Читать книгу Leiche 21 - Georg von Rotthausen - Страница 9

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Jan entblättert sich. Viel abzulegen hat er nicht. Kristin betrachtet ihn mit sichtlichem Wohlgefallen. Er ist ihr David. So verlockend, wie er zunächst dasteht und sich dann lasziv in den Sessel fläzt - am liebsten würde sie ihn gleich vernaschen, aber sie denkt auch an Christian. Es ist nicht die Zeit dafür.

Drei geladene Kameras hat sie bereitliegen, und die wird sie auch brauchen. Sie nimmt sich zuerst die Digitalkamera, da kann sie die Ergebnisse gleich kontrollieren, obwohl ihr dauerhafte Negative lieber sind. Sie “schießt” ihn schnell im Sessel und bittet ihn dann „Kommst Du bitte mal hier herüber ins Licht?” Jan steht auf, geht auf die Position, die Kristin ihm bedeutet.

„Lehn Dich an, laß ganz locker.” Jan ist völlig in gleißendes Sonnenlicht gehüllt. Er genießt die Wärme auf seinem Körper, aber noch mehr genießt er die Aufmerksamkeit der schönen Künstlerin. Er fühlt es geradezu, wie sie ihn abtastet. Sex mit der Kamera. „Das is’ ja so geil! Schade, daß Christian nicht hier ist. Der Arme langweilt sich bestimmt, so allein unter dem Abgußpanzer.” Jedes Klicken jagt ihm einen wohligen Schauer über den Rücken. Er schließt auch ohne Kommando genüßlich die Augen, legt den Kopf leicht zur Seite, läßt die Arme hängen. Es klickt und klickt. Plötzlich spürt er Berührung.

„Nimm bitte die Arme hoch und strecke Dich.”

Jan folgt, läßt aber die Augen geschlossen. Die Sonne könnte ihn blenden und ließe ihn sein Gesicht verziehen. Sein rechtes Bein stellt er mit leichtem Ausfallschritt etwas nach rechts vor. Er denkt mit.

„Hm, der Junge ist gut. Und größer wird er auch schon.” Kristin Blick erfaßt Jans wachsende Spannung. Sie kann nicht anders. Mit dem Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand fährt sie von der Ellenbeuge seines linken Armes bis zur Achsel hinunter und gleitet herüber über seine Brust, die sich vom tiefen Atmen deutlich hebt.

„Du machst das gut”, flüstert sie ihm zu. Er öffnet die Augen und lächelt sie an, läßt die Arme sinken. Sie hält ihm das Display hin und läßt einige Aufnahmen durchlaufen. Er gefällt sich, und es gefällt ihm, daß er Kristin gefällt. Und er hofft, daß er Christian gefällt. Das Klicken der Kamera setzt wieder ein. Und sogleich kommt das wunderbare Rieseln durch seinen Körper zurück. Jan schließt die Augen, hebt die Arme an, präsentiert Kristin seine ganze junge, männliche Schönheit - und genießt.

*

Im Obergeschoß klappt leise eine Tür. Ein blaues Augenpaar blickt aus dem Fenster hinüber zum Atelierhaus. Im Kopfkino läuft die Wiederholung einer ungewöhnlichen Begegnung ab. Nach der Schlußszene tropfen dicke Tränen zu Boden.

*

„Nicht erschrecken! Es ratscht gleich.”

Christian hatte zwar gehört, daß Kristin und Jan hereingekommen waren, aber für die Vorwarnung ist er dankbar. Schon werden die Nasenröhrchen herausgezogen und die Gesichtsmaske wird mit einem vorsichtigen Rucken abgezogen.

„Ah, er lebt noch!”

Christian ist begeistert, daß Jan so begeistert ist, aber erst einmal atmet er tief durch.

„Wie fühlst Du Dich?”

„Phantastisch! Warum fragt er so blöd? Er muß doch hier gewesen sein!” Christian ist sich plötzlich ganz sicher, daß Jan der stille Besucher war.

Kristin betrachtet die Innenseite der Gesichtsform und ist zufrieden.

„So, jetzt wird es etwas schwieriger. Etwas Körperbehaarung könnte abgehen - schlimm?”

„Wächst doch nach, aber wenn ich mit diesem Panzer nach Hause komme, bin ich in Schwierigkeiten. Also weg damit!”

Kristin sieht Jan an. „Faßt Du bitte auf der anderen Seite an. Vorsichtig rucken …” Beide rütteln leicht. „… uuund --- hoch!” Christian ist befreit. „Puh, geschafft.” Er atmet noch einmal tief durch und setzt sich auf. Die Haarnaht bauchnabelabwärts ist noch vollständig da. Kristin prüft derweil das Ergebnis.

„Gelungen. Prima! Wollt Ihr noch das Ausgießen abwarten oder wiederkommen?”

„Was meinst Du, Christian? Bleiben wir oder gehen wir an den Strand?”

„Wir können ja wiederkommen, wenn mein Abbild fertig ist. Aber heute würde ich lieber schwimmen gehen und jetzt erst einmal duschen.”

Kristin reicht Christian eine Papierrolle, damit er sich abwischen kann.

„Es war Dir hoffentlich nicht langweilig, während Du hier gelegen bist.”

„Ganz im Gegenteil. Was soll die Fragerei? Die müssen doch wissen, was hier passiert ist!” Christian reibt sich ab und dann kehren alle drei ins Haupthaus zurück, wo Kristin ihm die Dusche zeigt. Dann läßt sie die Freunde allein.

Jan lehnt sich an die Tür, während Christian sich einseift.

„War es Dir wirklich nicht langweilig?” Christian hält inne, sieht seinen Freund verwundert an.

„Warum fragst Du so komisch? Du mußt doch wissen, daß es das nicht war.”

„Woher soll ich das wissen? Kristin und ich haben im großen Atelier die ganze Zeit Aufnahmen gemacht.”

„Das kann nicht sein, es war …” Christian unterbricht sich selbst. „Das habe ich doch nicht geträumt, oder?”

„Was soll gewesen sein?”

„Habt Ihr mich nicht heimlich beobachtet?”

„Warum sollten wir das tun? Wir waren beschäftigt und sind erst zur Formenabnahme zurückgekommen. Wie kommst Du darauf?”

Christian spült den Schaum herunter und dreht die Dusche ab. Während er sich abtrocknet, geht er langsam auf Jan zu. So ganz sicher ist er sich seiner Sinne nicht mehr. Jan hat ihn noch nie beschwindelt.

„Ich hatte das Gefühl, es sei jemand im Raum gewesen, aber dasjenige hat nichts gesagt.”

„Und?”

„Ja nichts und!” Er überlegt kurz. „Ach was, vielleicht habe ich nur taggeträumt.”

Beide lachen und gehen zurück ins Hauptatelier, wo Kristin die geschossenen Aufnahmen von Jan einspeichert. Christians Abgüsse liegen auf einem großen Tisch daneben. Christian zieht sich an und betrachtet sein “Negativ”. Er findet es seltsam interessant sich so zu sehen und ist gespannt auf das Positiv von sich selbst. Beide verabschieden sich von Kristin und verlassen Haus und Grundstück. Christian dreht sich am Tor um und blickt zurück. Ein seltsamer Tag, aber er hofft inständig, Sigrun wiederzusehen. Auf der Rückfahrt werden Jan und Christian schweigen.

Ein blaues Augenpaar hat sie fest im Visier, bis sie davonfahren. Zwei Vorhänge werden zugezogen.

*

Malvoisin tritt in das Vorzimmer des Präsidenten ein. Frau Stern sieht den Hereinkommenden freundlich lächelnd und erwartungsvoll an.

„Moin, Frau Stern. Ist der Präsident frei?”

„Verzeihung, Herr von Malvoisin. Kriminalrat Müller-Dobermann ist gerade beim Herrn Präsidenten. Ich glaube nicht …”

„Ach, das trifft sich ganz gut. Melden Sie mich bitte an.”

Frau Stern zuckt mit den Achseln und greift zum Hörer, drückt einen Knopf.

„Herr Präsident, Herr von Malvoisin wäre da. Darf er eintreten? - Ob es wichtig sei?” Frau Stern sieht Malvoisin fragend an.

„Habe ich den Herrn Präsidenten jemals mit Unwichtigem behelligt?”

„Es sei wichtig, dringende Ermittlungsarbeit. Duldet keinen Aufschub.”

Malvoisin staunt wieder einmal über Sternchens flinke Auffassung und ihre treffende Wiedergabe seiner Wünsche. Sie legt den Hörer auf und deutet einladend auf die große Tür.

„Der Herr Präsident erwartet Sie.”

Malvoisin küßt ihr die Hand, die sie nun wieder drei Tage lang nicht waschen wird, und tritt ein.

„Er ist einfach zu galant”, murmelt Frau Stern und läßt einen sehnsüchtigen Seufzer hören, aber den hört Malvoisin schon nicht mehr.

*

Malvoisin tritt ein. Die schwere Tür geht leise ins Schloß. Der Präsident sitzt in Uniform mit kleiner Ordensschnalle hinter seinem Schreibtisch. Das Große Bundesverdienstkreuz trägt er in Originalgröße auf dem extra flach gebundenen Krawattenknoten. Bonner Rot macht sich optisch sehr attraktiv auf Polizeiblau. Kein Vergleich zu dem Grün, in dem man aussah wie ein Förster, der sich in der Dienststelle geirrt hat. Nur der amerikanische Deckel paßt einfach nicht. Der schicke deutsche Tschako wäre besser, aber im Büro trüge man das ohnehin nicht. Die Halszierde war ihm am 3. Oktober des vergangenen Jahres im Schloß Bellevue verliehen worden. Die Buschtrommeln hatten zu seiner Freude und Erleichterung richtig getrommelt. Nicht auszudenken, der Spott und Hohn, wenn nicht, denn es war durchgesickert, daß er vorgeschlagen worden war, und seine liebe Frau wäre noch beleidigter gewesen als er selbst. Kaum etwas schlimmer, als unbehandelte Halsschmerzen! Nur die Tatsache, daß es mit dem Staatssekretärsposten im Innenministerium nichts geworden war, jedenfalls diesmal nicht, das wurmte ihn immer noch. Da hatte mal wieder eine etwas längere Parteimitgliedschaft entschieden. Und obendrein konnte er den Bevorzugten nicht leiden. Er hatte ihn schon während der gemeinsamen Schulzeit nicht gemocht. Hundsmiserables Abitur, aber schon mit 16 in der Parteijugend. Gezahlte Mitgliedsbeiträge haben schon manchen Abidurchschnitt angehoben und den fehlenden IQ verbessert. Aber der Bundespräsident war sehr freundlich gewesen, hatte seine Zufriedenheit ausgedrückt, einem so verdienten höheren Polizeiführer die verdiente Auszeichnung überreichen und den Dank des Vaterlandes aussprechen zu können. Das glich manches aus, wenn auch nicht ganz.

Und vor dem Schreibtisch sitzt der unvermeidliche Kriminalrat Horatius Müller-Dobermann, intern sehr schnell meist nur „Lord Nelson” genannt - wegen der Vornamensgleichheit mit dem britischen Admiral of the Blue Horatio Lord Nelson, dem Sieger der Schlacht bei Trafalgar Anno Schießmichtot 1805. Nur, der Kripo-Nelson war nie über den Leutnant zur See der Reserve hinausgekommen. Irgendwie hatte man ihn bei den Reserveübungen “vergessen”. Er hatte ein Minensuchboot als Wachhabender auf der Brücke an eine Kaimauer manövriert, und man wollte ihm nicht die Gelegenheit geben, derartige Materialprüfungen mit größeren Einheiten durchzuführen. Obwohl, einem, dem das gelungen war, hatte es den Weg hinauf zum Vizeadmiral und Marineinspekteur auch nicht verbaut. Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat. Wer hatte das doch immer gesagt?

Malvoisin wird in seinen Betrachtungen unterbrochen.

„Was gibt es, mein lieber Malvoisin?”

Der Präsident hat seinen jovialen Tag. Er rechnet es Malvoisin immer noch hoch an, im letzten Sommer die Strandmorde binnen weniger Tage gelöst zu haben, die damit aus den Schlagzeilen kamen und Ruhe in den Tourismusbetrieb zurückkehrte, und das er im Herbst den Mörder eines Verkehrspolizisten, der vierfacher Familienvater war, ebenfalls binnen kurzem gefaßt hatte. Der Täter hatte gerade sein “Lebenslänglich, mit besonderer Schwere der Schuld” wegen erwiesener Heimtücke bekommen. Der Präsident war seither bester Laune. „Lord Nelson” sieht dagegen etwas sauertöpfisch aus. Goldkränzchen hatte ihm gerade leichte Erfolglosigkeit vorgehalten und vor allem mangelndes Dienstalter. Wie er sich das denn mit einer weiteren Beförderung vorstelle? Wie solle er das denn befürworten? Nur weil ein Kriminaloberrat unlängst pensioniert worden sei? Er bekomme eher ein weiteres und schnelleres Dienstfahrzeug bewilligt, als die Anhebung des Lebensstandards eines seiner höheren Herren. Im entsprechenden Haushaltsreferat sei man ja froh, wenn nicht gleich das Beförderungskarussell angeworfen würde. Aus dem Innenministerium käme dann nur wieder der Vorwurf wie man sich das denn denke: Immer mehr Häuptlinge und immer weniger Indianer! Im Stillen war der Präsident froh, daß er wenigstens einem verdienstvollen Mann wie Malvoisin die Beförderung durchdrücken konnte, ohne daß aufgefallen war, daß mit ihm ein veritabler Fürst im Rang und Gehalt angehoben wurde. Das könnte sich leicht zu einem Politikum auswachsen, und das konnte er nicht gebrauchen. Ein Präsident braucht Ergebnisse, vor allem, wenn er noch Staatssekretär werden will - und die Frau das auch gern so hätte.

