Einweihung?”

„Immerhin, Jan bemerkt es wenigstens”, sagt Karin, während sie ihre nassen Haare ausdrückt. „Unser Brüderchen hat bei uns für so etwas keinen Blick”, schickt Tessa spitz hinterher und schüttelt ihre Haare aus.

„Und Du trägst wohl des Kaisers neue Badehose, hhm? Ist ja so gar nichts zu sehen.”

Jan schaut prüfend auf Christians Lenden, die Mädchen sehen sich an und brechen erneut in Gelächter aus. Auf Christians ungehaltenen Blick suchen sie schnell das Weite und verschwinden im Haus.

„Was war denn los?” Jan sieht Christian forschend an. „Erzähl.”

Christian will nicht. “Laß’, nicht so wichtig.“

„Stell’ Dich nicht so an, Alter. Und überhaupt, seit wann sonnst Du Dich auch hier ohne?”

„Wieso ohne? Alles am Mann!” Die Freunde lachen, begrüßen sich mit an den rechten Hals gelegten Händen und gehen vom Gartentor weg.

Damit ist die auch optisch angenehme Unterhaltung für Christiana beendet und sie wendet sich wieder ihrer Gartenarbeit zu. Hätte Christian nur mal ihren Seufzer gehört …

Am Liegestuhl reicht Christian seinem Freund das große Handtuch. Jan trocknet sich ab. Er hat bemerkt, daß Christian dicke weiße Creme auf dem Bauch verschmiert hat und beginnt, sie mit der rechten Hand zu verreiben.

„Oh!” Christian sieht an sich herab.

„Die Mädels?”

„Ja. - Blöde Ziegen.”

Jan grient in sich hinein, während Christian das Verschmieren übernimmt und Jan seine Hand an Christians Schulter abwischt.

Christian sieht nun Jan an, befühlt dessen Kleidung. „Komm’, Du bist ja naß bis auf die Haut. Ich geb’ Dir oben trockene Sachen; wozu haben wir eine Größe.”

Jan wirft das nasse Handtuch auf die Liege; die beiden Freunde gehen ins Haus. Christian dreht sich nochmals um. Er bemerkt, daß Christiana im Garten arbeitet, aber gerade nicht herübersieht. „Ob sie mich wohl gesehen hat?” Er sieht nochmals genau hin. „Na und wenn schon, was soll’s.” Christian zuckt mit den Achseln und eilt Jan nach.

*

Die alte Frau Johannson von nebenan macht beim Fensterputzen weiter. „So schön war mein Johann auch mal - ach ja.” Sie seufzt ein wenig und schmunzelt. Über 70 Jahre ist das her. Das war noch vor dem Krieg.

Sie war 17 und ihr Johann ein wenig über 19; er hatte gerade den Reichsarbeitsdienst hinter sich und genügte seiner Militärpflicht in der Wehrmacht. Aber was waren das für herrliche Tage, damals im Sommer, als er auf Urlaub nach Hause kam. Und wie gern hat sie sich von ihm am Lensterstrand nach dem Schwimmen verführen lassen. Sie waren so jung, und er war ein so guter Liebhaber, ein Naturtalent, denn sie wußte, daß sie sein erstes Mädchen war, wie er ihr erster Mann. Und wie leidenschaftlich hatten sie sich geliebt. Ihre Mutter hatte sehr geschimpft, als sie erst spät am Abend nach Hause kam. Nur ihr Vater hatte Verständnis. „Lot de Deern tofreden, de hett ’n Leefsten. Du büst suustein wes as wi tom eersten Mal. --- Hest dat vergeten?” Von da an war ihre Mutter still und freute sich sehr, als sie übers Jahr zum ersten Mal Großmutter wurde. Beide waren sie noch nicht volljährig und brauchten die Erlaubnis zum von beiden Eltern, aber das ging nach ein wenig Schimpfen in Ordnung. Und als dann ihr erster Sohn zur Welt kam, da strahlte die ganze liebe Verwandtschaft. Ein Stammhalter löschte alle Bedenken aus. Und gerade als Johanns Dienstzeit beendet gewesen wäre und er auf den Hof kommen sollte, da ging 1939 der Polenfeldzug los. Sie sah ihn nach dem Sieg, von allen für sein EK Zwo bewundert, wenige Tage zu Weihnachten; er ließ ihr ein Andenken da, das bald nach dem Frankreichfeldzug krähend in der Wiege lag. Er kam noch einmal Weihnachten 1940 nach Hause, sein Andenken blieb da, und dann hatte er Glück, kam 1943 aus Rußland weg auf eine der Kanalinseln, konnte nach einer schweren Verwundung nicht mehr an die Front und wurde auf Jersey vom Engländer gefangengenommen. 1946 kam er mit seiner leichten Gehbehinderung bereits nach Hause. Der Tommy hatte ihn nicht mehr für gefährlich gehalten, den Feldwebel Johann Johannson. Aber die Schmach, ihm sein EK Eins und seinen Portepeedolch weggenommen zu hatten, verzieh er ihnen sein Leben lang nicht. Seine Jungs hatten erst etwas gefremdelt, aber da ihr Johann so große Freude an seinen Söhnen hatte, machte sie noch einen mit ihm. Er war immer noch ein guter Liebhaber gewesen, aber nach dem Krieg sehr nachdenklich geworden und hatte es gar nicht gern gesehen, daß sein Erstgeborener 1958 freiwillig zur Bundeswehr gegangen war. Jan war dann auch als Hauptbootsmann ausgerechnet an Land, bei einem Autounfall nahe Kappeln, ums Leben gekommen, gerade als er die richtige Frau fürs Leben gefunden hatte und die Beförderung zum Stabsbootsmann bevorstand. Friedrich hatte in Bayern, weit weg in Ingolstadt, in der Autoindustrie eine gute Arbeit gefunden, autoverrückt, wie er war, eine Einheimische geheiratet, die kein Platt verstand, und die beiden Enkelinnen hat sie kaum je gesehen. Ernst wurde Handelsschiffskapitän und fand keine Zeit zum Heiraten, hatte einen unehelichen Sohn in Amerika gemacht, von dem sie gerade mal ein einziges Photo zu sehen bekam und ihr “Kleiner”, Onno, hatte sich bei einem Urlaub in Schweden in Anna verliebt, drei hübsche blonde Söhne in die Welt gesetzt, aber die sah sie bestenfalls einmal im Jahr. Tja, und ihr Johann hatte sie vor 10 Jahren für immer verlassen.

Ihre danach beginnende beschauliche Einsamkeit, vom Dorfkaffeekränzchen abgesehen, wurde so angenehm unterbrochen, als die Malvoisins nebenan einzogen. Die lütte Tessa durfte bald zum Rasenmähen kommen, Karin ging immer mal für sie einholen und Christian kam zum Heckeschneiden. Und dabei sah sie ihm gern zu. Sie war nun mal eine alte Oma geworden, aber einen seuten, staatschen Jung’ antokieken, dafür fühlt sie sich nach wie vor nicht zu alt. Dann denkt sie an ihren schönen Johann, damals vor dem Krieg, und träumt von den wild-zärtlichen Stunden am Lensterstrand, wenn sie beide alles um sich herum vergaßen, und nur jung und schön und lieb zueinander waren. Und dann spürt sie wieder seine zärtlichen Hände, die so kräftig von der Feld- und Hofarbeit waren, aber durch seine feine Seele so liebevoll gemacht wurden. Dann vergaßen sie sogar den österreichischen Postkartenmaler mit dem schrecklichen kleinen Schnurrbart. Der Pastor hatte sie im Stillen gewarnt, der würde sie noch alle ins Unglück führen. Und die dafür bezahlt haben, kann man am Kriegerdenkmal nachlesen.

Es macht ihr Freude, Christian anzusehen. Daneben kann man ja auch Fensterputzen. Frauen können mehrere Dinge gleichzeitig tun. Da ist Frieda Johannson keine Ausnahme. Auch mit fast 90 nicht. Und den dummen alten Weibern, wie sie sie nennt, die sich aufregen, wenn jemand nackt herumläuft, „Huch, der hat ja nix an!”, stellt sie immer wieder die Frage „Ward Ihr nie jung? Ward Ihr nie am Lensterstrand? Hebbt ji joon Kinners mit‘e Plünnen an mookt?”

Die alte Hermine, mit ihren 91, nickt dann immer schmunzelnd, und Frieda Johannson weiß, warum. Hermine Jaspers, die nie viel sagt, das macht sie alles mit ihren lustigen Augen und einem immer wiederkehrenden verschmitzten Zwinkern, hat mit 18 einem Berliner Bildhauer Modell gestanden, als “Brunnenmädchen”, und vor dem Problem der Kleiderwahl stand sie damals ganz sicher nicht. In einem Museum kann man das immer noch betrachten, aber sie sagt nicht wo. Hermine lächelt nur. Wat geit dat de Lüüd an?

*

Christian öffnet seinen Schrank. „Kurze Jeans oder lange? - Übrigens, was sollte das vorhin ‚Ist ja so gar nichts zu sehen’. Kann man das übersehen?” Christian dreht sich zu Jan um, der sich bereits entkleidet und im Hose-fallen-lassen feststellt: „Ganz sicher nicht. Wie Du schon ganz richtig festgestellt hast: Wir haben eine Größe.”

Für ein paar Minuten gefallen sie sich in gegenseitiger Bewunderung. Dann erinnert Christian etwas, als er gerade nach den passenden Stücken für Jan suchen will.

„Sag’ mal, wann war der Termin für die Kalenderphotos bei meinem Großonkel Florian?” „Übermorgen, schon vergessen?” Jan streift seinen ebenfalls naßgewordenes Slip ab und legt ihn zu seinen übrigen Sachen.

Da schlägt er sich mit der flachen Hand vor die eigene Stirn. „Mann, jetzt hätte ich beinahe vergessen, warum ich gekommen bin.”

„Na, dann spuck’s aus.” Christian lehnt sich entspannt gegen den Schrank.

„Ich habe vor ein paar Tagen in Lenste eine Wahnsinnsfrau kennengelernt, an dem Tag, an dem Du keine Zeit hattest.”

„Ja, und?”

„Sie hat mir ohne Umschweife erklärt, sie sei Bildhauerin und würde mich als Modell für einen David haben wollen, stell’ Dir vor.”

„So richtig als Statue auf einem Sockel in Marmor?” „Marmor, Granit, Sandstein, Gips, was weiß ich, Hauptsache Modell - und dann gleich als David. Ist das nicht geil?”

„Wie alt ist sie denn, diese Bildhauerin?”

Jan überlegt kurz. „Na, so 26, 27 wird sie schon sein.”

„Und was zahlt sie?”

Jan sieht Christian ein wenig entrüstet an. „Denk’ doch nicht gleich ans Geld, Mann. Vielleicht geht ja ‘was bei ihr. Geld gebe ich nur aus, ein Fick bleibt mir.”

„Wenn Du das so siehst.” Christian zuckt mit den Achseln. „Und was soll ich dabei?”

Jan geht auf Christian zu, nimmt ihn bei der Hand, zieht ihn vor den Spiegel, stellt sich hinter ihn und dreht Christian in Position.

„Hast Du Dich in letzter Zeit mal angesehen, hm?” Christian muß grienen. Er hat schon mal seine selbstverliebten “fünf Minuten“.

„Siehst Du. Du bist ein schöner Kerl, denk an den ersten erfolgreichen Kalender, und das wird sie auch bemerken. Wenn sie aus mir einen David machen will, dann wird sie Dich als Apoll gleich daneben stellen.”

Christians Miene wechselt zu Ungläubigkeit. „Meinst Du wirklich?”

„Wenn sie nicht blind ist, im übertragenen Sinne, meine ich.”

„Und wann sollst Du zu ihr kommen?”

„Heute mittag, so 12, 12 Uhr 30 zur ersten Stehprobe.”

„Und wo ist das?”

„Kennst Du den großen reetgedeckten Hof bei Oldenburg? Riesengrundstück, stand letztes Jahr zum Verkauf.”

„Ich weiß welchen Du meinst. Den hat sie gekauft?” Gekauft oder erst einmal gepachtet, keine Ahnung. Aber Platz für ein großes Atelier ist da allemal.” Christian dreht sich zu Jan herum.

„Hast Du Dein Auto dabei?”

„Jou.”

„Na, dann laß’ uns mal los. Bis dahin brauchen wir eine knappe Stunde, Trecker eingerechnet, aber vorher essen wir noch‘n Happen. Papa hat Matjes angesetzt.”

Jan klopft Christian auf die Schulter und strahlt. „Das ist mein Krischan. Und nu’ gib mir Hemd und Hose, Slip brauche ich keinen.”

„Wenn Du meinst.” Christian reicht Jan eine kurze beige Hose und ein weißes, kurzärmeliges Hemd aus dem Schrank und nimmt sich selber frische Sachen. Instinktiv greift er Klamotten, die seinen Körper betonen, ein knappes, weißes Muscle-Shirt, das seinen Bauchnabel und die Haarnaht freiläßt und knallenge weiße Jeans. Die Freunde kleiden sich an. Christian betrachtet sich im knappen hellblauen Slip, zeigt eine zufriedene Miene, sieht zu Jan, der schweigend-lächelnd Zeigefinger- und Daumenspitze zum Handzeichen “Spitze” formt, und steigt in die Jeans.