„Die Herren muß ich ja nicht vorstellen.”

„Guten Tag, Herr Kriminalrat.” Malvoisin hat die alte Angewohnheit, Vorgesetzte mit ihrem Rang anzureden nicht aufgegeben, obwohl “die Simonis”, wie er immer dachte, gelegentlich auch sagte, geglaubt hatte, das abschaffen zu müssen. Von sozialistischer Gleichmacherei hat er nie etwas gehalten. Auf Erden sind die Menschen nicht gleich, und wenn jemand sich erhoben erhaben fühlt und ein Gegenüber von oben herab behandeln will, dann tut er das mit oder ohne Ranganrede. In der Marine hat er es immer so gehalten auch rangniedere Kameraden, die er nicht sehr gut kannte, mit Dienstgrad anzusprechen, was fast durchweg gut ankam. Sogar Hindenburg hat als Generalfeldmarschall und Reichspräsident selbst einen Leutnant mit “Herr Leutnant” angesprochen und in Schriftstücken so angeschrieben. Höflichkeit kostet nichts, vermittelt aber Respekt oder verhindert durch eine gewisse Distanz das Abrutschen in falsche Kumpelhaftigkeit. Er bleibt dabei.

„Guten Tag, Herr von Malvoisin. Sie fehlten heute bei der Morgenlage. Sie fehlen eigentlich immer bei der Morgenlage!” Es klingt Vorwurf in „Lord Nelsons” Stimme mit.

„Deswegen bin ich hier, Herr Präsident.” Malvoisin übergeht einfach, daß der Kriminalrat ihn angesprochen hat.

„Was liegt denn an, Verehrter?”

Der Kriminalrat stutzt und dreht sich erstaunt, aber schweigend, zu seinem Präsidenten um, sieht dann den so Flattierten wieder an. Malvoisin ist die Anrede auch neu. Sein Präsident ist offenkundig wirklich guter Laune; da könnte er mit seiner Bitte um Einsatzkräfte durchdringen.

„Wir haben einen scheußlichen Tötungsfall im Eutiner Staatsforst, der Vorgehensweise nach mit einiger Sicherheit ein vorsätzlicher Mord. Da ich am Ort wohne, in Kellenhusen, wurde gar nicht erst der KDD geholt, sondern gleich ich, da sozusagen um die Ecke erreichbar. Dort habe ich mich aufgehalten.” Dabei sieht er den Kriminalrat an, um in dessen Gesicht zu lesen, ob das betonte “dort” intellektuell angekommen ist.

„Wissen Sie schon, wer es war?” Der Herr Präsident hofft erneut auf eine Blitzaufklärung, deren Ruhm und Glanz via Presse auch auf ihn ausstrahlen könnte.

„Weder noch.”

„Warum weder noch?” Malvoisin befürchtet wieder eine Wortkette seines Präsidenten.

„Wir wissen bislang weder wer die männliche, unbekleidete Leiche zu Lebzeiten war, noch kennen wir den oder die Täter.”

„Mehrere?”

„Mit einiger Sicherheit. Das Tötungsopfer hing kopfüber von einem starken Ast eines großen Baumes herab. Diese Art der Präsentation einer Leiche konnte von einer Einzelperson kaum bewältigt werden, obendrein ist Fahrzeugeinsatz an dieser Stelle unmöglich.”

„Vermißtenhinweise?”

„Nein, bislang nicht. Die Datenbanken geben nichts her. Keine Fingerabdruckübereinstimmungen, keine Fahndungsphotos, keine Vermißtenanzeigen. John Doe heißt leider immer noch John Doe.”

„Ein Feriengast?” „Lord Nelson” meldet sich zu Wort. Malvoisin schwant Böses. Der Präsident erwartet gleich wieder Tourismusstörungen.

„Vermutlich. Wir haben einen Zeugen am Strand in Kellenhusen gefunden, der sich an das Opfer aufgrund einer körperlichen Besonderheit erinnerte.”

„So?”

„Und die wäre?” Malvoisin hat gehofft, um die Genitalbeschreibung herumzukommen, aber da „Lord Nelson” es nun ausdrücklich wissen will, läßt er ihn mit einem nur innerlich aufkommenden Schmunzeln an wahrer männlicher Größe teilhaben, die ihm, dem Kriminalrat, versagt geblieben ist, wie gut informierte Saunakreise in den Hausverteiler gegeben haben.

„Der junge Mann, etwa 25 oder 26 Jahre alt, verfügt, das heißt, verfügte über ein ausgesprochen großes Genital und obendrein war er beschnitten.”

„Jude? Araber?” Der Präsident zieht die Augenbrauen hoch, befürchtet schon internationale Verwicklungen und Vorstelligkeit diverser Botschafter.

„Jude kann man natürlich nicht ausschließen, ein arabischer Typ war er nicht. Laut Professor Anderson muß es eine medizinische Beschneidung gewesen sein, keine religiös begründete Verstümmelung, denn er hat eine ungewöhnlich große Eichel, was ihm laut Klinge, Verzeihung, Professor Anderson, schon als kleinem Jungen bei Spontanerektionen erhebliche Schmerzen bereitet haben muß. Wie sehr erst später, wäre es nicht operativ behoben worden.

„Und wo ist er gesehen worden?”, faßt der Präsident nach, der innerlich leicht aufatmet. Doch keine diplomatischen Noten aus Berlin.

„Am Lensterstrand. Unser junger Zeuge hält sich dort auf, um sich nahtlos bräunen zu können und findet das Angebot an Mädchen in diesem Bereich interessanter. Das mag bei unserem John Doe ebenso gewesen sein, denn er wurde beim Fortgehen mit einer jungen blonden Frau gesehen, leider nur von hinten. Aber der Zeuge kann sich erinnern, da er das Opfer bei der ersten Begegnung nah von vorn gesehen hat. Da junge Burschen noch sehr vergleichen, blieb es ihm im Gedächtnis.”

„Verstehe. Mehr haben Sie noch nicht?”

„Hoffentlich bald, denn erste Ermittlungen zu Namen und Herkunft des Toten haben in Dahme und Kellenhusen nichts ergeben, niemand aus dem Bereich Strandkorbvermietung und Kurverwaltung hat ihn erkannt. Da er sich in Richtung Grömitz Hauptstrand entfernte, liegt die Vermutung nahe, daß er in Grömitz Quartier hatte, und dafür brauche ich zwanzig Beamte, um zügig alle Vermieter befragen zu lassen.”

„Wie stellen Sie sich das vor, Malvoisin?” Der Kriminalrat geht in die Bremse und erweist damit Malvoisin den größten Gefallen. Der Präsident zeigt Autorität und Befehlshaberschaft.

„Sie bekommen dreißig, mein Lieber, dann geht es schneller, und notfalls gehen Sie mit, Herr Müller-Dobermann. Praxis vor Ort hat noch niemandem geschadet.”

Malvoisin muß sich stark beherrschen, um nicht breit zu grinsen. Goldkränzchen in Höchstform. Das klappt besser, als er es sich gedacht hat. Sagte bei seinem ersten Kommando der Spieß bei Urlaubsgesuchen „Nein!” mußte man nur zum Kaleu gehen; der sagte schon deshalb „Ja!”, weil er den Spieß ärgern wollte, den er nicht ausstehen konnte. Das Prinzip funktioniert immer noch.

„Wo soll ich denn die Leute abziehen?” Der Kriminalrat versucht zu bocken und zu blocken.

„Wo sie gerade nicht ausgelastet sind.”

„Meine Leute sind alle ausgelastet und überlastet. Warum beantrage ich denn immer wieder drei neue Planstellen? Dann kriege ich vielleicht eine!”

„Wir haben einige Anwärter da, zwei, drei erfahrene Leute ziehen sie für einige Tage ab, den Rest eise ich bei den Uniformierten los, UND MALVOISIN KRIEGT SEINE DREISSIG LEUTE!”

Jetzt traut „Lord Nelson” sich nicht mehr, zu widersprechen. Es ist eben doch ein Unterschied, nur so genannt zu werden oder es wirklich zu sein.

„Danke, Herr Präsident. Wann kann ich die Kollegen zur Einweisung haben?”

„Heute nachmittag, sagen wir 17 Uhr im großen Besprechungsraum?” Der Präsident überlegt kurz. „Und sollte nicht das K11 dabei sein?”

„Könnte nicht schaden. Danke, Herr Präsident. - Herr Kriminalrat.” Malvoisin nickt in beider Richtung.

Der Präsident winkt Malvoisin in huldvoller Fröhlichkeit zu. Müller-Dobermann zieht ein Gesicht. „Verdammt, jetzt hat dieser adlige Wichtigtuer es wieder geschafft!”

Malvoisin deutet eine leichte Verbeugung an und geht. Sein Grinsen sagt alles. Ehe er geht, dreht er sich noch einmal um und spricht „Lord Nelson” direkt an:

„Übrigens, meine Ohren sind immer da, bei der Morgenlage, meine ich. Guten Tag, Herr … äh Kriminalrat.”

Der Präsident grinst, denn er weiß, daß mit den “Ohren” Langeland und Hauke Tewes gemeint sind. Müller-Dobermann ist nur noch beleidigt.

Vor dem Büro sieht Frau Stern ihn erwartungsvoll an. Die schwere Tür geht leise ins Schloß.

„Und?”

„Ich bekomme mehr als ich wollte, Sternchen. Ein herrlicher Tag!” Malvoisin lächelt und triumphiert.

Und ehe sie etwas sagen kann, küßt Malvoisin ihr nicht nur die künftig von allen Waschungen befreite Hand, sondern die linke Wange.

„Huch!”

„Frau Stern!” tönt es aus der Sprechanlage, während Malvoisin mit einem schönen Lächeln in Sternchens Richtung die Vorzimmertür schließt. Die Angesprochene muß sich besinnen, räuspert sich durch.

„Herr Präsident?”

„Frau Stern, erinnern Sie mich bitte die Tage an die Abfassung des Verleihungsvorschlages zum Bundesverdienstkreuz für unseren verehrten Malvoisin. Nicht vergessen!”

„Jawohl, Herr Präsident.” Frau Stern strahlt. „Da bekäme es endlich mal einer, der es verdient hat.”

„Lord Nelson” zuckt zusammen, als hätte seine innere “Victory” eine Breitseite abbekommen.

Was Frau Stern hört, obwohl sie es nicht hören sollte: „Sie befürworten das doch, mein lieber Müller-Dobermann?” Ein Räuspern ist deutlich vernehmbar. „Selbstverständlich, Herr Präsident. Selten verdienter Mann, unser Malvoisin.” Innerlich möchte er dem Chef das Mittagessen auf den Tisch legen“, dessen ist sich Frau Stern sicher. „Na, dann schreiben Sie bitte bis morgen Ihren Teil der Antragsbegründung. Und bitte in der Orthographie, die wir gelernt haben. Kein ’daß’ mit -ss, verstanden! Sollen die im Bundespräsidialamt ruhig sehen, daß sich nicht alle von diesen überspannten Germanisten herumkommandieren lassen.”

„Jawohl, Herr Präsident.”

„, Lord Nelson’ ist gerade versenkt worden! Wie schön! - Wenn Heuchelei sich auf die Gehaltshöhe auswirkte. O haohaoha!” Sie hört alles und Schritte über die Anlage, die der Präsident mal wieder nicht abgeschaltet hat, öffnet schnell eine Akte. Die Tür geht auf und Müller-Dobermann stürmt heraus. Die schwere Tür geht etwas lauter ins Schloß als üblich.

„Auf Wiedersehen, Herr Kriminalrat!” Als Antwort trifft sie ein gereizter Blick, und sein „Auf Wiedersehen, Frau Stern” verdichtet sich zu einem undefinierbaren kehligen Grunzen. „Lord Nelson” segelt davon, die zweite Tür kracht ins Schloß. Frau Stern reibt sich die Hände und schließt die Ablenkungsakte. Es ist doch ein herrlicher Tag.

*

Auf dem Rückweg schüttet Malvoisin einem Kollegen, der gefrotzelt hatte, in Malvoisins Büro sei es so “warm” geworden, ein Glas Eiswasser vorn in den Hemdkragen.

„Zur Abkühlung!”

Das Gelächter übertönt das „Scheiße! Spinnst Du?”

„Reine Fürsorge! Ich kann es nicht zulassen, daß einem meiner Leute zu warm wird, oder? Gekochte graue Zellen funktionieren nicht mehr.”

*

Malvoisin freut sich. Der Eiswassereinsatz hat Wirkung gezeigt. Die dummen Bemerkungen um den Künstlichen haben sofort aufgehört. Sein spöttisches „Soll ich Dich trockenlegen?” hatte die Blödiana endgültig beendet. Der Begossene brachte nur noch ein zischendes „Vergiß es!” heraus und begann, sich oberhalb der Gürtellinie zu entkleiden. Sofort war ein neues Gejohle ausgebrochen.

„Hej, Jungs, kommt mal her. Der Kollege Christiansen bietet zur Abwechslung einen Striptease!”

Alle wissen, daß Jan Christiansen ein durchtrainierter Sportler ist. Beim Polizeisport und in der Sauna zieht er regelmäßig die bewundernden Blicke der Weiblichkeit auf sich - und neidische männliche. Er hat seit einem knappen Jahr keine Freundin und mußte sich seinerseits schon spitze Bemerkungen anhören bis er Schläge androhte. Daß die Sekretärin heimlich in ihn verschossen ist, nimmt er nicht wahr.

Antje Eversen gehört schon einige Jahre dem K1 an. Sie steht allein im Leben, obwohl sie bildhübsch und mit einer schönen Figur gesegnet ist. Und dumm ist sie auch nicht. Mit 27 Jahren hält sie sich aber bereits für übriggeblieben. Ihren letzten Freund hatte sie nach dessen Fremdgang tränenreich hinausgeworfen. Drei Jahre ist das her.

Gerade als Christiansen mit nacktem Oberkörper dasteht und nach einem Handtuch sucht, kommt sie herein - und gibt ein Musterbeispiel an Erröten bis unter die Haarwurzeln.

„Oh, Verzeihung, ich wollte nicht stören” und will gleich wieder hinausgehen, als Hans Hansen sie bei der Hand nimmt und heranzieht.

„Bleiben Sie ruhig hier, Fräulein Eversen. Christiansen probt gerade für seinen Striptease beim nächsten Polizeiball.”

„Ach, nein, bitte. Ich möchte das nicht.” Sie reißt sich los und flüchtet.

Jetzt wird Christiansen böse und faucht in die Runde: „Ihr blöde Affenbande, laßt die Antje zufrieden!”

„Hört, hört, der Kollege Christiansen kennt den Vornamen unserer Vorzimmerschnecke.” Hansen findet seine Bemerkung komisch, doch plötzlich lachen die anderen nicht mit. Christiansen schnappt sich den verunglückten Witzereißer.

„Noch eine solche Bemerkung, und ich mache Dich zur Schnecke. Angekommen?”

„Bist Du jetzt der Tippsenbeschützer vom Amt?” Hansen versucht es mit Patzigkeit.

Christiansen faßt so hart zu, daß Hansen die Luft wegbleibt. Er erkennt, daß er zu weit gegangen ist und krächzt mühsam, Jan solle ihn loslassen. Der stößt ihn weg, und Hansen knallt gegen seinen Schreibtisch. Der PC-Bildschirm geht hintüber zu Boden und wird zu Elektronikschrott.

Malvoisin ist der ungewöhnliche Lärm nicht verborgen geblieben. Er kommt zurück und wird aus dem Stand energisch.

„Was ist denn hier los?” Seine Zornesfalte ruft augenblicklich alle zur Ordnung.

„Nichts Chef. Ich bin nur blöd über meine Schnürsenkel gestolpert.”

„Dann binden Sie sich künftig besser einen Doppelknoten.”

Malvoisin geht wieder hinaus. Er hat sehr wohl bemerkt, daß Hansen Sandaletten trug und sein Hemd unnatürlich verrutscht war. Des Kaisers Schnürsenkel.

„Was war denn?” Langeland sieht weiter eine Datei am Bildschirm durch.

„Nichts. Hansen ist mal wieder über seine eigenen Schnürsenkel gestolpert.”

„Ungeschickt läßt grüßen.” Langeland wendet sich nun doch seinem Gegenüber zu.

„Wo war ich stehengeblieben?” Malvoisin überlegt kurz und setzt sich wieder hin. „Ach ja, Müller-Dobermann machte den Kardinalfehler, Goldkränzchen Personalprobleme vorzumachen, und schon hatte ich zehn Mann mehr als ich wollte.” Er lacht und Langeland versucht grinsend, sich die Szenerie vorzustellen.

Der Wechsel von dem großzügigen Kriminalrat Dr. Sebastian Hallstatt, der im Landeskriminalamt die Treppe hinaufgefallen war, zu Horatius Müller-Dobermann war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hallstatt hatte sich in seiner launigen Abschiedsrede jede Träne im Knopfloch verbeten, er sei nicht tot, sondern nur befördert worden, und man würde es sicher hin und wieder mit ihm zu tun bekommen, nur daß er dann auf hohem Roß vom LKA käme, was allgemeine Heiterkeit auslöste und am Ende herzlichen Beifall; nur einer war stocksteif geblieben. Seine Antrittsrede einen Tag später war ebenso. Völlig emotionslos, langweilig, eben ein Jurist - von Anfeuerung keine Spur. Alle waren sich einig, daß der Mann zum Lachen in den Keller gehe. „Ob wir ihm in der Gerichtsmedizin ein kleines Lachzimmer einrichten?” „Gute Idee, dann kann er Klinges Gäste anöden, die können sich nicht mehr zu Tode langweilen.” Solche Kommentare machten die Runde, da war er keine vier Wochen im Dienst. Und seine Geltungssucht fand niemand hilfreich, Straftaten aufzuklären.

Langeland gönnt „Lord Nelson” die Abfuhr durch den Herrn Präsidenten, aber er befürchtet eine Retourkutsche bei passender Gelegenheit.

„Wenn das mal kein Echo gibt.”

„Was meinst Du?” Malvoisin war in Gedanken schon wieder draußen an der Front. Es macht ihn nervös, nicht zu wissen, wer der Tote ist. Seine inneren Warnglocken läuten. Irgendetwas sagt ihm, daß es bei dem einen Toten nicht bleibt. Diese melodramatische Zurschaustellung des Opfers. Er hat das schon einmal gehabt.

Fünf schwarzhaarige Tennisballjungen, die allesamt vor ihrem Tod bildhübsch waren und mit entstellten Gesichtern über Tennisnetze hängend gefunden wurden. Sie hatten weitere Gemeinsamkeiten, die schließlich zum Täter führten, der, irrsinnig geworden, seither seine Zeit in der geschlossenen Psychiatrie verdämmert.

Ein Einzelmörder versucht, sein Opfer zu verstecken, will jeden Zusammenhang vertuschen.

„Er wird eine Gelegenheit suchen und finden, Dir einen einzuschenken. Glaub mir, ich kenne diesen Typ. Dobermänner sind schöne Hunde, aber mit falscher Erziehung oder einem kleinen Charakterfehler werden sie gefährlich.”

„Weißt Du, wir Malvoisins haben die Bartholomäusnacht und die Französische Revolution überlebt (das die katholische Linie auf der Guillotine verblutete, läßt er weg), Napoléon, den Krieg 70/71 und zwei Weltbrände, ein Müller-Dobermann schafft uns nicht, aber ich danke Dir für Deine wohlmeinende Warnung, mein Freund.” Den Feldzug gegen Dänemark von 1864 erwähnt er nicht, um Langelands dänische Hälfte nicht ungut zu berühren. Es reichte schon, daß sein Ururgroßvater mit seinem Regiment damals die Dänen “besucht” hatte.

„Unterschätze ihn nicht. Manchmal kommt ein Dobermann verkleidet als Pinscher daher und beißt unterm Tisch. Auch Angstbisse können sich entzünden.”

Malvoisin lächelt, aber er freut sich, daß Langeland besorgt ist.

„Hast Du inzwischen erfahren, welche HomoSexTäts in letzter Zeit entlassen wurden?”

„Jou, habe ich. Hab’ Dir deren Dateien schon ausgedruckt. Es sind nur drei.” Langeland schiebt die Blätter zu Malvoisin herüber.

„Na, da haben wir ja direkt Glück gehabt. Abklappern auf Sparflamme. Vielleicht schaffen wir heute noch einen. Die Strandkorbvermieter und die Kurverwaltung in Grömitz sind morgen auch noch da.” Er überfliegt die Bögen. „Hat die JVA die aktuellen Adressen?”

„Habe ich schon abgeklärt. Hier ist die Liste.”

Malvoisin geht drüber und stutzt, läßt sich rückwärts gegen die Rückenlehne fallen. Langeland bemerkt Malvoisins leichte Fassungslosigkeit.

„Is’ was, Martin? Kennst Du einen von denen?”

„Nee, aber die Adresse. De Welt is’n Dörp. Da müssen wir gleich hin. Computer aus, Dienstwaffe an den Mann und ab.” Malvoisin steht auf. Langeland erinnert ihn.

„Haben wir nicht um Siebzehnhundert die Einweisung der zugeteilten Beamten?”

„Richtig. Da habe ich Arbeit für einen Naßforschen. Komm’.”

„Naßforschen? Welchen Naßforschen?”

Langeland schaltet die Technik ab, zuckt mit den Achseln, schnallt sich die Dienstwaffe um und folgt Malvoisin. Nebenan versteht er, wer mit “Naßforscher” gemeint ist. Malvoisin steuert auf Jan Christiansen zu.

„Bist Du wieder trocken hinter den Ohren?“

Christiansen sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue an wortlos an. Allgemeines Grinsen.

„Mache mir bitte die Liste der abzufragenden Vermieter in Grömitz.”

Christiansen mault. „Das alles bis 17 Uhr?“

„Internet, Ostseekatalog, Du machst das schon. Nach der Morgenlage geht es gleich los. Fritz und ich nehmen uns die ersten Häuser in Grömitz vor, und Du teilst die Kollegen ein. Vergiß nicht, von jedem die Diensthandynummer zu notieren, damit sie abgezogen werden können, sobald wir das Quartier unseres John Doe gefunden haben. Verschwendete Dienstzeit. Da hätte der Pinscher gleich etwas, um zuzuschnappen.”

Christiansen sagt nur noch „Mach’ ich”, aber wer mit Pinscher gemeint ist, tja, da steht er auf der Leitung. Langeland nickt kaum merklich und lächelt. Genau so ist es, denkt er sich. Während beide das Büro verlassen, sieht Christiansen fragend in die Runde:

„Wißt Ihr, wen er mit ‘Pinscher’ meint?”

*

„Wen kennst Du denn hier?” Langeland sieht sich um. Malvoisin hat vor einem alten roten Backsteinbau in Grönwohldshorst angehalten und den Motor abgestellt.

„Eine mit einem Besen bewaffnete Witwe, die Witwe Hansen, um genau zu sein.”

„Ist das nicht die, bei der dieser Graf Christian Norderstrand gewohnt hat, der Wortführer unserer Freunde vom letzten Jahr?”

„Genau die, und ausgerechnet bei ihr wohnt Reno Cock. Die Gute ist sicher noch füünsch, daß wir ihr mit Christian Norderstrand einen solventen Mieter aus dem Haus geholt haben, wenn er auch nur sommers bei ihr wohnte und sie ihn schon auf den bloßen Verdacht selbst hinauswerfen wollte. Mörders in min Huus, dat gifft dat nich’! und so weiter.”

„Du hast doch wohl nicht Angst vor ihr?” Langeland grinst schelmisch, was Malvoisin selbst mit einem breiten Grienen beantwortet, denn er kann sich an die mühselige Befragung der resoluten kleinen Frau gut erinnern.

„Na, Du weißt doch: besenschwingende Frauen sind gefährlich da unberechenbar. Die kehren dich hinaus, ehe du ‚Moin’ hast sagen können.”

„Heute hast Du Verstärkung. Ich werde Dich beschützen.” Langeland ist ein einziges Schmunzeln.

„Ach, das ist aber lieb von Dir. Maren und meine Kinder werden es Dir danken.” Die Männer geben sich lachend die Fünf und steigen aus. Ganz wohl ist Malvoisin aber doch nicht.

Während beide sicherstellen, ihre Waffen sofort einsetzen zu können, fragt Malvoisin seinen Freund-Kollegen:

„Und was sagte der Direktor JVA, warum er nicht in seinem Heimatdorf wohnt?”

„Seine Eltern wollten ihn nicht mehr bei sich haben. Das Gerede im Dorf hat ihnen das Leben ohnehin schon sauer gemacht. Und sein kleiner Bruder hat schon einige Prügeleien hinter sich, weil er immer wieder attackiert wurde, ob er auch auf kleine Jungs stünde.”

„Wie alt ist der?”

„17, knapp 18.”

„Der arme Junge.”

„Da wird die ganze Familie in Sippenschmähung genommen. In der Stadt kann man sich verstecken, auf dem Land nicht. Is’ mal so.”

*

Sönke Cock war bei der Mannschaftsbildung beim Sport am “Stein” mal wieder übrig geblieben. Selbst sein einziger Freund Nico Reimsen, der ihn zu sich rufen wollte, wurde mit Knuffen “zurechtgewiesen”. Schließlich hatte der Lehrer Hans Jörgensen eingegriffen und Sönke der Mannschaft zugeteilt, in der auch Nico spielte. Böse Blicke. Es war pures Mobbing, obwohl alle wußten, daß Sönke als linker Verteidiger großartig war und Elfmeter grundsätzlich versenkte. Jörgensen kannte den Hintergrund, hatte die beiden führenden Stänker schon mehrfach ermahnt, aber Rasmus Steensen und Erk Beckmann ließen nicht nach. Das sollte erst später wirklich aufhören, aber nicht an diesem Tag.

Das Spiel war gut verlaufen. Erk bekam die Gelbe Karte für ein Foul an Sönke, der “seine” Mannschaft, die ihn nicht haben wollte, zum Sieg schoß, aber nur Nico gratulierte ihm. Auch Lehrer Jörgensen zollte ihm deutliche Anerkennung für den um zwei Gegenspieler herumgezirkelten 20-Meter-Schuß, der den Torwart Harm Olson alt hatte aussehen lassen. Der hatte sich zudem beim Hechter zur Seite unglücklich wehgetan und kochte erst recht.