„Übrigens, wie heißt sie eigentlich?”

„Kristin Holmdóttir.”

„Eine Isländerin?”

„Ich glaub’ schon, bei dem Namen. Aber sie spricht akzentfrei hochdeutsch, vielleicht ein wenig hamburgisch eingefärbt.”

„Na, wir werden es sicher erfahren.”

Christian versucht, die Jeans hochzuziehen. „Schuhlöffel?”

„Quatschkopf.”

„Nee, aber Dein Arsch ist wohl dicker.” Christian zieht weiter, hüpft dabei mehrfach auf und ab. „Verdammt, zuviel trainiert.”

Jan lacht. „Drei Monate kein Sex und schon paßt die Hose nicht mehr.”

„Blödmann. Ich war doch gestern noch drin.” „Komm’, ich helf’ Dir.” Jan stellt sich hinter Christian und greift links und rechts den Bund. Christian hüpft erneut.

„Jetzt bleib’ doch mal steh’n, damit ich richtig greifen und heben kann.”

Jan faßt noch einmal zu und hebt Christian mitsamt der Hose an. Jan sieht Christian rechts über die Schulter und bemerkt, daß alles klemmt.

„Dein Schwanz ist zu groß, Alter.”

„Das sagt der Richtige.” Jan hebt Christian nochmals an.

„Du, das wird nichts. Vielleicht, wenn Du den Slip ausziehst.”

„Meinetwegen. Schotte sollte man sein. Die bringen auch die größte Zukunft immer unter.”

„Na, Du im Röckchen, Alter, und dann ’n Windstoß!“ Beide lachen fröhlich auf, aber es klemmt immer noch. Christian versucht, ohne umzufallen, aus den Jeans herauszukommen. Jan tritt zur Seite und betrachtet die Bemühungen kopfschüttelnd.

„Komm’, leg Dich aufs Bett, das geht so nicht, sonst hat Kristin einen anderen David im Atelier.”

Christian läßt sich rücklings auf sein Bett fallen und streckt Jan beide Beine entgegen. Der zieht an beiden Hosenbeinen - mit mäßigem Erfolg. Einzig, daß Christian polings auf dem Fußboden zu sitzen kommt. Erst schreit er auf, dann kriegen beide das Lachen, während Jan ihm die Hand reicht und hochzieht.

„Jetzt bleib mal stehen. Ich versuch’s anders.” Jan kniet nieder, faßt mit beiden Händen links und rechts den Hosenbund an - und zieht mit einem gewaltigen Ruck die Hose samt Slip herunter.

*

In der Lübecker Gerichtsmedizin. Professor Anderson steht am Seziertisch Nr. 1, vor ihm die Leiche des Waldtoten. Er klappt seine Lupenbrille herunter, beugt sich vor und betrachtet das Geschlecht des Toten. Bei der dichten Schambehaarung fällt ihm etwas auf. Die auf der gegenüberliegenden Seite stehende Assistentin Liliane Kronborg hört nur ein gemurmeltes „Seltsam.” Dann nimmt Anderson den Penis des Toten hoch, sieht genau hin, legt ihn ab, schaut auf, läßt sich das stumm Verlangte geben. Seine aufmerksame Assistentin reicht ihm ein Abstrichstäbchen und einen Objektträger. Nun hebt Lili den Penis hoch und Anderson nimmt die Probe. Wortlos reicht er seiner Assistentin Stäbchen und Objektträger, die mit beidem zum Mikroskop geht und den Abstrich betrachtet.

Als sie zurückkommt, staunt sie nicht schlecht, was ihr Chef in der Hand hält.

*

„Bist Du fertig?” Jan nickt, erhebt sich und verschließt seine Sandalen. Christian schlüpft in seine blauen Leinenschuhe, ordnet sich nochmals und kommandiert: „Dann laß’ uns fahren.”

„Nee, noch essen, vergessen?“ Jan reibt sich den Magen. „Modellstehen ist anstrengend.“

„Dann müssen wir aber nochmal Zähneputzen, sonst fliegen wir bei Deiner Bildhauerin gleich ‘raus.“ Sie verlassen Christians Zimmer und gehen nach unten in die Küche.

Der Matjes ist großartig, wie immer, schmeckt den beiden auch mit kalten Pulchen von gestern. Für frische haben sie keine Zeit.

Als sie aus dem Bad kommen und gehen wollen, treffen sie auf Karin und Tessa, die sich inzwischen trockene Bikinis angezogen haben.

„Jetzt weiß ich, warum es auf der Promenade gerade keine Bikinis mehr zu kaufen gibt - die habt Ihr alle. Sehen Deine Schwestern nicht umwerfend aus?” Jan dreht sich zu Christian um. Der verzieht nur das Gesicht.

„Hast Du einen Bikini gesehen, kennst Du alle.”

„Was hätte von Dir auch anderes kommen können, Du ungalanter Knopf.” Tessa zieht ihrem Bruder eine mißbilligende Schnute. Karin kartet nach: „Kauf’ Du Dir mal lieber ‘ne neue Kronjuwelenverpackung, am besten mit Hitzeschutz, sonst …”

Jan fällt ihr ins Wort: „Sag’ mal, sind die Schleifchen da echte Schleifchen”, er deutet auf die Schalenverbindung und auf das Höschen, „oder sind die nur Verzierung?” Danach sieht er Christian vielsagend an.

Karin fühlt sich ob des Interesses geschmeichelt und antwortet arglos: „Die Schleifen sind echt und können als Farbkontrast ausgewechselt werden, weißt Du. Ich hab’ für diesen hellblauen noch gelbe, rote und weiße Schleifchenbänder.”

Während sie auf Jans vermeintliches Interesse antwortete, ist Christian langsam um sie herumgegangen. Tessa bleibt ahnungslos.

„Und was passiert, wenn man das macht?” Jan zieht am Oberteilschleifchen, in blitzschnellem Teamwork zieht Christian an beiden Seiten die Höschenschleifen auf - und Karin steht im Freien.

Nun geht alles ineinander über. Karin schreit auf, Jan und Christian rennen zur Tür, an der Tür dreht Jan sich um: „Schwarz find’ ich geil”, die Haustür geht auf, Maren von Malvoisin kommt herein, Christian ruft seiner Mutter zu: „Hallo, Mama, keine Zeit, wir müssen weg.”

„Den Eindruck habe ich auch”, Maren von Malvoisin verfolgt erstaunt die Szene.

Jan ruft ein schnelles „Hi!” und rennt weiter. Tessa steht im Hintergrund und hält sich vor Lachen den Bauch. Karin verdeckt mit der rechten Hand ihren Schoß, mit dem linken Arm bedeckt sie ihre Brüste und ringt vor Zorn nach Luft. Frau von Malvoisin sieht Jan und Christian nach, wendet sich um, stellt ihre Tasche ab und fragt leicht erstaunt:

„Äh, muß ich das jetzt verstehen oder kommt da noch ’was?”

Tessa preßt im Lachen heraus: „Nein, Mama, bemüh’ Dich nicht. Das dauert zu lange” und wischt sich die Lachtränen ab.

Karin wirft nun auch ihr Oberteil zu Boden, stampft wütend mit dem rechten Fuß auf, trampelt ein heftiges Tremolo, läßt ein zorniges, in höhere Tonlagen gezogenes „Uuuhh!” hören und stürmt ins Obergeschoß. Eine Tür knallt, vermutlich die von Karinhall.

Maren hat keine Zeit sich zu wundern. Ihre Zwillinge vor der Tür haben noch nichts für die seltsamen Verhaltensweisen ihrer Schwestern übrig. Sie müssen nach dem Spaziergang einfach nur gestillt und zu Bett gebracht werden.

*

Kommissar von Malvoisin sitzt in seinem Büro im Lübecker Polizeipräsidium und studiert seine Niederschrift zur “Leiche 21”. Ihm gegenüber sieht sein Kollege Frederik Langeland Fallberichte am Bildschirm durch. Malvoisin legt die Blätter hin.

„Ich kann mir die ‘21’ auf dem Bauch des Toten nicht erklären. Was soll das? Das Alter des Getöteten ist es sicher nicht. Ein Code? Leiche Nummer 21?

Langeland überlegt und kommt zu dem Ergebnis „Solch eine Mordserie hatten wir hier noch nicht. Die Datenbanken spucken nichts aus was passen könnte.”

Malvoisin kratzt sich am Kopf. „Oder ein neuer Fritz Haarmann?” Er runzelt die Stirn. „Das fehlte uns gerade noch.”

Langeland sieht auf. „Wer ist das denn?”

„Ach, das ist lange her. Das kannst Du als Däne nicht wissen.“

Langeland reagiert etwas pikiert: „Danke für den Hinweis.“

Malvoisin schmunzelt. „Krieg’ Dich ein, die meisten deutschen Kollegen wissen das nicht mehr. Das war damals im Reich. Haarmann stand auf junge Burschen, hat seit 1918 mindestens 24 umgebracht und Wurst aus ihnen gemacht.” Langeland schüttelt es sichtbar. „1925 wurde er mit dem Schwert hingerichtet. In Hannover, ich glaube am 15. April.”

Langeland staunt über Malvoisins Detailwissen. „Das weißt Du so genau? Und ich dachte, das Schwert war nur für vornehme Delinquenten, hm?”

„In England und Frankreich vielleicht, früher, Königin Anne Boleyn zum Beispiel - da mußte der Henker das zarte Hälschen noch perfekt treffen können.“ Er zielt mit seiner rechten Handkante in der Luft gegen ein unsichtbares Hälschen. „Das waren noch Meister ihres Fachs, hochbezahlt, Guillotine kann doch jeder …“. Malvoisin schaut geringschätzig. Langeland verzieht sein Gesicht. Malvoisin merkt selber, daß er gerade etwas makaber geworden ist und räuspert sich durch. „Na ja, Geschichte eben, mein Hobby, Du weißt doch. Und ich lese Bücher. Auf’s Internet verlasse ich mich nicht. Am Ende noch dieses überschätzte Wiki-Dingsda.”

Langeland ergänzt „-pedia.”

„Wie? Ach so. Ja, genau das. Unwissenschaftlicher Krampf. Aber die Jungen …”

Es klingelt das Telephon. Er nimmt ab.

„K 1, Malvoisin. - Ah, Klinge, hast Du schon ‘was? - Sollen wir ‘rüberkommen? - Gut, bis gleich.”

Malvoisin erhebt sich im Auflegen. „Fritz, komm’. Wir haben ein Rendez-vous mit einer Leiche. Und mach‘ den Computer aus. Auch Strom kostet Steuergelder.”

Langeland in maulig gedehntem Ton: „Jawohl, Euer Majestät.”

Malvoisin ist schon auf dem Weg zur Tür und dreht sich um. „Wie bitte?”

Langeland sieht auf den Bildschirm: „Tatsächlich. 15. April 1925.” Er fährt den Computer herunter, schaltet alles aus und geht auf Malvoisin zu. Der sieht in verwundert an. „Majestät? Ist Dir zu heiß?”

„Martin, Du bist mein Chef, und ich liebe Dich trotzdem, und Du bist mein Freund, weil Du ein feiner Kerl bist, aber manchmal benimmst Du Dich wie meine Königin, und ‚Durchlaucht’ darf ich ja nicht sagen. Keine Lust, wieder schwule Pornos anzusehen. Brrr.” Langeland friert es, trotz der Hitze.

Malvoisin sieht seinen Kollegen kopfschüttelnd an. „Dir ist wirklich zu heiß, ha?”

Langeland ist zwar nur halber Däne, aber die Königin ist auch seine Königin. Er liebt sie auf Abstand, trotz ihrer Eigenarten.

„Nein, wieso? Die zweite Margarethe geht jeden Abend persönlich durchs Schloß und schaltet alle Lampen aus. Wußtest Du das nicht? Für Zigaretten gibt sie viel Geld aus, man hört von 70 am Tag, aber am Licht spart sie.”

Malvoisin wußte das nicht. „Oh, ist das so? Hhm. Und weißt Du, was aus diesem Marko geworden ist?”

„Nö. Wieso?”

„Nur so.”

Malvoisin weiß selbst, nicht warum seine Erinnerung gerade diesen Namen aufgerufen hat. Vorahnungen.

*

Marko Reddemann hatte tags zuvor einen interessanten gemischten Dreier. Ein Kommilitone war mit seiner Freundin zu Besuch nach Plön gekommen. Britto und Ariane. Sie hatten einen schönen Abend und eine noch heißere Nacht miteinander verbracht.

Kurz vor 10 Uhr war Marko aufgestanden, denn er mußte zu einem Vorstellungsgespräch um Zwölf pünktlich in Kiel sein. Britto und Ariane schliefen noch. Er hatte sich leise hinausgeschlichen, geduscht, ein schnelles Frühstück für sich und für die beiden ein reichhaltiges gemacht, einen Zettel geschrieben, sie sollten sich Zeit lassen und dann einfach die Tür zuziehen.

Abends erfuhr er, nachdem er nach anfänglichen Schwierigkeiten den Weg nach Hause gefunden hatte, daß sie seine Gastfreundschaft tatsächlich “etwas” ausgedehnt und die Nacht mit großem Vergnügen fortgesetzt hatten. Er fand seine Wohnung dennoch piekfein aufgeräumt vor.