2:1 - Abpfiff, Kabine und Dusche. Nico und Sönke hatten die Spinde nebeneinander, was gut war, so war Sönke kein Einzelziel. Sie blieben beieinander sitzen, ließen die übrigen “Kameraden” vor, die mit blödem Grinsen oder „Na, wollt Ihr noch ein bißchen Händchenhalten?” und „Hat Reno Euch gezeigt, wie es geht?” nach und nach die Umkleidekabine verließen. Als die ersten wiederkamen, entkleideten sich die Freunde, nur um sich anhören zu müssen, ob sie nicht den anderen mal zeigen wollten, wie sie es miteinander trieben. „Wir sind doch auch schöne Jungs. Macht es uns doch mal”. Sönke wollte einen attackieren, aber Nico hielt ihn an der Hand fest. „Guckt mal, wie sie sich die Patschehändchen geben”. Beide nahmen ihre Handtücher und gingen hinaus, hämisches Gelächter schallte ihnen nach. Sönke wollte zurück und zulangen, aber sein Freund hielt ihn zurück, das wollten die doch nur und schüttelte den Kopf „Laß es“.

Nico spürte auf dem Weg zur Dusche plötzlich ein menschliches Bedürfnis und entschuldigte sich bei Sönke, er solle doch schon mal vorgehen, die meisten seien sicher schon weg. Während Nico rasch zur Sitzung auf der Toilette verschwand, ging Sönke weiter zum Duschraum; die zwei letzten Jungs kamen gerade heraus, wedelten mit ihrem eingebildeten Selbstbewußtsein und betrachteten ihn grinsend. Dabei gab es für blödes Grinsen keinen Grund. Nico war zwar solo, aber Sönke hatte zu Hause im Nachbardorf eine hübsche Freundin, Mareike Christians, die er aber geschickt aus allen Begegnungen heraushielt. Sie wußte Bescheid und hielt dicht. Sie badeten an einer einsamen Stelle am Weißenhäuser Strand und fuhren zum Tanzen nach Lübeck, stiegen in Oldenburg grundsätzlich in verschiedene Waggons ein und setzten sich erst zusammen, wenn Sönke sicher erkundet hatte, daß niemand im Zug saß, der sie beide kannte. Auf dem Rückweg hielten sie es genauso. Im Winter hatten sie ihre heimlichen Plätze und manchmal tat Nico so, als träfe er sich mit Sönke und tauschte seine vorgetäuschte Anwesenheit mit Mareike, stand oft genug Schmiere für die beiden. Das alles war zwar umständlich, aber es hatte das Liebespaar schon ein Jahr vor Schwierigkeiten bewahrt und fest zusammengeschweißt. Ihre Jugendliebe hatte eine Qualität bekommen, die auf lebenslanges Zusammenbleiben hinsteuerte. Und optisch machten beide auch etwas her. Mareike war eine richtig hübsche Blonde mit einer wunderbaren Figur, nicht klapperdürr, 1,72 m mit 65 kg, weiblich eben, und ihre leuchtendblauen Augen strahlten eine Fröhlichkeit und Liebenswürdigkeit aus, die Sönke von Anfang an für sie einnahm. Ihre süßen Sommersprossen im Gesicht, für die manche Mädchen sie veräppelten, taten ein Übriges. Sönke selbst war 1,87 m groß, dunkelblond, durchtrainierte 72 kg schwer. Für Fußball war er im Grunde genommen als Feldspieler etwas zu groß, für Basketball deutlich zu klein. Nico und er waren schon eine Weile auf der Suche nach einem anderen Freundespaar, mit dem sie Beachvolleyball spielen könnten, hatten aber noch niemanden gefunden. Nico war ein dunkelbrauner Typ, 1,86 m groß, 71 kg schwer, bestens trainiert und hatte nicht nur Klavierspielerhände, er spielte auch Klavier. Seine Vorliebe war der Ragtime, Stücke von Scott Joplin liebte er besonders, aber er hatte auch Spaß daran, Chico Marx’ Spielstil nachzuahmen und übte Stücke aus den diversen Filmen der Marx Brothers, die er sich immer wieder ansah. Seine Beherrschung der Schwarzen und Weißen hätte ihn eigentlich zum Liebling aller machen müssen, aber die Freundschaft zu Sönke isolierte ihn. Da er bei all seiner Liebenswürdigkeit extrem stur sein konnte, hielt er zu Sönke, die Freundschaft der beiden wurde immer enger, und pfiff auf die anderen. Dummerweise hatte Martina, der er seine Jungfernschaft geschenkt hatte, nicht Mareikes Charakter und ihn verlassen, als das Gerede richtig dick aufkam. Ihre spießigen Eltern taten ein Übriges. Sie war mit seinem Klassenkameraden Jörn zusammen, was den Schmerz immer wieder anriß, obwohl er kein Wort mehr mit ihr sprach. Sie hatte seine dunkelgrünen Augen so schön gefunden, von denen er sich nicht erklären konnte, wie er sie sich genetisch eingefangen hatte. Braune Augen wären ihm lieber gewesen oder so meeresblaue, wie Sönke sie abbekommen hatte. Aber nur die Augen schön zu finden reicht eben nicht, wenn der Zeiger auf “Probe und Bewährung” steht.

Nico hatte seine “Sitzung” erledigt, warf sich das große Handtuch über die Schulter und orientierte sich vor der Toilette, ob noch andere herumliefen. Daß man ihn nackt sehen könnte, war ihm egal, man sah sich unter der Dusche sowieso und verstecken mußte er sich nicht, aber dumme Bemerkungen mußte er nicht haben. „Junger Esel trifft junges Pferd” und ähnliches war ihm alles schon passiert, wenn die anderen wußten, daß er zu Sönke aufschloß. Eigentlich hätte er zuschlagen müssen, aber seine Hände waren ihm wichtiger, als der kurze Triumph, irgendwelchen Dummschwätzern einen “zentriert” zu haben. Als er sich dem Duschraum näherte, hörte er laute Stimmen. Aus dem Gewirr vernahm er Wortfetzen „… zeig doch mal …” “… sollen wir Dir einen …” „…lutschst Du nur kleine …” „… Ihr Blödmänner, laßt mich …” „… ist Nico Dein Fav…”. „Was bin ich?” Nico lehnte am Türrahmen und verschränkte die Arme. Jörn, Erk, Rasmus und Harm drehten sich um. Bis auf Harm, der seine Badehose anhatte, waren sie nochmals nackt zurückgekommen; Sönke stand mit dem Rücken zur Wand und drückte Erk gerade weg.

„Braucht Ihr Hilfe beim Einseifen?”

Rasmus löste sich aus der Gruppe, baute sich in drohender Haltung vor Nico auf.

„Willst Du uns am Ende einseifen, hä? Hältst immer noch zu der Schwuchtel, wie?”

„Immer zu einem Kameradendienst bereit”, erwiderte Nico mit einem freundlichen Grinsen, aber hörbar ironischem Unterton, wobei Rasmus seinerseits frech grinste und sich zu seinen Kumpeln umdrehte, die alle ein hämisches Mienenspiel aufsetzten, „aber wenn ich mir Dein bißchen Hintern ansehe und meinen wundervollen Arsch mit Deiner Visage vergleiche, ist mein Süden tausendmal besser als Dein Norden, Dummbacke.” Rasmus blieb das gerade so unvorteilhaft eingestufte Gesicht stehen.

„Waaas?” In Bruchteilen von Sekunden baute sich seine physische Aggression auf.

In der Bewegung, Nico einen Faustschlag zu versetzen, tauchte der weg, dessen Handtuch flog zur Seite, und ehe er in der Drehung nochmals ausholen konnte, verzerrte sich sein Gesicht plötzlich in Ungläubigkeit und extremem Schmerz, denn Nico hatte gezielt zugetreten.

Mit einem „Oihiiii” ging Rasmus zu Boden. Im selben Augenblick schlug Sönke Erk so eisern ans Kinn, daß der zurücktaumelte und in der Ecke lag. Jörn sah aufgeregt hin und her. Harm nutzte das kurze Durcheinander zu rascher Flucht, was Jörns Blicke nur noch unkoordinierter machte. Nico bedauerte, daß er nicht ihn zu Boden geschickt hatte, wie das jaulende und sich im begreiflichen Schmerz um eine wohl zertrümmerte Zukunft am Boden wälzende Großmaul Nummer eins. Martina würde bestimmt eine ganze Weile auf Jörns Liebesdienste verzichten müssen. Obwohl, vermutlich waren sie ohnehin nicht besonders. Man munkelte, er hätte immer mal Versager, und seine Ex würde sich bereits nach einem anderen umsehen. Also kein großer Verlust.

„Äh, Jungs, hallo. Können wir uns auf unentschieden einigen? … Ja? … Äh ... Einverstanden? Jeder geht, äh, ich meine, vielleicht einfach so, wie soll ich sagen, seiner Wege, hm?” Verzweifelt hatte Jörn seine Lage erkannt, schaute hin und her, ob jemand seine unsichtbar geschwungene Weiße Fahne akzeptierte.

Sönke und Nico sahen sich an. Nico nickte zustimmend. Er wollte endlich duschen.

„Okay, Pisser. Hast noch mal Glück gehabt. Bedank’ Dich bei Nico.”

Jörn sah den Ex seiner künftigen Ex mit einem leicht verunglückten Grinsen an und stotterte ein Dankeschön.

„Und nimm’ noch eine Blume für Martina mit.”

„Eine Blume? Woh…?” Das …er blieb stecken, denn Sönke verpaßte ihm einen Faustschlag aufs linke Auge, daß Jörn rückwärts taumelte.

„Liebt sie nicht Veilchen?” Sönke rieb sich leicht die Rechte.

„Oh ja, sehr sogar”, pflichtete Nico seinem Freund fröhlich bei, wohl wissend, daß sie die hübschen kleinen Blumen nicht mochte.

„Eben. Und dieses wechselt sogar noch die Farbe”, kartete Sönke spöttisch nach.

Jörn hielt sich das Auge und seine “Dankbarkeit” für das bald sichtbare Mitbringsel sehr in Grenzen.

„Hau ab, Blödmann, und nimm das Rührei mit.” Nico deutete mit seinem rechten Daumen nach hinten auf “Verschwinden” und nickte in Richtung des sich jammernd am Boden krümmenden Rasmus.

Jörn half ihm auf und zog das Häufchen Elend aus dem Duschraum. Untergegangene Angebertypen sehen nackt irgendwie noch einen Tick armseliger aus als ohnehin schon.

Sönke und Nico gaben sich nun lachend mit links die Fünf. Hast Du Dir wehgetan? Nico befühlte Sönkes rechte Hand, der leicht das Gesicht verzog.

„Nee, für den reicht’s dreimal, aber Mann, Du hättest nicht viel später kommen dürfen”, atmete Sönke hörbar auf. „Mit zwei Typen werd’ ich fertig, aber vier? Ich dachte schon, daß ich mich bücken muß.” Er ahnte nicht, wie kurz er davor war, denn genau das hatten die Vier vor, von Rasmus aufgehetzt.

Sönke warf seine Brause wieder an.

„Seifst Du mir den Rücken ein?” Er reichte Nico das Duschgel und drehte sich um.

„Ach herrje, da liegt ja noch einer. Den haben wir ganz vergessen.” Nico sah an Sönke vorbei und sein Blick traf den in leicht verrenkter Haltung am Boden “schlafenden” Erk.

„Laß ihn schlafen. Den wecken wir nachher. Jetzt duschen wir erst einmal.” Nico schäumte Sönke ein, und der dachte plötzlich an seinen Bruder und wie sehr er ihn vermißte. Er durfte ihn nie besuchen. Dabei hätte er so gern gewußt, wie es Reno ging. Über drei Jahre hatte er ihn nicht mehr gesehen, fürchtete, daß sein großer Bruder ihn gar nicht mehr erkennen würde.

Nicos Aufforderung, nun ihm den Rücken einzuseifen, lenkte ihn ab. Während sie sich unter ihren heißen Wasserstrahlenbündeln drehten, hatte Sönke eine Idee.

„Fahren wir mal nach Kellenhusen oder Grömitz ‘rüber? Da stehen doch auch Volleyballnetze. Vielleicht finden wir dort Spielpartner.”

„Gute Idee, und Mareike nehmen wir mit. Diese ewige Heimlichtuerei am Weißenhäuser oder in Lübeck ist doch ätzend.”

Sönke freute sich, daß sein Freund an Mareike dachte.

„Und dann sehen wir uns mal nach einer neuen Freundin für Dich um. Deine Angelschnur ist ja lang genug.”

Die Anzüglichkeit schmeichelte Nico und beide lachten.

„Dann müssen wir aber an den Lensterstrand.“ Sönke verstand und beide gaben sich wieder die Fünf. Junge Burschen eben, auf dem Weg zum Mannwerden.

Als sie ihre Erfrischung beendet hatten, stellten sie vor dem Gehen die Dusche über Erk an - eiskalt natürlich. Der rührte sich sofort und versuchte mit einem gelallten „Wo …? Warum …?” herauszufinden, was passiert war. Mit glasigem Blick umhersuchend, entdeckte er die beiden Freunde, die sich nur noch vergewisserten, daß er lebte und mit einem spöttischen Winken von ihm verabschiedeten. Dann verschwanden sie, und Sönke dachte wieder an Reno. Ob er schon entlassen war? Vielleicht Bewährung. Er traute sich bestimmt nicht nach Hause.