Aber noch mehr gefiel ihm, daß er wieder einen Job hatte - und das mit sehr angenehmen Begleitumständen.

Marko hatte in Kiel erst ein wenig suchen müssen, er war fast schon in Altenholz gelandet. In der Nähe der Ahornallee fand er sein Ziel. Eine anständige Adresse. Von außen sagte es ihm zu. Four Starfish Film GmbH stand da in neonblauer Schrift.

Etwa zweieinhalb Stunden später würde Marko vorübergehend vergessen haben, wo er wohnte.

*

Jan und Christian kommen am Anwesen der Bildhauerin an. Jan stellt seinen Polo am Tor ab. Dort steht schon ein anderer, froschgrüner, mit Ostholsteiner Kennzeichen. Sieht gebraucht aus.

„Aufgeregt?” Christian sieht Jan an. „Warum? Das ist doch nicht viel anders als für Großonkel Flo Photos zu machen.” „Na, dann los.”

Die Freunde steigen aus. Christian sieht sich um. Kein Mensch zu sehen. Eine ruhige, fast einsame Ecke, aber Künstler brauchen das wohl, denkt er sich.

„Ob noch andere Models gekommen sind?” Christian deutet auf den kleinen “Frosch”. Jan zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung. Gesagt hat sie nichts. Aus dem Kreis ist er jedenfalls. OH-SS 1990. Schon mal gesehen?”

„Nö, der Grünling wär’ mir aufgefallen. Wer fährt denn mit so ‘ner Farbe?” Christian schüttelt verständnislos über solch eine Geschmacksverirrung den Kopf. Er wirft einen kurzen Blick ins Innere. „Mädchenauto, hm.”

Jan schließt ab, wirft Christian einen aufmunternden Blick zu und sie nähern sich dem hölzernen, zweiflügeligen Tor. Es könnte einen Anstrich gebrauchen. Im Hintergrund ist das große reetgedeckte Haupthaus zu sehen, daneben einige kleinere Wirtschaftsgebäude.

Jan hebt den Verschlußbügel hoch, schiebt einen Flügel nur so weit auf, daß beide hindurchpassen. Sie treten ein, Jan schiebt den leicht schwingenden Torflügel wieder zu und legt den Verschluß über. Kurzes Rütteln - hält.

Während sie auf den Hof zugehen, verläßt ein junges Mädchen ein Nebengebäude, nimmt ein Fahrrad und kommt auf die Freunde zu. Sie sehen sich vielsagend lächelnd an, als sie bemerken, daß sich ihnen eine Schönheit nähert. Sie hat rückenlange goldblonde Haare, die offen im Wind wehen und im Sonnenschein glänzen. Bald haben sie sich erreicht und bleiben voreinander stehen. Das Mädchen ist in ein bauchfreies gelbes T-Shirt und blaue Jeans gekleidet, ihre nackten Füße stecken in hellen Leinenschuhen.

„Moin.”

„Moin.”

„Heißt einer von Euch Jan?”

„Woher …?” Die Freunde sehen erst sich und dann die optisch etwa 18jährige fragend an.

„Ich bin Jan.”

„Kristin wartet schon auf Dich.” Mit lächelndem Blick mustert die Schöne Christian. „Die Zugabe wird sie freuen. Bist Du sein Bruder?”

„Das ist mein Freund Christian. Und wer bist Du?”

„Ich heiße Sigrun.”

Während Christian stumm bleibt und mit leuchtenden Augen Sigrun betrachtet, fragt Jan nach.

„Und weiter?”

„Das wird sich finden.”

„Wo?”

„Hier oder …” Sigrun überlegt kurz. „Kennt Ihr Lensterstrand?”

„Ob wir Lensterstrand kennen? Wir sind hier geboren”, trumpfen sie auf. Die Freunde sehen sich grinsend an.

„Ach so, ich bin noch nicht so lange in der Gegend. Man sieht sich.”

Sigrun verabschiedet sich mit einem feinen Lächeln und geht. Die Freunde sehen ihr fasziniert nach. Sigrun dreht sich hinter dem Tor noch einmal um und winkt ihnen zu. Jan winkt zurück. Sigrun schließt das Tor, besteigt das Rad und fährt los. Jan faßt sich als erster.

„Mann, Alter, den Körper sollte man Klavier spielen können.”

„Hast Du dieses Lächeln gesehen? Überirdisch.” Christian ist ganz weg.

„Schau mein Lächeln an, Alter.” Christian reagiert nicht.

„Hej, Erde an Christian. Hörst Du mich?” Jan schüttelt Christian an der Schulter.

„Was?”

„Mein Lächeln.”

„Was ist mit Deinem Lächeln?”

„Ansehen.”

„Warum? Kenne ich doch schon.”

„Weißt Du noch, warum wir hier sind?”

„Warum?”

„Ach, du meine Güte.”

„Wieso, ach, du meine Güte‘?”

„Blitzverliebt.”

„Wer?”

„Na Du.”

„Ich?”

„Ja.”

„In wen?”

„Blitz, totaler Blitz.”

„Wie, kommt ein Gewitter?” Christian dreht sich um, sieht gen Himmel. „Was hast Du denn mit Blitz? Blauer Himmel, keine Wolke. Wo soll denn da ein Blitz herkommen? Bist Du duun?”

„Nee, jemand anders.”

„Wer?”

„Du.”

„Ich?”

„Ja.”

„Wieso?”

Jan seufzt vernehmlich. „Ich geb’s auf.”

„Was?”

„Deinen Verstand zu finden.”

„Warum?”

„Weil Du ihn gerade verloren hast.”

„Wo?”

„Hier.”

„Bist Du blöd?”

„Nein, aber Du, Blitzverblödung.”

„Sag’ mal, ist Dir zu heiß?”

„Mir nicht, aber Dir.”

„Warum?”

„Weil bei Dir der Blitz eingeschlagen hat.”

„Welcher Blitz?”

„Der Dich gleich trifft, wenn Du weiter so blöd fragst.”

„Wer fragt blöd?”

„Du.”

„Ich?”

„Ja.”

„Warum?”

„Weil ich Dich auch liebe.”

„Das weiß ich doch, was redest Du denn so komisch?”

„Ach, ich wollte nur wissen, ob Du noch weißt, was wir hier machen.”

„Was machen wir denn hier?”

„Na rate mal.”

„Warum soll ich raten?”

„Wen wir gerade getroffen haben.”

„Wir haben jemanden getroffen?”

„Deine zukünftige Ehefrau.”

Christian lacht auf. „Bist Du blöd? Hier ist doch keine Ehefrau, und Dich werde ich sicher nicht heiraten, Du Affe.”

„Das käme auf einen Versuch an.”

„Ist Dir zu heiß?” Christian faßt Jan an die Stirn, als sie von einer weiblichen Stimme angesprochen werden.

„Wollt Ihr nicht lieber hereinkommen? Dann könnt Ihr Eure Diskussion bei einem kalten Tee fortsetzen.” Die Freunde drehen sich um.

Vor ihnen steht eine schöne junge Frau, wohl 25 bis 27 Jahre alt, etwa 1,75 m groß, lange blonde Haare, grüne Augen, bekleidet mit einem offensichtlich vielbenutzten, im Grundton hellgrauen, vorn offenen Arbeitskittel, darunter ein unter der Brust geknotetes rotes Hemd, wodurch ein atemberaubend schöner, flacher Bauch zu sehen ist. Sie trägt blaue Jeans und die nackten Füße stecken in braunen Sandalen, die manch einen Farbklecks abbekommen haben.

„Moin Kristin. Ich hoffe, wir sind nicht unpünktlich.”

„Nein, seid Ihr nicht. Aber was war denn, und wen hast Du da mitgebracht?”

„Das ist mein sonst ganz normaler Freund Christian aus Kellenhusen, aber er hatte gerade eine Erscheinung …”

„Was hatte ich?”

„Fang’ nicht schon wieder an.”

„Womit?”

„Vergiß es.”

„Was?”

„Ach, Ihr habt Sigrun getroffen?”

„Richtig.”

„Dann verstehe ich.”

„Was versteht sie?” Christian sieht Jan fragend an.

„Warum Du blitzverblödet bist.”

„Wer ist hier blöde?”

„Du.”

„Ich?”

„Ja.”

Christian sieht wechselnd Jan und Kristin an, die sich eines breiten Schmunzelns nicht erwehren kann. „Sigrun hat solch eine verwirrende Wirkung.” Christian hält inne. „Sigrun?” Er sieht Kristin an. „Hast Du Sigrun gesagt?”

„Ja, habe ich.”

„Ich habe vorhin einen Engel gesehen. Hab’ ich vorhin einen Engel gesehen?”

„Vermutlich, aber …”

Christian unterbricht Jan. „Wo ist er? Ich muß mit ihm, äh, ihr sprechen. Tut mir leid, ich muß weg, sie finden.” Christian macht Anstalten, zu gehen. Jan hält ihn fest.

„Hiergeblieben. Jetzt haben wir eine Verabredung mit Kristin und später kannst Du Sigrun wiedersehen.”

„Ja, aber …”

Jan duldet keinen weiteren Widerspruch und schiebt Christian an Kristin vorbei zum Haus. Kristin folgt ihnen schmunzelnd und schüttelt mit dem Kopf.

*

In der Gerichtsmedizin Lübeck betreten Malvoisin und Langeland den Obduktionssaal. Auf zwei Tischen liegen abgedeckte Leichen. Zwischen ihnen steht Professor Anderson.

„Und vier Kopien, wie immer.” Er legt das Diktaphon weg, bemerkt Malvoisin und Fritz und wendet sich ihnen zu.

„Da seid Ihr ja schon.”

„Was gibt’s, Klinge? Etwas Besonderes?”

„Das kann man wohl sagen. Ich bin jetzt schon 23 Jahre im Geschäft und habe einiges gesehen. Malte Kröger im letzten Sommer war ja schon außergewöhnlich, aber es kommt doch immer wieder ‘was Neues.” Er schlägt das grüne Abdecktuch zurück. Vor ihnen liegt der gewaschene Tote aus dem Eutiner Staatsforst - mit “Kreuz-Reißverschluß“. Langeland tritt näher und beugt sich über ihn.

„Das muß mal ein schöner Mensch gewesen sein.”

Malvoisin wundert sich.

„Daß Du dafür einen Blick hast. Siehst doch sonst nur Frauen an.”

„Ich hab’ nicht gewechselt, wenn Du das meinst. Aber erstens war sein Gesicht blutverschmiert und zweitens sieht man das bei einem Mann meist nur auf den zweiten Blick, wenn überhaupt.”

„So, so.” Malvoisin wendet sich dem Professor zu. „Aber Du wolltest uns sicher nicht seine …”, er deutet auf den Toten, „… schwindende Schönheit vorführen.”

Professor Anderson setzt ein Gesicht auf, als wolle er eine Vorlesung halten. Nur das Stehpult fehlt.

„Oh, sag’ das nicht. Der Tod kann optisch sehr schön sein, auch wenn sich das den meisten Menschen nur selten oder gar nicht erschließt, aber zur Sache. Kennst Du so etwas?”

Professor Anderson hält Malvoisin einen längeren Gegenstand zur Betrachtung hin.

„Ein Dildo, ja und?” Malvoisin zieht die rechte Augenbraue hoch.

„Braucht ein Mann einen Dildo?”

„Möchtest Du jetzt mein Allgemein- oder Geheimwissen abfragen, was zwischen Menschen alles möglich ist?” Seine Augenbraue ist so hochgezogen, daß man befürchten könnte, sie bliebe für immer in dieser Position.

Professor Anderson sieht Malvoisin verschmitzt an. „Leg’ doch mal los, vielleicht erfahre ich noch etwas Neues.”

Malvoisin kann nicht sehen, wie krampfhaft Langeland versucht, sich das Lachen zu verkneifen.

Malvoisin sieht Professor Anderson ungehalten an. „Klinge, ich hab’ nicht ewig Zeit. Spuck’s aus. Woher kommt der Dildo und was hat der Tote damit zu tun?” Malvoisin klingt genervt.

„Woher er kommt, kann ich Dir nicht nur sagen, sondern auch zeigen. Herr Langeland, würden Sie mir mal helfen?” Professor Anderson deutet an, den Toten anzuheben.

„Fall untersuchen ja, Tote anfassen nein.”

„Sind Sie immer so püttjerig?”

„Ohne Handschuhe immer, Herr Professor.” Langelands Hände verschwinden hinter seinem Rücken. Seine Mimik ist ein einziges Igitt, wobei seine Gesichtsfalten schon einmal für das Aussehen in sechzig Jahren üben.

Anderson verzieht auch sein Gesicht, aber anders, irgendwie unwirsch. Er ruft seine Assistentin Kronborg.

„Lilli, komm’ mal her. Hast Du noch Handschuhe an?”

„Allzeit bereit, Herr Professor.”

Fräulein Kronborg, auf das “Fräulein” legt sie größten Wert, man müsse schließlich anzeigen, daß man als Frau zu haben sei, wie sie nicht müde wird zu betonen, eilt dienstbeflissen herbei.

„Heb’ ihn mal an und zeig’ uns die Kehrseite.”

Malvoisin und Langeland sehen sich achselzuckend und augenbrauenanhebend an. Professor Anderson legt den Dildo an die Poritze.

„Hier, meine Lieben, da kommt er her.”

„Zwischen den Pobacken eingeklemmt? Das hätten wir doch sehen müssen.”

„Ihr versteht nicht. Er hatte ihn im Rectum.”

„Wie bitte?” Malvoisin zieht die rechte Augenbraue wieder bedenklich hoch. Sie bleibt vermutlich wirklich einmal dort oben.

„Eine Schwuchtel?”

„Nicht so voreilig.” Anderson sieht Langeland mißbilligend an. „Richtig ist, daß er, und ich verbitte mir jegliches Grinsen, nüchtern betrachtet, regelrecht verkorkt wurde, wer immer es getan haben mag. Und er hatte vor seinem Tod sexuellen Verkehr. Wir haben Samenreste an seinem Penis gefunden, aber nicht im Analbereich. Er hat Oral- und/oder Vaginalverkehr gehabt und muß kurz danach getötet worden sein, wenn er ein normal reinlicher Mensch war.”

„Wie kommst Du darauf?” Malvoisin bohrt nach.

„Er hat sich nicht mehr gewaschen oder ist gewaschen worden. Und er hat Spuren eines starken Betäubungsmittels im Blut. Er wurde außer Gefecht gesetzt und zwar ziemlich schnell. Vielleicht ist der Täter nicht sehr kräftig oder wollte am Ort der Ausschaltung keine Spuren hinterlassen. Es soll sich durch diverse Krimis herumgesprochen haben, daß mit heutigen Möglichkeiten auch abgewischtes Blut sich noch zweifelsfrei feststellen läßt, aber das ist Euer Bier.”

„Du sagst Ausschaltung?“

„Ja. Er ist mit ziemlicher Sicherheit nicht an dem Ort betäubt worden an dem er gestorben ist. Es muß eine gewisse Zeit vergangen sein, sonst hätte er sich nicht mehr selbst an den Hals fassen können, um die Wunde zuzuhalten und bei einem Betäubten ist ein Knebel normalerweise nicht nötig.”

„Kommt als Täter eher ein Mann oder eine Frau in Betracht?”

„Malle! Es kann ein zarter, aber trainierter Mann gewesen sein, eine kräftige Frau, zwei Frauen, zwei Männer, eine Frau und ein Mann, alles ist möglich. Aber geht mal von zwei Personen aus, die das bewerkstelligt haben. Hochziehen und anbinden - allein fast nicht zu machen. Und Sturzverletzungen hat er nicht, also ein Zug - und er hing. Deutliche Hämatome haben wir auch keine, also ist er im Vorgang des Bewußtloswerdens nicht hingefallen, sondern er hat gesessen oder er lag, vielleicht im Bett. Ach, eins noch. Seltsam ist, daß ein kleines Büschel Schamhaare ausgerissen ist. Sieh hier.” Professor Anderson deutet auf die Stelle in dem sehr dichten schwarzen Intimpelz des Toten.

„Herr Professor, wir haben etwas vergessen.” Fräulein Kronborg hat wie ermahnend den rechten Zeigefinger erhoben und geht in den Nachbarraum. Die drei Männer sehen ihr nach und sich achselzuckend an. Anderson räuspert sich.

„Und wenn ich Dir eine Vermutung mitgeben darf, was das ungewöhnliche Verkorken betrifft.”

„Ja, laß’ hören.” Malvoisin ist gespannt was nun kommt.

„Es kann ein verunglücktes Liebesspiel gewesen sein, allerdings habe ich keine Anzeichen für Analverkehr bei ihm gefunden, geschweige denn häufigen. Ich glaube eher, es könnte eine Demütigung gewesen sein. Es ist nur so eine Ahnung, aber das werdet Ihr erst herausfinden, wenn Ihr sein soziales Umfeld kennt und Kontaktpersonen Euch sein sexuelles Verhalten offenbaren.”

„Dank’ Dir, Klinge, für Deine Erkenntnisse. Das wäre es dann erst einmal.” Zu Langeland gewandt: „Fritz, hast Du Deine Digitalkamera dabei?”

„Immer am Mann.”

„Dann mach’ bitte eine Aufnahme von ihm.”

„Seine ganze Schönheit oder nur Brustbild?”

Malvoisins genervte Mimik genügt wortlos.

„Ist ja schon gut. Hätte sowieso nicht geglaubt, daß ihn jemand an seinem Schwanz wiedererkennt. Und Tätowierungen hat er ja keine.”

Anderson greift ein.

„Sagen Sie das nicht. Haben Sie das nicht bemerkt?”

„Was, bitte? Tätowierungen?” Langeland läßt die Kamera sinken.

Anderson schlägt das grüne Tuch ganz zum Fußende zurück. „Sehen Sie genau hin.” Er deutet auf die Genitalien.

„Beschnitten. Ja und? Ist das so wichtig? Selten, fast nur bei Juden und Moslems.” Malvoisin zieht seine Stirn in Falten, steht auf der Leitung, Langeland weigert sich innerlich.

„Unser Freund hier ist nicht aus religiösen Gründen beschnitten worden. Er hatte mit ziemlicher Sicherheit eine Vorhautverengung und die dürfte bereits im frühen Kindesalter behoben worden sein. Seine sonst wohlgeformte Eichel ist insgesamt deutlich breiter als der Schaft seines Genitals. Er hätte ohne Operation als pubertierender Junge nur mit Schmerzen, wenn überhaupt, onanieren können und Geschlechtsverkehr wäre für ihn kaum möglich gewesen. Schon Spontanerektionen als kleiner Junge dürften für ihn schmerzhaft gewesen sein, daher der Eingriff. Sein Hausarzt erkennt ihn bestimmt wieder und jede Frau, die mit ihm intim war, ebenso.” Anderson überlegt kurz. „Männer natürlich auch, sollte er …, Ihr wißt schon.”

Jetzt sehen Malvoisin und sein Kollege tatsächlich genau hin. Malvoisin murmelt: „Das könnte wohl sein, das Wiedererkennen.“ Er deutet auf das Objekt der neuen Erkenntnis. „Fritz, davon auch.“

Langeland macht Aufnahmen von beiden Seiten und vom Edelsten und steckt die Kamera nach der Bildüberprüfung weg. Anderson deckt die Leiche wieder ab.

Fräulein Kronborg kommt zurück und hält ihrem Chef zwei kleine durchsichtige Plastiktüten hin, sorgfältig beschriftet: “Fundort: Schamhaare Opfer, Eutiner Staatsforst“, “Fundort: Mund Opfer, Eutiner Staatsforst“.

„Ach ja, richtig!” Anderson hat tatsächlich etwas vergessen. „Eingedenk, daß wir Malte Kröger etwas verspätet gekämmt haben, kämmen wir besonders dicht intimbehaarte Tötungsopfer mit als erstes, und das haben wir bei John Doe gefunden.”

Malvoisin und Langeland sehen erst sich und dann die beiden Fundstücke an.

„Es sind weibliche Schamhaare, schwarz, aber gefärbt. Die natürliche Farbe ist rot. Fundort Mund und Pelz unseres doch nicht ganz so schweigsamen Freundes.”

„Wat dat nich all gifft!” Die rechte Augenbraue fährt wieder hoch.

„Nichts außergewöhnliches, mein Lieber, der junge Mann hatte, wie ich Dir schon sagte, unmittelbar vor seiner Ausschaltung Sex, und zwar mit einer Rothaarigen, und er hat seine Partnerin vaginal und oral verwöhnt, und diese Partnerin hat definitiv einen roten Pelz. Er muß sehr viril gewesen sein, denn er hat sicher eine heftige und lange Vereinigung mit ihr vollzogen, dürfte auch ‘gerührt’ haben, weshalb sich bei ihr lockere Haare lösten, die sich mit seinen relativ harten Haaren verhakten, wie beim Klettverschluß, und ein intensiver Cunnilingus kam dazu.”

„Und warum hat er die Haare nicht ausgespuckt?” Langeland erinnert sich.

„Im Eifer des Gefechts. Sie waren doch sicher auch schon mal leidenschaftlich …”

„Keine Einzelheiten, Klinge, wir verstehen schon. Aber daher auch sein Haarausriß?”

„Nein, das wohl kaum, und als erotisches Souvenir wurden seine fehlenden Schamhaare auch nicht abgeschnitten. Es ist ein glatter, von der Fläche her unregelmäßiger Ausriß.”

Malvoisin versucht, die letzte Information einzuordnen und will sich gerade verabschieden, da fällt ihm etwas ein.

„Übrigens, was ist mit dem alten Wilhelm Handerson, den wir gestern früh gefunden haben?”

„Ach, der alte Handerson. Der hat sich ganz natürlich davongemacht.”

Professor Anderson schlägt auf dem Nachbartisch das grüne Tuch bis zur Brust des Toten zurück.

„Herzstillstand. Die Kopfwunde hat er sich im Todesfall zugezogen. Ein schöner, schmerzloser Tod. Hätte es nur nicht im Stehen machen dürfen.” Anderson schmunzelt, wie nur sein Berufsstand in der Nähe des Todes schmunzeln kann.

„Na, dann wird der Staatsanwalt die Leiche sicher bald freigeben.”

„Hat er schon. Die Bestatter kommen gleich.” Professor Anderson deckt den Toten wieder ab. „Können sich die Erben freuen?”

Malvoisin nickt, schmunzelt nun seinerseits und berichtet gestenreich.

„Oh ja, das tun sie sicher. Fünf Häuser, davon eins in bester Lage in Eutin, 30 Ferienwohnungen in Dahme, Kellenhusen und Grömitz, etwa 350.000 €uro Mieteinnahmen im Jahr. Da fließen nur Freudentränen. Dat glöv man. Er war 93, hat zwei Frauen überlebt, zwei seiner sechs Kinder, ein schönes Leben gehabt. Trauer ist da doch nur Heuchelei. Da lob ich mir Irland. Der Tote inmitten der Party, einer singt ihm ein herrlich traurig-schönes irisches Totenlied und dann wird gefeiert. Der Alte hat’s überstanden - herrlich.” Malvoisin seufzt leicht. Die Iren sind um ihre menschenfreundliche Trauerkultur zu beneiden. „Fritz, laß uns gehen. Danke Klinge, und tschüs. Bericht genügt morgen früh.” Malvoisin klopft Anderson dankend gegen den linken Oberarm und geht hinaus.

„Mange tak.” Langeland zuckt die Achseln und folgt seinem Chef. Professor Anderson sieht beiden nach und räuspert sich durch.

„Lilli!”

„Ja, Chef?”

*

Nachdem Malvoisin und Langeland in Dahme die Kurverwaltung und alle Strandkorbvermietungen abgeklappert haben, überall nur Kopfschütteln, machen sie sich auf den Weg nach Kellenhusen.

Auf Höhe Gruberdieken bedeutet Malvoisin seinem Partner, an der Polizeistation in Grube anzuhalten. Vor der Hauptstr. 69 läßt er sich Langelands Kamera geben und steigt aus. Nach zehn Minuten kommt er zurück.

„So. Nu’ hat Arne Weber auch sein Fahndungsphoto. Über die Eichelportraits hat er sich etwas gewundert. Ob er das vorzeigen solle! Und er darf die Zimmer- und Wohnungsvermieter in Dahme und Umgebung abgrasen.”

„Hat er sich gefreut?”

„Er konnte es verbergen.”

„Kellenhusen?”

„Jou, aber halte bitte da vorn bei Aldi an. Maren wollte noch ein paar Kleinigkeiten. Da spart sie sich einen Weg.”

„Ein Hoch der Ehe, ein dreifach Hoch.”

„Frier Dein Grinsen wieder ein, alte Spottdrossel.”

„Spottdrossel? Na bitte, aber alt verbitt ich mir.”

„Mimose.”

Sticheleien unter Freunden, nicht böse gemeint, aber wenn sie sein müssen, müssen sie sein.

Malvoisin weiß, was er will, und so ist der Einkauf schnell erledigt. Aber er ärgert sich wieder. „Für dasselbe in D-Mark wär’ der Einkaufswagen voll gewesen, bis obenhin. Scheiß €uro!“

Langeland biegt in die Waldstraße nach Kellenhusen ein, durchfährt den Eutiner Staatsforst, als ihn Malvoisin auffordert gegenüber der Bushaltestelle am Kriegerdenkmal anzuhalten. Er hat seine Tochter Tessa entdeckt. Malvoisin steigt aus.

„Tessa. - TESSA!”

Das Mädchen dreht sich um und winkt ihm lachend zu.

„Hallo, Papa! Schon Feierabend?”

Malvoisin öffnet den hinteren Schlag, holt die Einkaufstasche heraus und überquert die Straße.

„Hallo, meine Kleine.” Die beiden tauschen Wangenküsse. Er hält ihr den Einkauf hin. „Nimm das bitte mit. Deine Mutter wartet darauf.”

„Muß das sein?” Tessa zieht ein mauliges Gesicht. „Ich bin mit Corinne verabredet.”

„Heißt Deine Mutter Corinne?”

„Papa!” Tessa quengelt.

„Du willst doch sicher etwas zu essen haben, nicht?” „Ich bin nicht so verfressen.”

„Ausrede Nr. 117? Du kennst den Weg nach Hause, und unterwegs kannst Du über Ausrede Nr. 118 nachdenken. Marschrichtung Denkmalstraße, Schlehenkoppel. Dein Zuhause kennst Du. Abmarsch!”