*

Die Männer gehen durch den immer noch gepflegten Vorgarten. Malvoisin hat den Eindruck, daß er sogar noch schöner geworden ist. Sie erreichen das Haus, Langeland klingelt. Malvoisin zückt seinen Dienstausweis, fest entschlossen, ihn diesmal festzuhalten. Von drinnen hören sie ungehaltenes Gebrummel. Malvoisin nimmt seinen Rembrandt ab.

„Mensch, ik heff doch min Gemüs op’m Tisch, mut wat to eten moken. Allweg in de Mittagstid.” Und damit geht die Tür auf. Vor ihnen steht die Witwe Hansen - bewaffnet mit ihrem Besen. Ein bißchen grauer geworden, ein wenig kleiner, aber unverkennbar die Witwe Hansen.

„Wat is? Ik köp nix an’ne Dör!” Sie will die Tür gleich wieder schließen.

„Fru Hansen, nu blifft Se man stohn. Malvoisin, vun de Lübecker Kriminalpolizei!”

Frau Hansen runzelt die Stirn, sieht noch einmal genau hin, kommt einen Schritt vor.

„Ach nee, de Herr Baron ut Kellenhusen.” Sie legt ihre Stirn in zusätzliche Falten. Ein bißchen giftig ist sie immer noch. „Ji hefft mi den Herrn Krischan ut min Huus holt. De het mi noch een Monat Miete to betolen. Tweehunnert €uro, dat is man bannig veel Geld för ’n olet Wif as ik een bün. Hebbt Se mi dat Geld mitbracht?” Sie sieht die Männer erwartungsvoll an.

„Nee, Frau Hansen, das haben wir nicht, und wir wollen auch nicht zu Ihnen, so sehr ich mich freue, Sie gesund und munter wiederzusehen. Wohnt bei Ihnen ein Reno Cock?”

Die Witwe Hansen entfaltet sich. Ein Ansatz von Lächeln zeigt, daß sie als junge Frau sehr hübsch gewesen sein muß.

„Reno? Jou, de wohnt bi mi. Nu jüst suus Monate. He deit mi mit mien Goorn helpen, de hett dat lernt. Is’n feinen, staatschen Jung.” Dann legt sie ihre Stirn doch wieder in Falten und sieht die Männer mißtrauisch an.

„Hett de Reno wat anstellt, dat de Udels nach em fragen deien?”

„Wir hoffen nicht, und deshalb müssen wir ihm einige Fragen stellen. Ist er im Haus?”

„He is achtern im groten Goorn bi de Arbeit.”

„Würden Sie mich bitte zu ihm bringen?”

„Wenn dat nich anners geit. Denn kommt Se man in, Herr Baron.”

Die Witwe Hansen tritt samt Besen ein wenig zurück und zur Seite. Malvoisin bedeutet Langeland ums Haus zu gehen, um Cock das Ausbüxen zu verstellen, und läßt sich durch das Haus hintendurch zum Garten führen.

Zum ersten Mal sieht er das Gebäude von innen. Es ist alles peinlich sauber, aber altmodisch eingerichtet. Es sieht so aus, als stünden noch die Möbel der Eltern oder Schwiegereltern darin, aber alles gepflegt und erstaunlich gut im Schuß. Die Küche ist ein norddeutsches Schmuckstück. Kuratoren des Deutschen Museums würden sie vermutlich gleich abbauen wollen und nach München mitnehmen. Aber da ist erst einmal die Witwe Hansen vor. Solche Besen kennt man am Isarstrand nicht, jedenfalls nicht dieser herzhaften Qualität. Und wenn, dann bairisch - versteht ja keiner. Sie treten zur hinteren Tür in den Gartenbereich hinaus. Der Besen wird an die Wand gestellt.

„Reno, da is Besoek för Di!”, ruft sie mit zum Schalltrichter geformten Händen, kleinen, alten, abgeschafften Händen. Und zu Malvoisin gewandt, als müßte sie eine Einzelperson in einer Menschenmenge identifizieren, obwohl sonst niemand zu sehen ist:

„De staatsche Jung da vorn, dat is Reno. Ik mut in mien Koek torüch nu wat to eten moken.” Damit läßt sie ihn stehen, den Besen auch. Im Weggehen brummelt sie vor sich hin: „Is de Herr Kriminal dor gifft dat jümmers Lackermentjes [Schwierigkeiten], äh. Keen Geld, keen Rükelbusch [Blumenstrauß]. De Lüüd sünd so gnietschig.“ Er sieht ihr schmunzelnd nach. Unbewaffnete Frauen sind ihm lieber, aber die Witwe Hansen ist auf ihre Art schon in Ordnung.

Etwa 20 Meter weiter fixiert Malvoisin den jungen Mann, der nach Aktenauskunft 27 Jahre alt ist, einsfünfundachtzig hoch und nach seiner Einschätzung etwa 80 Kilogramm schwer, eher etwas weniger. Er trägt nur kurze, offenbar abgeschnittene, leicht ausgefranste, verschmutzte Jeans, dazu Gartenstiefel, die mindestens einen Gartenarbeitstag lang nicht gereinigt worden sind. Die langen schwarzen Haare sind streng nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein wohldefinierter Oberkörper läßt regelmäßiges Fitness- und Muskeltraining vermuten. Vielleicht als Beschäftigung während der Haft aus Langeweile, Erhaltung der Kampffähigkeit bei Häftlingsauseinandersetzungen, Vorbereitung auf schwere Arbeit nach der Entlassung, vielleicht eine Mischung aus alldem, denkt sich Malvoisin bei seiner ersten optischen Einschätzung. Er sieht jedenfalls besser aus, als auf dem wie üblich miserablen Aktenphoto.

Im Augenwinkel erkennt er, daß Langeland in Position ist und geht auf Reno Cock zu, der im Erdbeerbeet mit der Arbeit aufgehört hat und sich auf seinen Grubber stützt.

„Bullen! Das stinkt bis hierher. Verdammt, was wollen die denn?” Nach außen gibt er sich gelassen, doch mit leicht zusammengekniffenen Augen, schönen braunen Augen, fixiert er den, der da auf ihn zukommt. „Sieht nicht unsympathisch aus, aber Bulle bleibt Bulle. Hm.” Sein Blick trifft den Rembrandt. „Was ist denn das für ein Hut? So ‘was kann man tragen?”

„Reno Cock?”

Malvoisin bleibt in einer Distanz vor ihm stehen, die etwas länger ist als der Grubber samt gebogener Zinken.

„Wer will das wissen?”

Malvoisin überhört den leicht aggressiven Ton und übergeht die Unfreundlichkeit einer Gegenfrage, zückt seinen Ausweis, den er Cock lesbar entgegenhält.

„Malvoisin, Kripo Lübeck. Sie sind Reno Cock?”

„Ja, ich kann es nicht leugnen. Was wünschen Sie von mir?” Er richtet sich auf, hält den Grubber leicht seitwärts wie eine umgedrehte Lanze und hängt den Daumen seiner linken Hand lässig in den Hosenbund ein, dabei nimmt er eine sein linkes Bein entlastende Haltung an. „Du kannst mich mal.”

„Er macht auf. Der Ton ist Abwehr, aber das ist normales Fremdeln. Er hat instinktiv erkannt, wer wir sind. Lockere Haltung. Der hat nichts zu verbergen.”

„Sie haben gehört, was letzte Nacht hier im Wald passiert ist?” Malvoisin behält ihn genau im Blick, den Reno Cock selbstbewußt aushält und erwidert.

„Hab’ ich. Der Dorffunk ist schnell. Fritz Möller kam vorbei und hat aufgeregt erzählt, daß ein nackter Typ falsch ‘rum im Baum hing. Blöd gelaufen für den armen Kerl. Und von mir wollen Sie jetzt sicher wissen, wo ich war, weil meine Vergangenheit mich gleich verdächtig macht, nicht wahr? Und der Junge hat sicher einen Knaller von Schwanz gehabt, richtig?” Er sieht Malvoisin funkelnd an. „Und dann wohnt der Reno Cock auch noch so nah dran, und einmal HomoSexTät, immer HomoSexTät, richtig?”

Der Bursche sieht nicht nur gut aus, der hat ’was drauf. Etwas verkürzt formuliert, aber das ist die Grundlage. Wo waren Sie von gestern abend etwa 18 Uhr bis heute morgen vier Uhr?”

„Meine Freundin hat Nachtdienst …”

Malvoisin stutzt. Reno Cock bemerkt es.

„Ach, Sie dachten, weil ich mal vier hübschen Bengels gezeigt habe, was man mit dem männlichen Genital so alles machen kann, daß ich schwul sei?” Cock blickt auflachend kurz zu Boden, um Malvoisin gleich danach energischen Blickes zu fixieren.

„Mann, ich hatte lange keine Freundin und die Burschen waren geil. Denen war egal wer sie entjungferte. Alle sahen wie 17, 18 aus. Daß drei erst 15 waren, habe ich erst später erfahren. Und der 16jährige hat mich in seiner Sexrage gebissen, da habe ich ihm eine geschmiert, er hat zurückgehauen und dann bekam er Prügel, weil er nicht aufhörte. Bei seinen Eltern hat er sich dann ausgeweint, wilde Geschichten erzählt. Man hat meine DNA bei ihm gefunden, und den Rest kennen Sie doch sicher aus den Akten.”

„Nein, erzählen Sie.” Malvoisin hat plötzlich das Gefühl, daß seinem Gegenüber übel mitgespielt wurde. Instinkt. Er wird mit Anders Reinhardt vom K11 zu reden haben.

In Reno Cock arbeitet es. Er dreht sich leicht um, sieht in die Ferne, als wolle er irgendwo von dort seine Vergangenheit zurückholen. Dann blickt er zu Boden, zieht hörbar Luft ein, sieht Malvoisin prüfend an und beginnt:

„Die drei Fünfzehnjährigen waren Freunde, haben verabredet, sich einen geilen Typen zu suchen, damit sie endlich einen geblasen bekämen, weil sie an Mädchen nicht herankamen und untereinander wollten sie nicht, wie mir René, der dritte, erzählt hat. Ich hatte selbst mal wissen wollen wie das ist und diese Neugier hat mich in diese Scheißsituation gebracht. Und dieser Frederic hat mich im Waldschwimmbad in Lensahn ganz offensiv angesprochen, man könne ja sehen, daß ich gut beieinander sei und ob ich nicht Lust hätte, ihn zu ficken. Keine Freundin, der Junge war hübsch wie ein Mädchen.” Cock zuckt mit den Achseln. „Die Versuchung war größer als die Vernunft - und peng! Bei den Ermittlungen hat so ein arroganter Bademeister ausgeplaudert, er hätte mich mit René gesehen, der hat vor Angst gequatscht und behauptet, ich hätte ihn gezwungen, um von seinem eigenen Verhalten abzulenken - und die Falle war zu. Deren Eltern haben einen Riesenaufstand gemacht. Der Staatsanwalt hatte sein Opfer, man hat mir nicht geglaubt und das Gericht hat zugelangt. Den Verkehr mit Frederic konnte ich nicht leugnen, aber daß die Dresche eigentlich nur eine Reaktion auf seine Körperverletzung war, hat niemand berücksichtigt. Exempel, vier Jahre sechs Monate alles in allem. Revision verworfen. Richter machen so ‘was wohl, wenn sie zuviel Arbeit oder einfach keine Lust haben sich mit irgendeinem Mist weiter abzugeben. Einen habe ich sogar flüstern hören ‚So einer wäre früher auf die Guillotine gekommen‘. Mein Anwalt war eine Flasche, und so bekam ich meine Zeit. Kurz nach Beendigung meiner Gärtnerlehre habe ich den Rest wegen guter Führung und sehr gutem Lehrabschluß zur Bewährung ausgesetzt bekommen. Mein Direktor hat gut für mich gesprochen.” Cock richtet sich selbstbewußt auf. „Glauben Sie, Herr Kommissar, ich bin so bescheuert, wieder einzufahren? Ich habe meinen homoerotischen Ausflug schwer bezahlen müssen. Nee. Und wenn Sie es genau wissen wollen: Zwei Langzeitknackis haben mich vergewaltigt, ich stünde ja auf Jungs, solle mich nicht so anstellen. Als ich mich wehrte hatte ich ein Messer an der Kehle. Da hält jeder still. Ich gehe nicht einmal bei Rot über die Ampel! Nee, kein Bedarf mehr.” Jetzt läßt Reno Cock den Grubber los, der zu Boden fällt, und verschränkt die Arme. „Und dann habe ich trainiert, und deshalb sehe ich heute so aus.” Er zeigt seine Armmuskulatur vor - Bizeps plus. „Mich faßt kein Mann mehr an.”

Malvoisin ist seltsam berührt und beeindruckt. Er kennt viele wilde Geschichten und Lebensläufe, aber dieses Schicksal ergreift ihn.

„Sie sagten etwas von einer Freundin. Wer ist sie?”

„Eine Krankenschwester, 24 Jahre alt, Jasmin Brook. Arbeitet bei den Ostholstein Kliniken. Wir haben uns hier am Strand kennengelernt. Hat in Oldenburg eine kleine Wohnung, aber wir wollen bald zusammenziehen, spätestens wenn ich eine passende Arbeit finde.”

„Wovon leben Sie jetzt?”

„Hartz IV, was sonst? Mich nimmt doch keiner mit Knast-Vergangenheit.”

„Und sie weiß über Sie Bescheid?”

„Seit vier Wochen, als ich sie als Menschen besser kannte, ein wenig hinter ihr hübsches Äußeres gesehen hatte und es wagen konnte. Jetzt liebe sie mich noch mehr als vorher, hat sie gesagt.”

„Und Gartenarbeit würde Sie interessieren?” Malvoisin hat eine Idee.

„Ja klar. Vorher war ich bei der Handelsmarine, hatte gute Heuern, aber von Jasmin will ich nicht mehr weg. Vielleicht klappt es mit dem Abendgymnasium, denn …” Er unterbricht sich selbst, sieht schmunzelnd zu Boden, blickt wieder hoch und fährt fort: „… na ja, sie hat eben viel Nachtschicht, da ist sie sowieso nicht da und ich hätte Zeit zum Lernen. Sie verstehen?”

Nun muß Malvoisin grinsen. „Oh ja, ich verstehe. Ich habe fünf Kinder.”

„Mach’ Sachen!” Cock ist baff. Sein Gesichtsausdruck zeigt Bewunderung. „Tatsächlich?”

„Tatsächlich.” Dann wird Malvoisin noch einmal ernst. „Wo waren Sie gestern abend?”

Cock holt tief Luft.

„Nach dem Abendbrot bei Frau Hansen haben wir uns zusammen einen Krimi angesehen. Das sei ja sicher gresig, meinte sie, ob ich nicht dabeibleiben könne. Da bin ich eben dageblieben. Sie ist danach zu Bett, ich hab’ mir noch einen Western angesehen und lag kurz nach Mitternacht oben in der Koje. Meine Freundin hat mich gegen zwei Uhr kurz angerufen. Sehnsucht, meinte sie, obwohl sie das nicht darf, dienstlich, meine ich.”

„In den Ostholstein Kliniken, sagten Sie?”

„Genau da. Ähm, geht es diskret?” Cock räuspert sich verlegen.

„Keine Sorge. Wir können Alibiüberprüfung.”

Cock lächelt dankbar.

„Kennen Sie den?” Malvoisin hält ihm blitzschnell ein Bild von John Doe vor.

Cock sieht hin und schüttelt den Kopf. „Nein, nie gesehen. Muß aber gut ausgesehen haben, lebend meine ich.”

„Vermutlich. Der hat‘n guten Blick.

„Wer sagt Ihnen denn dann, daß ein Mann ihn getötet hat?”

„Vielleicht der nötige Kraftaufwand?” Malvoisin sieht Cock wieder prüfend an.

„Das schwache Geschlecht ist oft gar nicht so schwach, Herr Kommissar, auch körperlich. Da kann man sich sehr täuschen.”

Er sieht Malvoisin mit hochgezogenen Augenbrauen und dem Ausdruck Hast Du das bedacht? an.

„Aber entschuldigen Sie bitte, ich müßte mich mal einen Augenblick hinsetzen.”

Malvoisin sieht Reno Cock verwundert an. „Schwächelt der vom Erdbeerhäckeln?” Und dann ist er nur noch platt. Cock hat sich zwar blitzschnell nach dem Grubber gebückt, aber er hält ihn nicht locker in der Hand, sondern stützt sich mit ihm ab und humpelt zum Haus zurück. Malvoisin sucht Blickkontakt mit Langeland, der sich schon gelangweilt an die Rückwand einer der beiden Garagen gelehnt hat, und deutet hinter Cocks Rücken auf dessen Gehweise, zuckt mit den Achseln, was Langeland stumm erwidert.

„Was haben Sie denn da gemacht?” Malvoisin nimmt Schritt auf und geht neben ihm her.

„Ach, bin gestern barfuß hier herumgelaufen und ganz blöd da hinten in einen Nagel getreten.” Er deutet in die Richtung, wo der Fehltritt passiert ist. „Tut scheiße weh. Beim Arzt in Kellenhusen Tetanus und Verband, aber ich will mich von Frau Hansen nicht bedienen lassen. Jasmin wechselt heute abend den Verband, schmiert mir ‘was drauf, ein wenig Schonung und dann geht’s wieder.” Er verzieht bei aller Beherrschung doch sein Gesicht. „Daß ich in den Erdbeeren war darf sie natürlich nicht wissen, dann schimpft sie mich.” Cock hat die Bank erreicht und läßt sich mit einem leichten Ächzer nieder.

Malvoisin schließt ab sofort Reno Cock als Täter aus.

„Ja, ja, unsere Frauen.”

„Eben.” Cock sieht ihn grienend an. „Aber nur herumsitzen mag ich einfach nicht. Als Jasmin unlängst das Bett hüten mußte, mußte ich sie fast anbinden, so oft wollte sie ‘raus, sie hätte Hausarbeit.”

„Das schwache Geschlecht!” Die Männer nicken sich verstehend zu.

Malvoisin klopft Cock auf die Schulter. „Atschüs für heute - und, äh, gute Besserung.”

„Danke, Herr Kommissar, auch fürs Zuhören.”

„Auch das ist meine Aufgabe, Unschuld zu ermitteln.”

„Wenn das mal alle so sähen.” Er zögert einen Augenblick. „Und sagen Sie Ihrem Kollegen da hinten, es täte mir leid, daß er meinetwegen so gelangweilt herumstehen mußte.”

Malvoisin wundert sich nicht wirklich über Cocks aufmerksame Beobachtung, nickt ihm mit leichtem Grinsen zum Abschied zu und winkt zu Langeland hinüber - Abgang. Der macht nichts lieber, als ums Eck zu verschwinden.

Cock lehnt sich zurück, atmet durch, schließt die Augen und genießt die Sonne. Im Stiefel puckert seine Fußwunde.

*

In ihrem Atelier hat Kristin Christians Negativ ausgegossen und betrachtet nun das noch farblos helle Positiv vor sich - Gesicht und Oberkörper mit Armen und Händen. Er wird wundervoll aussehen, wenn er erst einmal vollständig vor ihr steht. Der Junge ist ein Meisterwerk der Natur, und sie wird ihn verewigen. Für immer wird er so jung und schön bleiben. Nur kalt wird er sein. Sie überlegt, ob sie nicht eine Form schaffen kann, die mit heißem Wasser befüllbar ist, so wie ein künstlicher Edler, um die Illusion zu kreieren, es sei Leben in ihm, und wenn er erkaltet sei, ließe man es wie Manneken piss ablaufen. Kristin muß lachen. Christian löst witzige Ideen in ihr aus. Ob sie beide verführen soll oder nur Jan? Jan ist einen Tick männlicher, findet sie, und er macht sie an, sie will ihn. Sie muß ihn haben, und es wird ihr nicht schwerfallen, diesen jungen Hengst über den Zaun springen zu lassen. Vermutlich wird sie Christian an Sigrun verlieren. Nein, nicht vermutlich, ganz sicher sogar. Vielleicht kann sie den beiden einmal zusehen und seine Kraft optisch in sich aufsaugen. Er ist jung und schön und ohne Zweifel ein ästhetischer Genuß allererster Wahl. Ihr Gesicht zeigt ihr sehnsuchtsvolles Verlangen, Schönheit und Wärme, als ein Zucken die Harmonie stört. Ihr wird bewußt, daß auch dieser Adonis sterben muß - eines Tages.

*

„Cornelius, was würdest Du vorschlagen?”

Der junge Mann sieht seinen Vater gelassen an.

„Wenn ich nicht wüßte, daß Dein Entschluß schon längst feststeht, würde ich sagen: Vergleich, ehe Rosslowski ihn Dir aufdrückt. Es spart Dir Zeit, Hartmann eine Menge Kosten, denn ohne die Entscheidung kommt er nicht weiter, und sichere Hunderttausend mehr schauen dabei auch heraus, wie ich das nach Aktenlage einschätze. Du weißt doch, wie Rosslowski ist; das kann auch schwer nach hinten losgehen. Aber ich habe nicht die Verantwortung. Jurist, aber kein Mitglied Deiner Kanzlei, aber auch als Offizier sage ich Dir, daß es so taktisch klüger wäre. Ich bringe lieber 250 Mann lebend über den Fluß, als 500 komplett am Ufer zu verlieren. So einfach ist das.” Er macht eine kurze Denkpause. „Blöd, daß wir Magnus jetzt nicht fragen können. Aber Moment …”

Cornelius van Straaten zieht sein Handy hervor und tippt eine Nummer ein, hält das Gerät ans rechte Ohr.

„Du weißt doch, daß er immer irgendein Ass aus dem Ärmel zieht, ganz legal. Und es sticht.”

Er lauscht auf das Klingelzeichen, verzieht schließlich sein Gesicht.

„Paps, ich glaube, mein Bruderherz ist irgendwo in Grömitz ganz schwer in weiblichen Armen untergegangen, meerestiefen Augen ertrunken, in erotischem Feuer verbrannt …”

„Ist schon gut, Junge. Da kann man ja neidisch werden, wenn man Dich so schwärmen hört. Und ehe Du lange fragst: Fahr nach Grömitz und befreie ihn, ehe er so amourös wird, daß er den Weg nach Hause nicht mehr findet.”

Friedrich van Straaten lächelt fein vor sich hin und erinnert sich an die herrlichen Zeiten, als er in diesem Alter war, kurz bevor er seine liebe Frau kennengelernt hatte. Seine wunderbare Cornelia, die damals … Cornelius unterbricht seine beginnenden Reminiszenzen. Sein Junge lacht.

„Na weißt Du, Paps, bisher hat Magnus immer noch allein zurückgefunden.”

Sein Vater wiegt bedenklich den Kopf.

„Ob ich mir da so sicher sein soll? Ich erinnere mich an eine Begebenheit vor drei Jahren, da ging es aber heiß her. Du hast Deinen Bruder doch regelrecht heraushauen müssen, schon vergessen?” Der Anwalt lehnt sich zurück und zieht die Augenbrauen hoch.

„O Papa!” Cornelius hebt abwehrend beide Hände. „Erinnere mich bloß nicht. Das hätte mich fast meine Schneidezähne gekostet! Und Magnus’ blaues Auge hat tagelang in allen Farben geleuchtet.”

„Und wie sahen die anderen aus?” Friedrich van Straaten will seinen Sohn wieder aufmuntern. Der lacht.

„Schlecht, furchtbar schlecht.” Die Erinnerung heitert ihn sehr auf. Sie hatten die drei Zarendorff-Brüder so aufgemischt, daß sie ein für allemal vergessen hatten, Magnus in seinen amourösen Unternehmungen zu stören. Was konnte Magnus denn dafür, daß Amélie Zarendorff ein so süßes, unwiderstehliches Wesen war und einmal einen Liebhaber haben wollte, der ihr gefiel und nicht erst Gnade vor dem Brüder-Gericht finden mußte? Und wie schön Kay Zarendorff jaulen konnte, als ihn Magnus’ herzhafter Tritt da traf, wo es kein Mann der Welt wirklich gut vertragen kann. Es war herrlich. Er hat lange überlegt, ob es für solche Töne Noten gibt. Aber noch einmal solche Sorgen um seine Lachschönheit hätte er nicht so gern und wünscht sich, sein Bruder wäre in Amouren ohne Brüderbegleitung verwickelt, vielleicht mit einer schönen Schwester, damit er auch etwas davon hat. Wer weiß?

„Also morgen nach Grömitz. Heute schaffe ich es nicht mehr, und ein Zimmer muß ich ja nicht reservieren. Magnus hat ja wie immer eine kleine Suite.”

„Essen wir heute abend zusammen?”

„Gern, Paps, und eine Partie Schach?”

„Jederzeit. Vielleicht gewinnst Du ja heute, hm?”

Cornelius schaut etwas säuerlich.

„Ich schaff’ Dich schon noch mal, lieber Herr Vater. Eines Tages!”

Friedrich van Straaten lächelt siegessicher. Damit hat er schon manchen gegnerischen Kollegen irritiert und Staatsanwälte aus dem Konzept gebracht. Seinen Sandwich-Junior schlägt er allemal.

*

Malvoisin und Langeland sind auf dem Rückweg nach Lübeck. Sie haben kurz in der Arztpraxis in der Denkmalstraße angehalten und Reno Cocks Krankengeschichte überprüft. Der Bäderarzt hatte kein Problem damit, da Malvoisin auf seine Beschreibung der gehbehindernden Verletzung nur ein „Ja” oder „Nein” hören wollte und daß es tags zuvor passiert war. Er hätte Reno auch mitnehmen können, aber warum solch ein Umstand. Der Mann war ihm nicht mehr verdächtig, aber prüfen mußte er trotzdem.

Über Handy hat er Christiansen angeläutet, wie weit er sei, als Antwort nur ein „Sklaventreiber” zu hören bekommen und ein unwirsches „bin bald soweit”. Na, dann könne er schnell noch eine Telephonanrufüberprüfung machen und gab die Daten durch. Christiansen maulte nicht schlecht, aber Malvoisin war sich sicher, daß bei seiner Rückkehr bereits alles fein säuberlich auf seinem Schreibtisch liegen würde. Christiansen meckerte schnell mal, aber er machte seine Arbeit präzise und zuverlässig schnell. Und er war sich ebenso sicher, daß das Gemeckere aufhörte, sobald Antje Eversen ihren liebevoll-milden Einfluß auf ihn ausüben würde, wenn der Tüffel nur endlich merkte, wie sehr die süße Sekretärin in ihn verliebt ist. Holzklotz!