Tessa merkt, daß weiterer Widerspruch sinnlos ist, nimmt die Tasche und zieht beleidigt ab.

Malvoisin sieht seinem kleinen Liebling kopfschüttelnd, aber lächelnd nach.

„Falls ‘was ist, sag’ Deiner Mutter, daß wir jetzt etwa zwei Stunden dienstlich auf der Promenade sind”, ruft er ihr nach.

„Ja, ja.” Sie ist stinkig.

Tessa zückt im Gehen ihr Handy und tastet eine Nummer ein. Als die Angerufene sich meldet, bleibt sie stehen und stellt die Tasche ab.

„Corinne? - Ich bin gerade meinem Vater in die Arme gelaufen. - Nee, auf dem Weg nach Hause. - - Ich schleppe gerade den Einkauf. - Warum? Hast Du nicht schon mal gesehen, wie uncool mein Vater einen ansieht, wenn er uncool wird? - In ‘ner Stunde am Café Daggi? - Das kostet ihn zwei große Eisbecher. - Hast Du schon wieder einen im Visier? - Oh cool! Wie sieht er aus? …” Tessa grinst und schaltet ihr Kopfkino ein.

Derweil biegt Langeland in den Ring Richtung Strandstraße ein, fährt am Theehaus vorbei, überquert den Landesdeich und stellt den Wagen auf dem kleinen Parkplatz hinter dem Strandcasino ab.

„Wir gehen erst einmal zum Kurmittelhaus und nehmen uns von dort aus alle Korbvermieter vor. Am Hundestrand wird er wohl nicht gewesen sein, aber fragen müssen wir natürlich.”

„Also, wieder mal Aktion Nadel im Heuhaufen.”

„Du sagst es.”

Während sie den Platz zwischen Strandkaufhaus und Strandcasino überqueren, hört Malvoisin hinter sich eine ihm wohlbekannte Stimme:

„Martin, hallo!”

Malvoisin dreht sich um und sieht einen strahlenden Christian von Langfuhr auf sich zukommen.

„Ja, Christian, das gibt’s ja nicht. Wo kommst Du denn her?” Malvoisin nimmt seinen Rembrandt ab. Die Freunde fallen sich um den Hals und begrüßen sich herzlich.

„Im Moment komme ich von Mama Lehmann.”

„Wolltest Du nicht erst in zwei Wochen anreisen?”

„Es hat ein Gast bei Mama Lehmann abgesagt, sie hat mich gefragt, ob ich früher kommen will. Die Verlängerung kam mir zu pass, und da bin ich.”

„Großartig. Maren wird sich freuen und Christian erst. Aber entschuldige uns bitte. Wir sind am Anfang von Ermittlungsarbeiten und müssen weiter. Ein reichlich seltsamer Fall. Scheint mir ähnlich rätselhaft wie mit Malte Kröger.”

„Na, da bin ich wohl wieder genau zur rechten Zeit gekommen.” Langfuhr wittert eine weitere gute Geschichte.

„Mag sein, mein Alter. Meinen Kollegen Frederik Langeland kennst Du sicher noch.” Malvoisin macht eine vorstellende Handbewegung. Die Männer reichen sich die Hand.

„Aber natürlich. Moin, Herr Langeland.”

„Moin, Herr von Langfuhr.” Er lächelt ihn freundlich an und staunt innerlich über den kräftigen Händedruck eines Tintenklecksers. Eine Erinnerung an Langeland läßt Langfuhr einen Tick mehr lächeln als sonst bei einer angenehmen Begrüßung.

„Dann viel Glück Euch beiden.” Zu Malvoisin gewandt: „Du, ich komm’ bald zu Euch ‘rüber. Sag’ Deinen Lieben schöne Grüße.” Und zu Langeland gewandt: „Und für Sie hoffe ich, daß es am Ende nicht wieder Wasser von oben gibt. Man sieht sich.” Langfuhr grient, so wie man eben grient, wenn man sich einen begossenen Pudel vorstellt, und setzt damit seinen Weg fort.

Langeland sieht ihm nach. „Das weiß er noch?”

Malvoisin schmunzelt. „Schriftsteller und Historiker merken sich alles - und er ist beides.”

„Dusend Düwels, da muß man ja aufpassen, was man sagt.”

„Das mach’ man, sonst findest Du Dich in einem seiner Bücher wieder. Aber jetzt komm. Wir haben zu tun.”

*

In Kristin Holmdóttirs Haus haben die Künstlerin, Jan und Christian es sich auf einer Sitzgruppe beim Kamin bequem gemacht. Sie hat ein paar kleine Sandwiches vorbereitet, dazu eine Auswahl an Fruchtsäften und kaltem, leicht gesüßtem Tee bereitgestellt. Christian hat die erste Verwirrung um Sigrun überwunden, äußerlich zumindest. Er stellt Kristin neugierige Fragen.

„Bist Du schon lange in Deutschland? Dein Deutsch ist ausgezeichnet.”

„Oh, dankeschön, aber Deutsch ist meine Muttersprache.”

„Ich dachte, Du bist Isländerin?”

„Mein Vaterland ist Island, denn mein Papa Holm Sigurdsson ist dort geboren, stammt sogar in direkter Linie von Wikingern ab, die einst aus Norwegen dorthin kamen, aber meine Mama ist eine Deutsche, gar nicht weit von hier auf einem Gut bei Eutin geboren.

„Und wie sind die beiden sich begegnet?”

„Das kann ich Dir sagen.” Kristin lehnt sich gegen einen Tisch, der überladen ist mit Arbeitsutensilien, und stützt sich mit den Händen seitlich ab.

„Sie sollte vor knapp 30 Jahren im Auftrag ihres Großvaters, der damals noch den Familiensitz führte, einen besonderen Zuchtbullen bei meinem Großvater besichtigen und kaufen …” Sie lacht hell auf. „… und dabei lief ihr ein anderer prachtvoller Isländer über den Weg. Er hatte im Goethe-Institut in Reykjavik sehr gut die deutsche Sprache gelernt und diente meinem Großvater als Übersetzer. Na ja, Papa hat Mama nicht nur von den Qualitäten unseres Bullen überzeugt, sondern auch von seinen eigenen und das Ergebnis sitzt jetzt hier und freut sich auf die Arbeit mit zwei deutschen männlichen Prachtexemplaren.”

Jan und Christian sehen sich mit leichter Verlegenheit, aber auch stolz lächelnd an. Kristin schmunzelt.

„Kann man denn davon leben, was Du hier machst”, möchte Christian wissen.

„Oh ja, ich kenne noch vom Studium in Hamburg her einige wichtige Kunstsammler. Ich habe schon bis in die USA verkauft. Der Adam da hinten geht in ein paar Tagen an einen Millionär nach Italien.”

„Und was kostet so etwas”, faßt Jan nach.

„150.000.”

„Na dann.” Jan zieht eine Miene gewichtiger Bewunderung. „Die Miete kommt damit ‘rein.” Auch Christian ist platt.

„Und wie lange hast Du dafür gebraucht?” Christian rechnet sich im Stillen aus, wie lange er wohl Modell stehen muß.

„Oh, das wechselt. Jede Figur, jeder Körper ist bereits im Stein vorhanden, ich muß nur die richtigen Stellen finden, ihn herauszuholen. Konsalik brauchte für einen Roman sechs Monate, James Joyce hat an seinem ‚Ulysses‘ sieben Jahre gearbeitet, versteht Ihr? Und der Adam, der hatte seine schöne Figur nach neun Monaten.”

„Und wie lange brauchst Du mit uns? Ich meine nur, damit wir zu Hause Bescheid geben können, ob wir unseren Wohnsitz hierher verlegen müssen. Und mich hast Du ja noch nicht einmal gesehen, ich meine so ganz ohne.”

„Na, dann laß’ doch mal sehen.” Kristin sieht Christian ermunternd und erwartungsvoll an. Der blickt zu Jan.

„Du hast sie gehört, zeig’ Dich. Sie wird begeistert sein.”

„Na gut, wenn Ihr meint.” Christian zieht seine Leinenschuhe aus, steht auf und entkleidet sich. Als Kristin ihn in seiner ganzen Größe und Nacktheit sieht, geht ein fast unmerkliches Zucken durch ihr Gesicht, das sie sogleich mit einem strahlenden Lächeln überspielt.

„Ich habe es geahnt. Du bist eine Schönheit.”

„Jetzt übertreibst Du aber.” Christian senkt verlegen den Kopf.

„Wenn ich’s Dir sage. Ich habe schon einige Modelle gehabt, Ihr habt einige der Figuren draußen gesehen, aber Jan und Du, Ihr seid schon exzeptionell.”

Christian will sich wieder anziehen, aber Kristin wehrt ab.

„Bleib so, dann machen wir mit Dir gleich den Anfang.”

„Anfang? Womit?” Christian schaut kritisch drein. „Kommt mit. Wir gehen ins kleine Atelier.”

„So?” Christian deutet an sich herab, sieht Jan und dann Kristin verwundert an.

„Hast Du die Grundstücksgröße bemerkt?”

Christian nickt.

„Außer uns ist niemand hier. Wer soll Dich sehen, außer uns? Die nächsten Nachbarn sind außer Sichtweite, und selbst wenn. Wen geht es etwas an?”

Die Drei stehen auf und verlassen das Haus. Christian sieht sich trotz Kristins Bemerkungen nach allen Seiten sichernd um. Jan macht sich einen Spaß und hält Christian “des Kaisers Handtuch” vor. Der wehrt ab. „Laß doch den Quatsch.”

Jan schlägt vor „Ich kann mich schnell noch ausziehen, dann bist Du nicht so allein” und grinst breit.

„Blödsinn!”

Jan umarmt seinen Freund über die Schulter, Christian schließt die Umarmung über Jans Hüfte, und so überwinden sie die Überführung nackter Tatsachen.

Kristin amüsiert sich.

„Glaub’ mir, es ist niemand da.”

Aufmerksam folgt ihnen ein blaues Augenpaar.

*

„Wer als Erster im Wasser ist!”

Corinne und ihre neueste Stranderoberung rennen los und stürzen sich in die Wellen, die etwas höher als sonst sich ans Ufer werfen.

Eine gute halbe Stunde zuvor war die Finnjet am Horizont zu sehen. Auf deren stürmisches Geschenk hatten sie gewartet. Corinne und Martin vertrieben sich die Zeit mit dem gegenseitigen Rückeneincremen - eine sehr angenehme Beschäftigung. Martin war froh, endlich ins kalte Wasser zu kommen, denn seine Freude über Corinnes Nähe war ihm deutlich anzusehen.

Nun kraulen beide hinaus zur Sandbank. Dort hofft Martin insgeheim, den Körperkontakt mit seinem süßen Strandflirt unbeobachtet erweitern zu können. Wer achtet schon darauf, was dreißig oder mehr Meter vom Ufer entfernt passiert. Sie erreichen die Standtiefe.

„Kommst Du schon länger nach Kellenhusen? Ich habe Dich hier noch nie gesehen.”

Corinne betrachtet ihr, wie sie findet, hübsches Gegenüber, wie das Salzwasser auf dessen makelloser Haut abperlt. Er bemerkt, daß sie ihn mustert.

„Oh, wir haben in diesem Jahr kein uns passendes Quartier in Grömitz gefunden. Hier haben wir noch etwas hinten am Wald erwischt. Ein nettes dänisches Ferienhaus. Ich glaub’, das gehört hier dem Bäderarzt. Keine Ahnung.”

„Das ist unser Hausarzt. Macht er zusammen mit seiner Frau.” Corinne wedelt im Wasser mit ihren Händen leicht hin und her.

„Coole Hütte jedenfalls. Da kann ich mich auch mal nackt in die Sonne legen, ohne daß gleich einer spießert.”

„Läufst Du gern nackt ’rum?” Corinne sieht ihn verschmitzt an.

„Klar, ist doch geil. Du nicht?”

„Kommt drauf an. Bei mir zu Hause geht das schon.”

„Wo bist Du denn zu Hause?”

„Bist Du immer so neugierig?”

„Bei süßen Mädels immer.”

„Ach, Du kennst wohl viele? Das ist vielleicht ein Filou.

Martin grinst vielsagend.

„Hast Du eine Freundin?”

„Nö, grad nicht. Blöd gelaufen.”

Martin schlägt den Blick nieder, sein Grinsen ist weg.

„Warum?”

Meine Freundin meinte, ich hätte ihrer Freundin im Freibad nicht so intensiv beim Eincremen helfen sollen.”

„Aha.” Corinne schlägt den Blick nieder, aber mit einem verstehenden Lächeln.

„Ich versteh’ immer noch nicht, was daran falsch war.”

„Hast keine Stelle ausgelassen, oder?”

„Sie durfte doch keinen Sonnenbrand kriegen. Bin doch ein höflicher Mann.”

Corinne sagt nichts, läßt nur ein kurzes, verschlucktes Lachen heraus.

„Ach, Du armer Mann.”

Wie tröstend kommt sie näher und legt beide Hände flach auf seine Brust, was Martin mit sofortiger Umarmung beantwortet, die Corinne nur ein wenig abwehrt.

„Trainierst Du viel?”

Martins geheucheltes „Warum?” paßt nicht ganz zu seinem stolzen Blick.