*

Jan hatte seinen Polo hinter dem Strandcasino abgestellt. Bei Mike hatten beide eine Portion Fisch verdrückt und waren aus dem wuseligen Strandbetrieb Richtung Südstrand abgezogen. Schweigsam hatten sie den Weg über den Landesdeich genommen und waren ein Stück hinter dem DLRG-Turm zwischen ein paar Bäumen und hohem Strandhafer einen schmalen Trampelpfad gegangen, dann aber einen kleinen Abhang zum Strand heruntergeklettert und hatten sich auf dem feinen Sand vor einem Feld rundgeschliffener Felsbrocken niedergelassen. Schuhwerk, T-Shirts und Hosen hatten sie neben sich gelegt. Badehosen hatten sie keine dabei. Christian meinte aber, sie sollten sich mal Zweithosen in Jans Wagen legen. Nicht überall könnten sie “ohne” herumhängen. Ihn würde es nicht stören hatte Jan erwidert, aber warum nicht. Sein Handschuhfach könnte durchaus zu einem Drachenbadehosenfach umfunktioniert werden. Hier und jetzt war es im Grunde genommen egal, am taxfreien Strand. In diesem Bereich waren der Schlick und die dicken Steine im Uferbereich ohnehin nicht wirklich einladend zum Baden. Es sei denn, man wollte sich die Füße verknacksen. Aber der Sand war wie immer fein und warm. Da sie beim Wäschewechsel nach der Wasserschlacht im Garten am Vormittag keine Slips angezogen hatten, saßen beide nackt im Sand und lehnten sich jeder an einen durch die Sonne gut angewärmten großen Stein. Christian hatte seinen schmalen hellblauen wieder weglassen müssen, nachdem er in die engen Jeans “mit” einfach nicht hineingekommen war und Jan ihm erst als “Schuhlöffelersatz” heraushelfen mußte. Beide hätten “geräumigere” Leinenhosen anziehen können, aber sie wollten gegenüber Kristin auch angezogen angeben und deutlich zeigen, was ihnen die Natur mitgegeben hatte.

Die Sonnenschutzcreme hatte Jan im Wagen vergessen, aber ihre Bräune war schon so intensiv, daß es einmal ohne nicht so schlimm war. Er mochte deswegen nicht den halben Weg zurücklaufen.

Beide sagten lange nichts. Christian spielte mit dem Sand, ließ ihn durch die Hand laufen und warf hin und wieder eine Handvoll vor sich hin. Nur einmal, als ein älteres Ehepaar vorbeikam und verwunderte Blicke zu beiden herüberschickte, rief Jan, der einfach nur die Sonnenwärme genoß, ihnen auf Amerikaner markierend „Mind your own business!” zu. Sie hörten dann nur noch, daß das wohl ungezogene Amis seien. Wahrscheinlich „so schwule Lümmel” aus Kalifornien, und „was wollen die denn hier”. Die wenigen Spaziergänger auf dem Landesdeich sahen sie nicht, hätten sie auch nicht interessiert. Die Freunde waren mit ihrer stillen Zweisamkeit genug beschäftigt. Man glaubt nicht, wie laut eine Stille sein kann.

Jan steht auf und streckt sich. Er sucht in beide Richtungen den Strand ab - niemand zu sehen. Keine Mädels, nichts. Glücklicherweise auch keine Badegäste mit dummen Bemerkungen. Sie hatten nicht an ihre Badehosen gedacht. Ja und? Er hätte den beiden Spießern nachrufen sollen „Afraid looking at some top guys, huh?”, aber die hätten ihn vermutlich nicht einmal verstanden. Was sollte es auch. Er sieht Christian an, der sich inzwischen ganz im Sand ausgestreckt hat. Am liebsten würde er … aber nein, den Gedanken verwirft er wieder. Nicht hier. Er unterbricht das Schweigen.

„Hej, Alter. Schläfst Du?”

„Nein.”

„Was denn?”

„Ich träume.”

„Wovon?” Jan kniet nieder und setzt sich auf seine Fersen. „Sigrun?”

„Nein.”

„Lügner.”

„Meinetwegen.” Christian gibt sich gönnerhaft. Soll Jan doch denken was er will. So sehr er es genossen hat, so sauer ist er jetzt, daß er nicht weiß, wer ihn bei Kristin so wunderbar und geheimnisvoll verwöhnt hat.

„Na sag’ schon.” Jan drängelt. Er will pikante Details hören. Das Kopfkino anzuschalten und dann in die Körperregionen umzuleiten, in denen es Spaß macht, das … „Jetzt erzähl’ schon!”

„Nein.”

„Aber er sehnt sich nach ihr, nicht?” Jan rüttelt an Christians Stolz.

„Laß das.” Christian hält die Augen noch geschlossen. Jan legt verwundert den Kopf schräg.

„Warum?”

„Ich will jetzt nicht.”

„Jetzt nicht?”

„Warum?”

„Darum!”

Christian richtet sich seitwärts auf, streicht mit der Oberseite seines rechten Zeigefingers über Jans Zapfen und schnippt mit seinem vom Daumen abgeschnellten Mittelfinger gegen das Zentrum von Jans augenblicklicher Gedankenwelt.

„Zapfenstreich!”

„Au! Spinnst Du?” Jan verzieht das Gesicht. „Keineswegs, ich hab’ nur gerade keine Eiswürfel bei mir.” Christian kann sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. „Und streich‘ die Segel.”

„Spielverderber. ‘s hätte so ‘ne schöne Sturmfahrt werden können.”

„NA-HEIN.“

Jan dreht sich um, streckt sich aus und legt seinen Kopf gegen Christians Seite. Der verschränkt die Arme unter seinem Kopf und brummt leise.

Das ist alles reichlich verwegen und verwirrend. Christian schaut in den Himmel, denkt an Sigrun, Verena und Eva - und Jan kann er ein wenig “kochen” lassen. Eine herrliche Auswahl. Oh, das Leben ist schön. Seine gute Laune geht steil hinauf.

Und Jan selbst? Der ist ein wenig enttäuscht und auch sauer, irgendwo dazwischen. Doch er freut sich darauf, Kristin wiederzusehen, die Tage mal, und er hat den besten Freund der Welt. Er ist ein reicher Mann, mit Betonung auf Mann. Was will man(n) mehr? Christian ist bei ihm, Kristin ist heiß auf ihn - es ist ja alles so irre geil. Selbstzufrieden und irgendwie glücklich schließt er die Augen und brummt auch ein wenig, ganz leise vor sich hin.

*

Vor der aufgelassenen Bayern-Kaserne in München steht ein alter VW-Bus. Er muß einer der letzten seiner Art seien, ein Oldtimer, dessen lindgrüne Lackierung 40 Jahre zuvor sicher leuchtender war. Sie sieht ausgebessert aus. Zwei mit einem nicht ganz identischen Grün überstrichene und offensichtlich nicht gerade fachmännisch ausgebesserte Beulen verleihen dem Altgedienten so etwas wie Patina und Charakter. Eine weitere an der Beifahrertür zeigt an, daß einer der Besitzer irgendwann einmal vermutlich einem anderen Fahrer zeigen wollte, daß ihn die Vorfahrtsregel Rechts-vor-links nicht kümmerte. Vielleicht gehörte er einmal einem hoffnungsvollen Studenten, der, mit einem Freund oder einer Freundin oder beiden, mit ihm, damals schon gebraucht gekauft, bis nach Indien gefahren ist - und zurück. Vielleicht stammten die Beulen von Begegnungen mit Bullen oder heiligen Kühen, die sich ihrer unantastbaren Stellung irgendwie bewußt waren und einfach nicht aus dem Weg gehen wollten, als jener vermutlich hoffnungsvolle Student selig war, sich endlich einmal nicht an die deutsche Straßenverkehrsordnung halten zu müssen und mit einer anderen, unumstößlichen Ordnung zusammengerauscht war. Vielleicht hatte auch nur ein junger indischer Elefant mit diesem komischen Ding spielen oder dem drolligen Elefanten ohne Rüssel anzeigen wollen, daß er in seinem Revier nichts zu suchen hatte. Jedenfalls hatte diese deutsche Wertarbeit bisher alle Begegnungen überstanden, die sie auf irgendeinem Schrottplatz hätte enden lassen können.

Auf beiden Seiten waren die Fenster mit einer Firmenbezeichnung beklebt:

Meyer’s Transporte aller Art. München-Bogenhausen, seit 1948 Telephon 089/9570710

Etwas kleiner klebt das Ganze noch einmal auf dem Rückfenster. Die beiden Außenspiegel sind gegen typfremde ausgetauscht, die einen besseren Blick auf den Toten Winkel bieten.

Am Steuer sitzt ein kräftig aussehender Mann, fast bullig, der bei geöffnetem Seitenfenster in aller Ruhe an einer Zigarette zieht und den Rauch genüßlich durch die Nasenlöcher ausbläst. Er könnte etwa 40 sein, hat einen dunkelbraunen Bürstenhaarschnitt, ist glattrasiert und seine kräftigen Oberarme füllen die kurzen Ärmel seines blau-weiß-karierten Hemdes ohne Spielraum aus. Der Mann macht den Eindruck, daß im Ernstfall mit ihm nicht gut Kirschen essen ist. Beobachtete jemand den Wagen und den Mann etwas länger, so würde er bemerken, daß der Fahrer sich immer wieder etwas zur Seite neigt, um durch das rechte Seitenfenster auf das Tor zu blicken, als ob er jemanden erwarte.

Plötzlich schnippt er seine noch nicht zu Ende gerauchte Zigarette aus dem heruntergelassenen Seitenfenster und steigt aus. Es kommen zwei jüngere Männer aus dem Kasernenbereich. Sie haben zwei schlanke, farbige Jungen bei sich. Teenager, etwa 15 Jahre alt. Die beiden sind unterschiedlich dunkle Schwarzafrikaner. Die Jungs sind ordentlich angezogen, tragen saubere kurzärmelige bunte Hemden und Jeans, ihre nackten Füße stecken in hellbraunen Sandalen. Sie blicken scheu umher, wissen offenbar nicht, was mit ihnen geschieht, aber sie wirken nicht ängstlich. Sie haben kurze schwarze Haare und als sie näherkommen ist eine gemeinsame Besonderheit zu erkennen, die den Kräftigen einen kurzen Augenblick lächeln läßt: beide Jungen sind ausnehmend schöne Menschen. Aber ihre dunklen Augen leuchten nicht. Diese beiden haben Schlimmes hinter sich. Sie werden gerade von einem Kollegen des Fahrers und einem Mitarbeiter der Stadt München herangeführt. Das ungleiche Quartett verläßt soeben eine der beiden bayerischen Erstaufnahmestationen für elternlose minderjährige Einzelflüchtlinge.

Der bullige Typ öffnet die hintere Seitentür auf der Beifahrerseite und postiert sich daneben. Als die kleine Gruppe an dem VW-Veteranen ankommt und der Flüchtlingsbetreuer die beiden Jungen mit einem Lächeln und einer einladenden Handbewegung zum Einsteigen auffordert, wendet sich der reifer wirkende schwarze Junge an ihn.

„Pardon me, Mbuana, where are we going to?” Sein Englisch klingt recht gut. Seltsam nur, daß er die alte Kolonialanrede für weiße Herren benutzt.

Alois Schicklhuber, der Städtische, lächelt ihn an, aber es ist kein ehrliches Lächeln, das von Herzen kommt. Er zeigt vielmehr die Zähne, so wie lästige Vertreter, die einem etwas andrehen wollen.

„Tu äij matsch bätta leif. Ei ko garrantih ju.” Die bayerische Aussprache schlägt irgendwie durch.

Der Mimik des Jungen ist anzusehen, daß er das nicht so recht glauben will, aber alles, was ihn und seinen Kumpel aus der Enge dieser Unterkunft herausbringt und von diesem komischen Essen, das soll ihm recht sein. „Ju will häv werri matsch fann. Ju will leik itt”, hatte ihm dieser Mann mit dem für ihn unaussprechlichen Namen gesagt. Ob sie wohl zu einer Schule gebracht werden, wo auch andere beschnittene junge Männer ihrer Stämme die lustige Sprache lernen können, die das berühmte Volk der Deutschen spricht? Der Stamm in dieser großen Stadt, die man ihm englisch als Munich genannt hat, spricht so seltsam, daß er aber so rein gar nichts versteht - „Host mi?”, dabei sieht man ihn freundlich an, aber was bedeutet das nur? Mit Kisuaheli kommt er nicht weiter, und wenn sie versuchen, Englisch zu sprechen, klingt es sehr lustig. Sein Ururgroßvater Yomo war Askari bei den kaiserlichen Kolonialtruppen und sprach sehr gut Deutsch. Er kämpfte mit dem großen weißen General gegen die Engländer und hatte noch mit über 100 Jahren von ihm mit Hochachtung gesprochen. Den Namen dieses Mannes hatte er sich gemerkt, denn mit Vornamen hieß auch er Paul, wie der berühmte Paul von Lettow-Vorbeck. Sein Urgroßvater konnte auch ganz gut deutsch sprechen, denn sein Vater hatte es ihm beigebracht. Er sollte bereit sein, wenn der Kaiser Wilhelm zurückkäme und die Deutschen die Engländer wieder vertreiben würden, aber sie kamen nicht mehr und der große General durfte Tanganjika nicht mehr besuchen. Die Engländer fürchteten seinen Ruhm. Aber zeitlebens machte sich sein Ururgroßvater einmal im Jahr auf den Weg, um sich das Geld des Kaisers zu holen, wie er sagte. Die Deutschen hatten ihn nicht vergessen und gaben ihm 100 Mark für seine treuen Dienste. Ein Häuptling der Deutschen erwartete ihn und seine beiden letzten Kameraden, die mit ihm den beschwerlich gewordenen Weg nach Arusha unternahmen. Dort traten sie in ihren schon oft geflickten deutschen Uniformen an, trugen ihre Orden und salutierten vor dem Häuptling, den alle “Herr Konsul” nannten. Und dann machten sie sich auf den Rückweg. In der Nacht, in der Yomo Morenga sich von seinen Ahnen rufen ließ, hatte er ihm gesagt, er solle nach Deutschland gehen, da könne er viel lernen, und das hatte er dann auch getan. Seine Mama weinte so sehr beim Abschied, aber er hatte ihr versprochen, er werde bei den Deutschen viel lernen und dann zurückkommen, um die Kinder zu lehren und seinem Dorf zu helfen. Sein Vater hatte ihn ermahnt, immer zu gehorchen, höflich zu sein und nicht zu stehlen. Er solle immer auch an seine Ehre und die seiner Familie denken. „Mache uns keine Schande. Wir und das gesamte Dorf wollen stolz auch dich sein”, gab ihm auch sein Großvater als Ermahnung mit. Nach einem halben Jahr voller Abenteuer hatte er es geschafft dieses für ihn ebenso geheimnisvolle wie reiche Deutschland zu erreichen.