Corinne streicht mit ihrer linken Hand über seine wohlgeformte rechte Schulter und seinen Oberarm, mit der rechten über seine leicht gewölbte Brust.

Martins Mimik zeigt, daß er nicht glauben kann, zum “Nahkampf” zu kommen.

„Du hast so schöne Muskeln. Bist Du …” Corinne sieht ihn fragend an, „… überall so gut gebaut?” Ihre lasziv gefärbte Stimme läßt Martin wohlig erschauern und dann werden seine Augen groß. Corinne nestelt sein Badehosenband auf, was sofortige Wirkung zeigt.

„Hhmmm.” Sie strahlt ihn an, zieht hörbar durch die Nase Luft ein und gleitet an Martin hinab.

Unter Wasser zieht sie seine Badehose herunter, und er steigt “brav” heraus, in Erwartung wundervoller Dinge. Es blubbert, Sand wirbelt auf. Martin schließt genüßlich die Augen.

*

Die Freunde erreichen mit Kristin das Nebengebäude, in dem sich die Künstlerin zusätzlich zum Fotoatelier im Haupthaus eine Bildhauer- und Malerwerkstätte eingerichtet hat.

Die jungen Männer sehen sich um.

Christian entdeckt in dem spartanisch eingerichteten Raum einen niedrigen, leeren Sockel, stellt sich darauf in Positur. „So etwa?”

Kristin dreht sich um und lacht. „Ja, das ist schon gar nicht schlecht. Du bist ein Naturtalent. Manche Models muß ich erst mühsam lockern. Das wird, glaube ich, bei Dir nicht nötig sein.” Mit bewunderndem Blick “scannt” sie ihn ein.

Jan ist es zu heiß geworden, er zieht jetzt doch sein Hemd aus, wirft es über eine Stuhllehne und fläzt sich in einen Sessel.

„Und bei Jan auch”, fügt Kristin schmunzelnd hinzu. Jan macht mit beiden Händen eine Bewegung als wolle er sagen „Alles was Du willst, Baby” und grient selbstbewußt.

Christian steigt derweil vom Sockel herab und setzt sich zu Jan auf eine Sessellehne.

Durch das große Südfenster scheint helles Sonnenlicht, das den weiten Raum golden einfärbt und durch die vielen größeren Gegenstände, Staffeleien mit und ohne Bilder sowie Skulpturen in ein Schattenspiel verwandelt. Die Bilder sind sämtlich männliche und weibliche Akte, meist unfertig.

„Warum sind die meisten Bilder nicht fertig?” Christian steht auf und betrachtet einige aus der Nähe.

Kristin tritt nahe zu Christian hin. Ihre Blicke zeigen, daß er ihr sehr gefällt.

„Oh, das sind die Arbeiten, die ich aus dem Gedächtnis kreiere. Habe ich Photos oder die Modelle im Haus, dann geht es zügiger.”

„Hast Du immer konkrete Modelle oder machst Du auch Idealfiguren?”

„Das ist auch eine gute Frage, Christian. Diese Modelle habe ich alle wenigstens einmal gesehen. Sei es am Strand, in der Sauna oder als Liebhaber.”

„Als Liebhaber?” Christian sieht Kristin mit großen Augen an.

„Ja, warum nicht? Ich bin keine Nonne. Aber der Adam im Haupthaus ist ein Ideal, dafür hatte ich kein lebendes Vorbild. Da hinten steht übrigens eine Figur, die eine tragische Geschichte hat.”

Kristin lehnt sich mit ernstem Gesicht gegen einen Tisch.

„Der Junge war 20, ist an einem plötzlichen Herzstillstand gestorben. Ich wurde eigentlich zum Abnehmen der Totenmaske geholt.”

„Und dann?” Jan richtet sich im Sessel auf während Christian zu der Figur geht.

„Herzstillstand? In dem Alter?” Christian kann es nicht fassen.

„Seit wann ist Herzstillstand eine Frage des Alters? Es kann jeden von uns jederzeit treffen.”

Jan und Christian sehen sich quer durch den Raum an.

„Aber warum dann der ganze Mann?” Jan steht auf und geht ebenfalls näher, um sich die Figur genau anzusehen. Kristin folgt ihm.

„Hauke hieß er, lebte bei seinem verwitweten Vater, und ich glaube, die beiden waren ein Herz und eine Seele. Nachdem ich die Totenmaske abgenommen hatte, schlug ich dem Vater vor, ich könne eine Ganzkörperabnahme machen. Hauke war noch im Tod ein bildschöner junger Mann, mit einem wunderbar gebauten Körper.”

„Ach, sein Edler war so …” Jan schaut kritisch.

„So lang, meinst Du?” Sie schmunzelt, als Jan nickt. „Oh ja, das war er. Ich mußte da nichts künstlich idealisieren, und ich muß zugeben, ich hätte ihn gern lebend kennengelernt.”

„Wen? Den Jungen oder seinen Schwanz?” Christians Blick geht von der Figur zur Künstlerin, wobei er, kaum daß er es gefragt hat, mit hochgezogener rechter Augenbraue leicht den Kopf schräglegt und eine Mimik zeigt, als wolle er gleich äußerst frech grinsen.

Kristin verzieht kaum merklich lächelnd über Christians verbales Direktdraufzu die Mundwinkel. Sie mag das.

„Beide. Und Hauke soll als Mensch sehr liebenswürdig gewesen sein. Leider ein Frühvollendeter. Nur die Figur noch nicht, die muß ich zum Abschluß polieren, deshalb fühlt sie sich noch etwas rauh an.”

Christian fährt mit seiner rechten flachen Hand über Haukes kalte Brust, und es durchläuft ihn ein Schauer. Während er der Figur in die leeren Augen sieht, laufen ihm plötzlich zwei Tränen die Wangen herunter. Der Ansatz seines frechen Grienens ist ganz verschwunden. Jan hat sich wieder in den Sessel gesetzt und Kristin ist weggegangen, so bemerken es beide nicht. Er wischt sie schnell weg. Für einen Augenblick hat Christian furchtbare Angst, so früh sterben zu müssen.

Kristin beginnt, auf einem großen Tisch in einer großen Plastikschüssel eine weiße Masse anzurühren.

„Unterhaltet Ihr Euch einen Augenblick? Ich muß hier etwas vorbereiten.”

Christian schnappt sich einen Stuhl und setzt sich Rückenlehne nach vorn zu Jan. Er beugt sich zu seinem Freund vor und fragt ihn leise:

„Wie findest Du’s hier? Pure Erotik, nicht?”

Jan flüstert Christian zu: „Kristin ist eine faszinierende Frau, rattenscharf.”

„Kann sein, ziemlich sicher sogar. Ein bißchen viel Männer, oder?” Christian sieht sich wieder um.

„Wär’s Dir lieber, sie wäre eine Lesbe?”

„Natürlich nicht. Aber ein paar schöne weibliche Plastiken wären doch nicht schlecht, oder?”

„Ach, Du meinst, vielleicht steht Dein Engel Sigrun hier irgendwo herum?”

„Wieso meine Sigrun? Wie kommst Du denn darauf?”

Jan muß lachen. „Ich erinnere Dich an Deinen Ich-verlier-mal-schnell-meinen-Verstand-Auftritt von vorhin.”

„Wer hat denn vorhin seinen Verstand verloren? Ich?”

„Ja, Du.”

„Warum?”

„Coup de foudre.”

„Was?”

„Französisch.”

„Kannst Du kein Deutsch mehr?”

„Blitzschlag.”

„Fängst Du schon wieder damit an?”

„Womit?”

„Wetteransagen.”

„Wieso Wetter?”

„Das frage ich Dich?”

„Ich rede von Deiner Blitzverliebtheit.” „Blitzverliebt?”

„Ich?”

„Ja.”

„Warum?”

„Sigrun.”

„Was ist mit ihr?”

„Du hast sie angesehen.”

„Wann?”

„Vorhin.”

„Wo?”

„Vor dem Haus.”

„Vor welchem Haus?”

„Dem himmelblauen mit goldenen Sternen auf Fehmarn.”

„Wir waren auf Fehmarn?”

„Nein.”

„Bist Du blöde?”

„Nein, aber Du.”

„Ich?”

„Ja.”

„Warum?”

„Sigrun.”

„Was hast Du immer mit Sigrun?”

„Ich?”

„Ja.”

„Gar nichts.”

„Ja, was willst Du denn?”

„Is’ ja gut, ich mach’ Dir den Trauzeugen.”

„Ich glaub’, ich spinne.”

„Jetzt hast Du’s.”

„Häh?”

Jan steht auf, nimmt Christians Kopf in beide Hände und gibt ihm einen herzhaften Kuß auf den Mund.

„Bist Du verrückt?” Christian sieht Jan entgeistert an und wischt sich den Mund ab.

„Du bist ansteckend.”

„Ich? Warum?”

„Oh, Mann!” Jan läßt sich in den Sessel fallen, faßt sich an den eigenen Kopf und läßt resignierend die erhobenen Arme sinken.

„Was habt Ihr Zwei denn miteinander?” Kristin hat amüsiert die Szene verfolgt. „Und was ist mit Christian?”

„Er hat inwendig Windstärke 12, Orkan Sigrun.” „Und deshalb küßt Du ihn?”

„Ach, das war nur freundbrüderlich gezeigt, daß ich ihn immer noch liebe, obwohl er seit einer halben Stunde an akuter Sigrunitis leidet. Auf Deutsch: er spinnt.”

Kristin sagt darauf nichts, lächelt und kommt auf ihre vorbereitete künstlerische Arbeit zu sprechen.

„Wir machen mit Dir den Anfang, Christian. Gesichts- und Oberkörperabnahme. Kommt mal beide mit.”

Kristin wendet sich zum Gehen, Jan und Christian sehen sich an und folgen ihr wortlos.

Im Raum nebenan bleibt Kristin an einer Liege stehen, mit einer Papierbahn abgedeckt.

„Christian, da lege Dich bitte ausgestreckt auf den Rücken hin.”

Christian folgt der Aufforderung. „Und nun?”

„Jetzt werde ich Dir das Gesicht mit einer Creme einreiben, damit wir die Form nach dem Trocknen gut abnehmen können, und Jan reibt Deinen Oberkörper ein. Das ist wie beim Ausbuttern einer Kuchenform.” Sie reicht Jan eine Dose. „Und dann steckst Du Dir bitte selbst diese beiden Röhrchen in die Nasenlöcher, damit Du weiter atmen kannst, denn Deinen Mund mußt Du jetzt eine Weile geschlossen halten. Und die Augen machst Du bitte auch zu.”

„Und Du, Jan, trägst die Creme bitte gleichmäßig auf, ja?”

„Überall?”

„Natürlich überall, bis zum Oberschenkelansatz. Beine und Füße machen wir separat. Dann gibt es auch keine Probleme mit der Hautatmung.” „Also überall.”

Kristin bemerkt ein Leuchten in Jans Augen beim ‚überall’.

„Bis zum Haaransatz. Den edlen Bereich machen wir separat.”

Jans Leuchten läßt nach.

Christian setzt sich die Atemröhrchen, die ihm Kristin reicht, und schließt die Augen.

Kristin reibt vorsichtig Christians Gesicht und Hals ein. Ihre und Jans Hand berühren sich, als Jan Christians Brust einreibt. Sie halten kurz inne und sehen sich stumm an - dann machen sie weiter. Christian versucht, ruhig zu atmen.

Als Kristin mit Christians Gesicht fertig ist, geht sie kurz zur Seite, um nochmals die Silikonmasse zu rühren und sieht nicht, als Jan wie zufällig Christians Penis berührt, der zuckt.

Kristin stellt die Schüssel mit dem Silikon auf einen Hocker hinter das Kopfende der Liege und beginnt, Christians Gesicht abzudecken. Jan ist mit dem Eincremen des Oberkörpers und der Arme fertig. Kristin und Jan sehen sich lächelnd an. Beide wünschen sich stillschweigend, der andere wäre gerade nicht da. Christian sieht nun nichts mehr, dafür steigt seine innere Erregung.

*

Malvoisin und Langeland kommen zum Vermieterhäuschen von Marga Horch, die davor in ihrem Strandkorb sitzt.

„Moin, Frau Horch.”

„Moin, Herr Kommissar. Moin, Herr Langeland. Was treibt Sie denn unter der Woche auf die Promenade?”

„Wir untersuchen den Fall des Waldtoten, dessen Identität wir noch nicht kennen.”

„Oh ja, böse Geschichte.” Frau Horch ist im Stillen froh, daß der Tote weit weg von ihrem Strandabschnitt gefunden wurde. Sie erinnert sich mit Schaudern an das Theater, ehe sie ihren als Tatort weggetragenen Strandkorb zurück hatte.

„Fritz, zeig Frau Horch doch mal die Bilder auf dem Display.”

Langeland zückt seine Kamera und führt Marga Horch die Aufnahmen vor.

„Haben Sie den Mann schon mal gesehen?”

Frau Horch hält die Hand über die Kamera, um bei dem grellen Sonnenlicht die Bilder besser sehen zu können.

„Nein, tut mir leid. Diesen Mann kenne ich nicht. Haben die anderen ihn erkannt?”

„Nein, leider bislang völlige Fehlanzeige. Jetzt bleibt vermutlich nur noch Grömitz.”

„Tja, tut mir leid. Manche erkennt man ja wieder, die lange als Kinder gekommen sind. Wenn er je hier war, hat er sich arg verändert. Aber nehmen Sie sich doch jeder ein Stück Apfelkuchen mit. Das Blech steht drinnen hinten auf dem Tisch.”

Malvoisin lehnt dankend ab, Langeland geht hinein und greift dankend zu. Er hält Malvoisin ein Stück hin. „Nicht doch mal beißen?“ Die Mimik sagt „Nein!“ und mit einem Achselzucken probiert Fritz Marga Horchs Backkünste aus. Seine Mimik ist die pure Zustimmung. Er hat sich vorsorglich zwei Stücke genommen, was nicht weiter aufgefallen war. Sie verabschieden sich. „Moin!” Malvoisin tippt zwei Finger an seinen Rembrandt. Langeland nickt nur freundlich. Seine Mutter hatte ihm nachdrücklich beigebracht, daß man, und vor allem er, mit vollem Mund nicht spreche.

„Fragen wir in der Klause?” Langeland kaut und ein paar Krümmel segeln aus den Mundwinkeln zu Boden, die eine Möwe abends ohne erkennbare Dankbarkeit aufpicken wird.

„Nee, laß man. Wenn die Korbvermieter ihn nicht erkennen, dann kennt Peterson ihn auch nicht.”

„Aber seine Mädels vielleicht. Vielleicht erkennen die Bedienungen einen schönen Mann wieder, hm?”

Malvoisin zuckt die Achseln, beide betreten die Klause, kommen aber ohne Erfolg nach fünf Minuten wieder heraus.

Auch im Restaurant ein Haus weiter haben sie kein Glück. Nur Achselzucken.

Einige Schritte weiter, kurz vor den öffentlichen Toiletten überkommt Langeland ein menschliches Bedürfnis.

„Ich verschwind’ mal eben.”

„Aber mach’ nicht so lang.”

„Ich werd’s meiner Blase sagen”, kommt es spitz zurück.

Während Langeland den kleinen Seitenweg zwischen dem Bierrestaurant und der Agentur Horch nimmt und Malvoisin vor der Agentur des Sohnes von Marga Horch wartet, kommt ihm ein ihm wohlbekanntes Mädchen in einem türkisfarbenen Bikini entgegengelaufen. Es ist offensichtlich gerade noch im Wasser gewesen und hält eine neongelbe Badehose in der Hand.

„Na Corinne, bist Du wieder weggetaucht? Die wievielte Badehose ist das denn in diesem Sommer? Und warst Du nicht mit Tessa verabredet?”

„Oh, hallo Onkel Martin.” Das bildhübsche, schlanke Mädchen bleibt aufgeregt atmend vor Malvoisin stehen.

„Äh, ja, bis jetzt drei, und drei brauche ich noch, sonst verliere ich meine Wette. Und Tessa ist nicht gekommen.”

„Und warum so aufgeregt?”

„Kannst Du mir helfen, Onkel Martin?” Sie dreht sich um. „Er ist hinter mir her.”

„Wer? Der Badehoseneigentümer?”

„Genau.”

„Nackt?”

„Das ist es ja. Der schämt sich gar nicht.”

Malvoisin muß grinsen. Corinnes Keßheit ist immer wieder amüsant. Sie dreht sich erneut um.

„Oh, Mist, da kommt er schon. Kannst Du ihn bitte aufhalten, Onkel Martin, verhaften, einsperren, irgendwas? Bitte!”

„Lauf man, Deern, ich mach’ das schon.”

Corinne gibt Fersengeld. Malvoisin stellt sich in die Mitte der Promenade und sieht einen wutschnaubenden etwa siebzehn- bis achtzehnjährigen Jungen auf sich zukommen, schulterlange schwarze Haare, gut trainiert und noch besser ausgestattet. Als er an Malvoisin vorbei will, verfolgt von vielen erstaunten Blicken anderer Strandgäste, hält er ihn am Arm fest, so daß der Schwung des nackten Stürmers beide einmal herumdreht.

„Hallo, junger Mann. Hej, stehengeblieben! In dem Aufzug können Sie hier aber nicht promenieren.”

Der Junge sieht Malvoisin erstaunt an, will sich losreißen, als Langeland ihm den Weg verstellt.

„Was haben wir denn hier? Auf dem Weg zum Mister Beach nude-Wettbewerb, oder was?”

„Was wollen Sie von mir? Ich muß meiner Badehose hinterher, das kleine Miststück da …”

„Na, na, wer spricht denn so von netten jungen Mädchen?” Malvoisin legt gespielt seine gesamte Mimik in Falten, dazu den Ausdruck „Ich bin gerade sehr ungehalten”.

Einige vorbeigehende Badegäste beobachten kopfschüttelnd die Szene.

„Hat man Töne”, empört sich eine Frau mittleren Alters, nicht ohne genau hinzusehen. Zwei etwa 17jährige Bikini-Schönheiten tuscheln hinter vorgehaltener Hand, schicken dem Festgehaltenen interessierte Blicke herüber und gehen lachend weiter. Ein etwa sechsjähriger Junge an der Hand seiner Mutter fragt hinaufblickend: „Mama, seh’ ich auch mal so aus, wenn ich groß bin?”

„Ganz sicher, mein Schatz, aber dann darfst Du nicht so nackt hier herumlaufen?”

„Warum nicht, der Mann darf das doch auch …” „Nein, das geht dann nicht mehr, weißt Du. Die Leute mögen das nicht.”

„Warum nicht? Weil sein Pippimann so groß ist?” Die Antwort der so dringend befragten Mutter geht in einem hellen Lachen der Umstehenden unter. Der kleine Mann dreht sich noch einmal um, aber verstehen kann er das nicht.

Der Teenager registriert das gar nicht, atmet heftig und aufgeregt, versucht, sich loszumachen.

„Lassen Sie mich, ich muß …”

„Erst einmal stehenbleiben und Dich beruhigen, Kleiner.” Langeland zückt seinen Dienstausweis. „Kripo Lübeck.” Der Junge stellt augenblicklich die Losreißversuche ein und sieht die Männer überrascht an.

„Kripo? Nur weil ich nackt bin? Aber die da, diese Corinne …”

„Was ist mit ihr?”

„Na ja, die hat …”

„Was hat sie?” Langeland wird ungeduldig.

„Na ja, meine Badehose!”

„Und die hast Du ihr nicht freiwillig gegeben?”

„Na ja, irgendwie schon, aber …”

„Du, Deine ‘Na ja-Halbsätze gehen mir jetzt langsam auf den Keks, Kleiner, und überhaupt. So kannst Du hier nicht ‘rumlaufen, wir sind nicht in Lenste.”

Langeland dreht sich um. Malvoisin, strengen Blickes, obwohl er am liebsten laut lachte, deutet auf die Agentur Horch.

„Wir gehen da jetzt hinein, wir werden nach einem Handtuch für Dich fragen, und dann gehst Du brav zu Deinem Strandkorb und machst Dich wieder strandfein. Verstanden?”

„Aber meine Badehose!”

„Vergiß sie. Lehrgeld!”

„Und sei Du froh, daß Du keine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bekommst, Du erotischer Held. Ab dafür!”

Der Möchte-gern-Casanova wird von den Männern in die Agentur geschoben, wo man über den Anblick erst nicht schlecht staunt. Malvoisin nimmt seinen Rembrandt ab. Nach der kurzen Erklärung hinter vorgehaltener Hand „Corinne war da” holt der junge Herr Horch mit einem breiten Grinsen ein großes Handtuch und reicht es dem inzwischen sehr betreten dreinschauenden Martin, der sich eiligst bedeckt. Mit einem ermahnenden „Nicht noch einmal, Kleiner!” wird er fortgeschickt.

„Wat dat nich all gifft!” Herr Horch kratzt sich am Kopf.

„Moment mal.” Malvoisin geht vor die Agentur, um sicherzustellen, daß der Strandheld nicht Corinne nachjagt. Dabei sieht er, daß der junge Bursche nur drei Strandkörbe weiter das Handtuch in den Sand schleudert und sich eine kurze helle Hose anzieht. Dann wirft er sich in den Korb. „H23. Da gehe ich gleich noch einmal hin.”

„Da wir schon mal da sind …” Langeland zieht seine Kamera aus der Tasche. „Haben Sie den schon mal gesehen, ich meine lebend?” Malvoisin kommt wieder herein.

Herr Horch sieht auf das ihm entgegengehaltene Display und schüttelt den Kopf.

„Nein, den Herrn kenne ich nicht. Ist er tot?”

„Ja.”

„Ach, ist das der aus dem Wald?”

„Richtig.”

„Tja, tut mir leid. Nie gesehen.”

Das Telephon klingelt. „Sie entschuldigen bitte, die Gäste, Hochsaison.” Horch nimmt ab.

„Agentur Horch. Guten Tag. - Ja, Frau Maier-Hindersmann. Welche Freude. - Wie geht es Ihnen und dem Herrn Gemahl? - Das ist schön. Und Sie können doch noch kommen? - Aber für unsere liebsten Gäste haben wir doch immer etwas frei. Notfalls ziehe ich aus meiner eigenen Wohnung aus. - Zu liebenswürdig, gnädige Frau (Horch lacht geschäftstüchtig, aber fröhlich angenehm). Ich habe noch ein Drei-Zimmer-Appartement im Ahornweg. - Vier Wochen? - Moment (er sieht in den Belegungsplan). Eine Familie hat abgesagt. Ein Baby hatte es zu eilig. Es geht. - Zweiundneunzig €uro. - Wieviel Personen? - Vier? Und geht die Anreise in zehn Tagen? Sie verstehen, die Eigentümer verlangen möglichst lückenlose Belegung. - Das ist ja ganz zauberhaft, gnädige Frau. Und das Wetter wird hervorragend sein. Die Vorhersagen sind vielversprechend. - Notfalls haben wir unseren eigenen Wolkenschiebedienst. - Selbstverständlich. Ihr Lieblingswein wird bereitstehen. - Zur Vertragsunterzeichnung kommen Sie bitte in die Agentur. Und Strandkorb bei meiner Mutter? - Dankeschön, ich sage es ihr. - Meine Empfehlung, gnädige Frau.” Er legt auf und bemerkt, daß die Kriminalbeamten noch am Tresen stehen.

„Meine Herren, ist noch etwas? Sie sehen doch, Hochbetrieb.”

Malvoisin reicht seine dienstliche Karte herüber. „Falls Ihnen doch noch etwas einfällt.” Horch nimmt die Karte, legt sie hinter sich auf den Schreibtisch. „Darf man Sie auch nachts anrufen?”

„Wenn Ihnen etwas sachdienliches einfällt jederzeit. Moin.”

Horch nimmt den nächsten Anruf entgegen.

Im Hinausgehen raunt Langeland Malvoisin zu: „Ganz schön geschäftstüchtig, der Junge.”

„Liegt in der Familie.”

Vor der Agentur Horch besprechen Malvoisin und Langeland, daß sie noch im Strandcasino und beim Deichgraf sowie in der Agentur bei der Strandresidenz und in der der Bürgermeisterin das Bild des Waldtoten vorzeigen.

„Ich beantrage dann morgen bei Goldkränzchen zwanzig Mann und bekomme wahrscheinlich zehn. Vor allem Grömitz abzugrasen wird aufwendig. Wir werden das Bild an die Presse geben müssen. Und gib es in die Datenbank ein. Vielleicht kommt von auswärtigen Kollegen etwas.”

„Und jetzt gehen wir noch einmal zu unserem Casanova.”

Langeland sieht Malvoisin verwundert an, versteht gar nichts.

„Was willst Du denn von diesem Spargelheini?”

„Ist Dir nicht aufgefallen, daß er recht braun ist, aber keine ‘weiße Hose’ trägt?”

„Ach, Du meinst, er könnte sich am Lensterstrand für die Mädels ausstellen?”

„Genau das. Und da gerade junge Burschen sehr wohl anderen Typen auf den Schritt gucken, könnte unser John Doe mit seiner Auffälligkeit aufgefallen sein. Ein Versuch ist es wert. Vielleicht treffen wir einen wichtigen Kollegen.“

„Herrn Zufall?”

„Kommissar Zufall, genau den.”

„Na, denn man los.”

*

Maren von Malvoisin hat ihre Zwillinge gestillt und will sie in ihre Stubenwagen legen, als ihre empfindliche Nase weitere Arbeit anzeigt, doppelte Arbeit. „Na ja, das Duett hat wenigstens den Vorteil, das man in einem Aufwasch fertig ist.” Sie bringt Alexander und Christoph zum Wickeltisch. Schon die erste Geruchsattacke ist heftig. Maren wedelt mit ihrer Rechten vor ihrer strapazierten Mutternase. „Bah, es wird Zeit, daß Euer Vater seine Auszeit nimmt und seine Abhärtung erfährt, ah.” Und wie zur Bekräftigung strampeln die Lütten los. Damals, als die drei Großen noch Kleine waren, hatte Malvoisin sich stets erfolgreich gedrückt. Er hatte dann plötzlich “Dienst” oder war erst gar nicht da. Jetzt geht das, genannt Vaterzeit.

Routiniert werden die Hinterlassenschaften eingerollt, alles fein gesäubert, die lütten Pöker frisch verpackt, bis zur nächsten Ladung, und Minuten später schlummern die kleinen Prinzen friedlich dem nächsten Busenbarbesuch entgegen. Maren betrachtet sie, wie nur eine Mutter die Ursachen ihrer Anstrengung betrachten kann. Das ruhige Atmen der beiden beruhigt auch sie und lächelnd geht sie hinaus. Eine halbe Stunde wird sie sich hinlegen und dann wartet die Küchenarbeit auf sie. Als sie am großen Spiegel vorbeigeht, hält sie kurz inne. Ihre gute Figur kommt wieder. „Na also!”

*

Als Malvoisin und Langeland vor dem H23 auftauchen und Martin sie bemerkt, richtet er sich mit verzogenem Gesicht auf.

„Was, Sie schon wieder? Wie Sie sehen, bin ich jetzt züchtig bekleidet, was wollen Sie denn noch? Mir weiter den Urlaub vermiesen?”

„Jetzt mach’ mal halblang, Junior, wir haben Dich etwas zu fragen.”

„Was wird das schon sein?” Er verzieht geringschätzig sein Gesicht.

„Werd’ nicht frech, sonst nehmen wir Dich mit.” Langeland ist schon wieder kurz vor “böser Cop”. Martin wird kleinlaut. „Ja, bitte.”

„Was?”, raunzt Langeland ihn an. „Mitnehmen oder hier antworten?”

„Bitte hier, sonst kriege ich Ärger mit meinem Vater, 100 Liegestütze und so.” Martin knickt ein.

„Was ist denn Dein Vater?”

„Spieß!” Der Blick des Jungen bekommt etwas Ängstliches.

„Na dann.”

Malvoisin bedeutet Langeland, die Kamera mit Display bereitzuhalten. Er stellt den Jungen gerade noch einmal im corinnischen Zustand in seinem Kopfkino auf.

„Du bist ziemlich braun. Wie lange seid Ihr schon hier?”

„Über zwei Wochen.”

„Du bist ziemlich vollständig braun, ich meine, ohne auffällig weiße Stellen. Sonnst Du Dich abseits vom Strand ohne?”

Martin staunt innerlich über diese intensive Beobachtung. Er antwortet zunächst zögernd.

„Öh ja, schon. Äh, vor unserem Ferienhaus am Wald.”

Malvoisin will schon enttäuscht aufgeben.

„Aber ich gehe auch zum Lensterstrand ‘rüber. Da ist es interessanter.”

Malvoisin fährt seine aufgekommene Enttäuschung wieder herunter.

„Kennst Du den?”

Langeland hält ihm das Display hin.

„Nö, Typen interessieren mich nicht.”

„Er hatte eine Besonderheit, die man nur beim textilfreien Baden und Sonnen sehen konnte.”

„Konnte? Ist er tot?” Martin schwant etwas. „Ist das der Waldtote?”

„Genau der. Und er hatte …” Martin erinnert sich plötzlich.

„Richtig, daß ist der mit der großen Eichel, der Beschnittene. Habe ich noch nie gesehen, so ‘was. Dem haben viele nachgesehen. Der war vor einigen Tagen das erste Mal da. War schon ziemlich braungebrannt, als wenn er schon ewig da wäre oder sich vorgebräunt hat. Eigener Garten oder großer Balkon oder so. Dann kam er noch einmal. Ich habe ihn von weitem mit einer jungen Frau Richtung Grömitz weggehen sehen. Blond war sie, aber ich hatte nur Rückansicht, kam gerade aus dem Wasser. Mehr weiß ich nicht.”

Malvoisin ist begeistert.

„Großartig! Du hast uns sehr geholfen, mehr als Du ahnst. Und jetzt sagst Du uns bitte, wie Du heißt.”

„Martin. Martin Jörgensen.” Malvoisin grinst, was den Jungen etwas irritiert. „Warum grinst der so komisch? Paßt dem mein Name nicht?”

„Bist Du heute noch hier oder auch morgen?”

„Ja, warum?”

„Du bekommst Deine Badehose wieder.”

„Tatsächlich? Wie wollen Sie das denn machen? Eine neue kaufen?”

„Nein. Dein kleines Malheur ist mein Patenkind.”

„Ach du Scheiße!”

„Keineswegs, sie ist sehr nett, hat aber einen Spleen mit Badehosen. Komm’ ihr nicht noch einmal zu nah, sonst laß ich Dich kielholen und ich weiß, wie so etwas geht, verstanden?” Martin nickt eifrig und ist insgeheim froh, seinem strengen Vater nicht das Verschwinden der Badehose erklären zu müssen. Glücklicherweise waren seine Eltern zu einem Ausflug nach Laboe gefahren, sonst wäre das Donnerwetter enorm gewesen und längst über ihn hinweggebraust.

„Und da hast Du meine Karte, falls Dir noch etwas einfällt. Kannst mich jederzeit anrufen. Ein Handy wirst Du wohl haben?” Martin nickt wieder und liest den Namen.

„Martin von Malvoisin?” Er sieht auf und steht auf. „Malvoisin? Sind Sie mit Admiral von Malvoisin verwandt?”

„Mein Vater. Warum?” Er zieht seine rechte Augenbraue hoch. „Woher …?”

„Mein Vater war mal sein Fahrer. ‚Friedrich den Großen’ fürchtet er heute noch!”

„Nicht nur er.”

Malvoisin setzt seinen Rembrandt wieder auf.

„Aber ich bin noch schlimmer als er, wenn Du Corinne noch einmal …, verstanden?”

„Klar, verstanden. Nie wieder!”

Martin knickt innerlich endgültig ein. Was hat er für ein Glück gehabt, aus der Sache so gut herausgekommen zu sein.

*

In Malvoisins Büro ist es heiß. Ihm und Langeland stehen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Es kommt ein Mitarbeiter der Gerichtsmedizin herein.

„Mit Empfehlung von Professor Anderson. Der Obduktionsbericht zum Waldtoten und …”, er räuspert sich, „… das hier.” Er legt den großen Umschlag auf den Schreibtisch und einen durchsichtigen Plastikbeutel daneben - mit dem Dildo.

„Vielen Dank. Richten Sie Ihrem Chef bitte meinen herzlichen Dank für seine Arbeit aus, und auch dafür”, wobei er mit Kopfnicken auf den Dildo deutet. Langeland sitzt gegenüber und grinst, zieht ein Taschenbuch und wischt sich den Schweiß ab.

„Tschüs.”

Der Bote geht und murmelt kopfschüttelnd beim Schließen der Tür „Wat dat nich all gifft.”

Malvoisin nimmt den künstlichen Penis aus dem Beutel und stellt ihn aufrecht vor sich auf den Tisch. Er betrachtet ihn mit einer Mischung von Abscheu, Ekel und notwendigem beruflichen Interesse. „Warum hat ein männliches Mordopfer dieses Teil im Allerwertesten?” Malvoisin kann sich eine Menge vorstellen. Spiel und vergessen, so wie schon bei einer Operation eine OP-Schere oder ein Tupfer in einer Bauchhöhle “vergessen” werden, oder ein sich ihm noch nicht erschließender Ernst, vielleicht Teil einer Vergewaltigung, aber das Opfer ist ja nicht in einer Gefängniszelle gefunden worden.

Langeland amüsiert es fast, wie Malvoisin den Künstlichen anstarrt, in die Hand nimmt und von allen Seiten betrachtet. „Der sieht verdammt echt aus, wie vom Original abgenommen. Ob er wohl …” Malvoisin unterbricht die Gedanken seines Kollegen.

„Überprüf doch bitte mal, welche aggressiven schwulen Sexualtäter in letzter Zeit entlassen wurden und deren Alibis zur Tatzeit.”

„Mach’ ich.”

Malvoisin zieht den Obduktionsbericht aus dem Umschlag. Angeheftet sind mehrere farbausgedruckte Bilder des Waldtoten. Malvoisin betrachtet ihn einen Augenblick.

Ein Kollege kommt, ohne das „Entree!” nach dem Anklopfen abzuwarten, herein. Er legt Malvoisin ein Aktenstück auf den Tisch, hält inne, betrachtet den Dildo und schmunzelt breit.

„Neues Hobby, Malle, oder ist Maren mit Dir böse?”

Auf Malvoisins säuerlichen Gesichtsausdruck hin sieht Hans Hansen Langeland an: „Oder gehört er Dir?”

„Bist Du noch nicht draußen?” Dabei sieht Langeland Hansen an, als wolle er ihn gleich erschlagen.

„Is’ ja schon gut. Aber Ihr solltet Eure Eigenwerbung wirklich nicht so offen herumstehen lassen. Man könnte denken …”

„Hansen, VERSCHWINDE!” Malvoisin reichen die Anspielungen. Der Gerüffelte geht mit einem erneut breiten Grinsen und gespieltem Beleidigtsein.

„Keiner läßt mich mitspielen, Ihr seid so gemein zu mir.” Dann sucht er schnell das Weite, denn wie von Zauberhand hat Langeland einen Gummiknüppel in der Hand und springt auf.

Draußen lacht Hansen lauthals los und durch die nicht ganz geschlossene Tür hören beide, wie der prustend einigen Kollegen erzählt, Malle habe ihn nicht mit seinem Schwanz spielen lassen wollen, worauf Langeland seinen Knüppel herausgeholt hätte. Brüllendes Gelächter und dann sehen tatsächlich drei Kollegen herein:

„Wir haben gehört, Ihr hättet ein heißes Unterhaltungsprogramm am laufen. Kann man da vielleicht … “. Zum “Mitmachen” kommen sie nicht mehr, denn Langeland stürmt mit seinem Knüppel auf sie los, die Drei verziehen sich ganz schnell und Langeland drischt die Tür zu.

„Blöde Bande!” Langeland atmet tief durch. Malvoisin schüttelt den Kopf über den “Kinderkram” und macht ruhig weiter.

„Fritz, während Du ein bißchen herumtelephonierst, gehe ich mal eben zu Goldkränzchen, sonst fragt er mich morgen, warum ich nicht gestern gekommen bin, es eile ja, in den Urlaubsorten dürften zum Donnerwetter keine nackten toten Leute in den Bäumen hängen, und beantrage die ‚zwanzig Mann’.” Langeland grinst. Er kennt die Betrachtungen des Präsidenten.

„Ich bin dann in Grömitz und höre mich bei der Kurverwaltung und den Korbvermietungen um. Die Pensionen, Ferienwohnungen und Hotels sollen die Kollegen machen. Der sieht selbst im Tod noch gut aus, lebend muß der Mann erst recht aufgefallen sein, auch angezogen. Wir hatten ja schon Glück, daß seine Besonderheit diesem Martin aufgefallen war. Das hat eine Menge Heuhaufenstocherei gespart.”

„Wohl wahr. Kommst Du noch mal zurück?”

„Kaum. Wir sehen uns morgen. Übrigens, wann ist Mokwi aus dem Urlaub zurück?”

„In zwei Wochen.”

„Danke.” Malvoisin wedelt das Telephonierzeichen. „Tschüs, bis morgen.”

„Jou, tschüs.”

Malvoisin verläßt das Büro und Langeland greift zum Hörer.

„Ein bißchen telephonieren. Wie nett er das immer so sagt.” Langeland verzieht das Gesicht. Er wählt die 62010 für die JVA Lübeck.

„Hier Langeland, K1 Lübeck. Moin. Geben Sie mir bitte den Direktor.”

*

Christian atmet schwer. Er kann gar nicht glauben, was da mit ihm geschieht. Schwer zieht er den Sauerstoff durch die beiden Nasenröhrchen ein. Unter dem Panzer der Abgußform wird ihm immer heißer. Er muß sie loswerden. Nichts ist ihm verhaßter, als die Kontrolle zu verlieren. Er sieht nichts, kann nichts sagen. Seine Arme sind auch eingegossen, er kann nicht ertasten, was da mit ihm geschieht und doch geschieht es, denn er fühlt es deutlich. Kristin und Jan hatten ihm gesagt, sie gingen ins Empfangsatelier zurück. Kristin wollte Photos von Jan machen und mit Skizzen beginnen. Nach der Aushärtung würden sie wiederkommen und ihn befreien.

Dann hatte er gespürt, daß jemand den Raum betrat aber nichts sagte. Er empfand eine starke Aura, hörte ein leises Atmen. Jemand stand ganz nah bei ihm. Hätte er geschlafen wäre er davon aufgewacht, so intensiv fühlte er, daß er angesehen wurde. Daß ihn ein blaues Augenpaar musterte, konnte er natürlich nicht erkennen. Dann nahm ihn jemand in die Hand, ergriff Macht von ihm, und er ließ es geschehen. Christian hätte mit einem Ruck aufspringen können, aber er wollte nicht. Ihm gefiel, was geschah.

Es ist sensationell, so gut ist es ihm selten ergangen. Ob diese Kristin ihre Kunst an ihm übt oder ob gar Jan die Gelegenheit nutzt? Sein Kopfkino spielt ihm ein wechselnd wildes Szenario vor. Meisterhaftes geschieht mit ihm. Er läßt sich innerlich fallen und genießt es einfach nur bis zur Erfüllung. Ewig kommt es ihm vor. Wenn er doch nur sehen könnte! Da spürt er wieder, angesehen zu werden, bis sich dieses Gefühl entfernt. Er ist wieder allein.

*

Leiche 21

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