Nun sei es wohl soweit, jetzt würde man ihn und seinen neuen Freund aus Tansania in eine berühmte Schule bringen. Dessen war Paul sich sicher. Sie wollten beide viel lernen und die Deutschen würden es sie lehren.

Die beiden Jungs steigen ein und man zeigt ihnen, wie sich anschnallen sollen. Der Bullige wirft die Tür zu.

„Habt Ihr genug zu essen und zu trinken dabei?”

„Es wird reichen”, gibt der Bullige dem Städtischen zur Antwort.

„Keine Einkäufe unterwegs und Pinkelpausen nur auf Rastplätzen ohne Betrieb, verstanden?”

„Denkst Du, wir sind blöd?”

„Wollte es nur noch mal gesagt haben. Gute Fahrt, und stellt sie ruhig, wenn sie Theater machen. Habt Ihr das Mittel?”

„Klar.”

„Aber nur schlafen lassen, nicht schlagen. Für Verletzte kriegen wir nichts.”

*

16.55 Uhr vor dem großen Besprechungsraum im Lübecker Präsidium. Die Tür steht einen Spalt auf. Von drinnen ist ein intensives Stimmengewirr zu hören. Zwei uniformierte Polizisten kommen heran. „Weißt Du, worum es geht?”

„Nee, wird wohl ‘was Größeres sein. Blockumzingeln, Walddurchkämmen oder so ‘was. Keine Ahnung. Malvoisin soll wohl die Leitung haben.”

„Wie sagt die Sekretärin bei den ‘Rosenheim-Cops’ immer am Anfang: ‚Es gabert a Leich’ oder so ähnlich. Kann kein bairisch.” Beide grinsen. Sie haben Malvoisin nicht erkannt. Er hat seinen Rembrandt nicht auf, dreht sich aber um, als er seinen Namen hört.

„Ganz recht, meine Herren. Mr ham a Leich’, a Nackerte.”

Die beiden angesprochenen Uniformierten, zwei Polizeihauptmeister, bleiben ruckartig stehen.

„Verzeihung, Herr Hauptkommissar. Wir haben Sie nicht erkannt, Ähem, ohne …, von hinten.” Einer deutet auf seinen eigenen Kopf und räuspert sich ein wenig verlegen.

„Hinten trage ich auch kein Namensschild. Es genügt ja auch, wenn meine Familie mich von hinten erkennt. Aber gehen Sie erst einmal hinein. Sie erfahren gleich alles. Wir warten nur noch auf den Herrn Präsidenten.”

„Na, dann kann’s dauern”, murmelt der andere.

„Wie bitte?” Malvoisin sieht ihn einen Tick schärfer an.

„Nix”, kommt mit etwas Räuspern. Die beiden verschwinden ganz schnell im Besprechungsraum.

Langeland hat die kleine Szene wortlos verfolgt, nur unmerklich mit dem Kopf geschüttelt.

„Eben.”

Damit wendet sich Malvoisin wieder seinem Gesprächspartner zu. Neben Langeland steht Anders Reinhardt bei ihm, der Leiter des K11, ebenfalls mit dem Rang Erster Hauptkommissar. Ein 50jähriger Kojak-Typ, nur ohne den albernen Lolli, von kräftiger Statur und einem leicht nach oben gezwirbelten kräftigen schwarzen Schnurrbart. Das sei wohl sein Ausgleich für das was oben fehle, wird hinter seinem Rücken gewitzelt, aber er weiß es und es stört ihn nicht. Sex-Anders wird er auch genannt, aber auch das stört ihn nicht, ganz im Gegenteil.

Er sieht es in seinem unerschütterlichen Selbstbewußtsein als eine Art “Kriegsnamen” an, so wie man den Hauptmann Joachim Marseille im Zweiten Weltkrieg den “Stern von Afrika” nannte.

Reinhardt hat den schwarzen Gürtel in Karate und in Kendo hat er es auch schon zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Aber er ist auch ohne das von einem optischen Eindruck, der potentielle Angreifer zweimal überlegen läßt, ihn ungut anzugehen. Daß er ein liebevoller Ehemann und fürsorglicher dreifacher Vater ist, wissen viele seiner Kollegen, aber seine “Kunden” sollen ihn ruhig für richtig gefährlich halten, was er auch ist, wenn es darauf ankommt. Obendrein zupft er eine bemerkenswerte Gitarre. Er braucht das als Ausgleich für die vielen Schweinereien, mit denen er sich dienstlich befassen muß.

„Sag’ mal Anders, hast Du vor etwa vier Jahren einen Reno Cock als Kunden gehabt?”

Reinhardt überlegt kurz, erinnert sich aber schnell, verzieht keine Miene.

„Hm, das ist der Seemann mit den vier Jungs gewesen. Der hat in Lensahn einen Sechzehnjährigen beim Sex verprügelt, dazu Unzucht mit drei Minderjährigen. Was ist mit dem?”

„Nichts weiter. Ich hatte ihn heute als Routineverdächtigen zu vernehmen.”

„Ach ja? Der ist draußen?” Reinhardt ist überrascht.

„Ist er. Bewährung wegen guter Führung und vorbildlichem Lehrabschluß als Gärtner.”

„Mach’ Sachen! Tatsächlich? Hatte der nicht viereinhalb Jahre?” Reinhardt zieht beide Augenbrauen hoch und verschränkt seine muskulösen Arme, die durch die der Wärme angepaßten kurzen Hemdsärmel besonders auffallen. Seine Bizeps quellen auf. Reinhardt hat irgendwie etwas preußisches, zumindest farblich. Malvoisin hat es aufgegeben, sich zu wundern, daß sein Kollege grundsätzlich schwarze Schuhe oder Sandalen, schwarze Socken, schwarze Hosen und über dem stets blütenweißen Hemd einen schwarzen Pullunder mit auf der linken Seite aufgesticktem stilisierten Polizeistern trägt. Vielleicht hat er mal eine Restproduktion billig aufgekauft, ist am Anfang spöttisch gerätselt worden, aber das hat sich inzwischen gegeben. Nur Neulinge fragen noch. Das gestrickte Kleidungsstück läßt er selbst bei größter Hitze nicht weg. „Trägt er den auch nachts?”, hat man schon überlegt, aber niemand traute sich bisher, ihn das zu fragen.

„Oh, man hat ihn nach etwas mehr als drei Jahren auf Verwendung von Dr. Lupstedt entlassen.”

„Na ja, meinetwegen, Janz Viel Aufsicht wird schon wissen, warum”, meint Reinhardt etwas gönnerhaft, „er soll sich nur nicht wieder erwischen lassen.”

„Du, ich bin mir nach der Begegnung mit dem Mann ziemlich sicher, daß der ganz schön ’reingelegt worden ist.”

„Ach ja?” Reinhardt zieht diesmal nur die rechte Augenbraue hoch. Seine Stimme klingt plötzlich metallen scharf. Malvoisin verschränkt die Arme und zieht an seinem Spanischen Dreieck, wobei er die linke Hand unter seine rechte Achsel klemmt.

„Nenn’ es Menschenkenntnis, nenn’ es Intuition. Die drei Fünfzehnjährigen sollen sich verabredet haben, einen Entjungferer zu finden, da sie mit Mädels keinen Erfolg hatten, und sahen alle drei wohl deutlich älter aus …”

„Ach ja, das sagen alle”, unterbricht Reinhardt Malvoisins Gedanken.”

„Na, laß’ man.” Malvoisin winkt ab. „Ich hatte Klassenkameradinnen, die mit Dreizehn aussahen wie mindestens Sechzehn und sich auf Zwanzig geschminkt haben und so in jede Disco ’reinkamen und mit Vierzehn/Fünfzehn keine Jungfrauen mehr waren. Auf die würdest auch Du ’reinfallen, …” Reinhardt holt Luft zu einem „Du spinnst wohl”, „…wenn Du nicht so gut verheiratet wärst, und ich auch”, fügt er schnell hinzu, „wenn ich nicht meine Maren hätte.”

„Aber das waren Mädchen, keine Jungs.” Reinhardt verzieht säuerlich das Gesicht.

„Na hör mal”, schnarrt Malvoisin ihn an, „minderjährig ist minderjährig, egal, ob mit Stecker oder Dose”, und fährt ruhigeren Tones fort, „aber wie dem auch sei, ich bin mir sicher, daß der Mann gelinkt worden ist, zumal der Sechzehnjährige ihn angesprochen hat, weil er auf Cocks auch in Badehose wohl gut sichtbares Teil scharf war. Und auch Du, mein Lieber, würdest Schläge austeilen, wenn man Deinen Stolz mit Bissen traktierte, oder nicht?”

Malvoisin sieht Reinhardt mit einer leicht grinsenden Mimik an und der verzieht erneut sein Gesicht. Alle Charakter- und Lebensfalten bilden sich deutlich ab. Er erinnert sich nur zu gut an den Fall.

„Du würdest, Anders, ganz sicher. Und dieses sechzehnjährige Bürschchen hat nicht einmal ein Verfahren wegen Körperverletzung am Hals gehabt, nicht? Gerecht? Hm?”

„Ich bin nicht der Richter gewesen.” Reinhardt gibt sich trotzig.

„Aber der maßgebliche Ermittler, mein Lieber”, kann sich Malvoisin nicht verkneifen, zu rügen.

Zu seinem auf der Zunge liegenden „Worauf willst Du hinaus” kommt Reinhardt nicht.

„War Nystad der Ankläger?”

„Ja. Was hat Malle vor?” Reinhardt runzelt die Stirn. Die Falten kontrastieren irgendwie seltsam mit der glatten, braungebrannten Kopfhaut.

„Ahm.” Malvoisin nickt verstehend und sieht Langeland mit einer Miene à la „Ich hab’s doch gewußt” an.

17.03 Uhr. Reinhardt sieht auf die Uhr. „Goldkränzchen nutzt wohl wieder das Akademische Viertel aus, wie?” Erneut stirnrunzelnd sieht er in die Richtung, aus der der Herr Präsident kommen müßte. Dann wendet er sich wieder Malvoisin zu.

„Und was ist bei dem Cock herausgekommen?”

„Hat’n wasserdichtes Alibi und eine Gehbehinderung.”

„Gehbehinderung?” Reinhardt horcht auf. „Ach nee. Seit wann?”

„Seit gestern. Rostiger Nagel. Reingetreten. Muß froh sein, wenn das nicht noch eine satte Blutvergiftung wird. Er kann es schon deswegen nicht gewesen sein, kann nur humpeln. Aber seine Freundin versorgt ihn, die …” Reinhardt fällt Malvoisin überrascht ins Wort.

„Wie bitte? Freundin? Ich dachte, der ist …” Nun fällt Malvoisin mitten in Reinhardts Satz hinein, auch ein wenig ungehalten über dessen offensichtliche Vorurteilshaltung.

„Nein, eben nicht. Er hatte lange keine Freundin und hat die Schiene einfach mal aus Neugier probiert. Das kommt sogar in der übrigen Tierwelt vor. Bisons, Antilopen, Pinguine, Delphine, Bonobos und so weiter, wußtest Du das nicht? Längst bekannt. Nur, das findet der Mensch eher ‘komisch‘, wie bei den zwei Bremer “Frackträgern”, bei sich selbst aber moralinverdächtig, nicht?”

Reinhardt sieht sein dozierendes Gegenüber an, als wolle er ihn einliefern lassen, aber der setzt zum ultimativen Schlag an.

„Oder willst Du etwa leugnen, daß viele Männer sich nicht gern mal vor Freude selbst einen blasen würden, wie ein Hund, wenn sie nur so elegant das Bein heben könnten und ihre Gelenkigkeit noch hätten, hm?”

Reinhardt reißt die Augen auf und vergißt, Luft zu holen. Sein Wortschatz hat sich in diesem Augenblick irgendwie aufgelöst.

„Auch Du, mein Lieber! Vielleicht das letzte Mal mit Achtzehn, ich meine, wegen der Gelenkigkeit, aber Du hast.” Malvoisin grinst fröhlich. Das hat gesessen. Er klopft Reinhardt mit einem Augenzwinkern auf die linke Schulter.

17.06 Uhr.

„Ah, der Herr Präsident.” Malvoisin bedeutet Reinhardt, daß das Warten ein Ende hat. Der dreht sich um. Goldkränzchen kommt gemessenen Schrittes näher. Er ist in Gesellschaft. Eine bildhübsche Polizeianwärterin ist bei ihm.

„Guten Tag, meine Herren. Sind alle da?” Goldkränzchen sieht sich unternehmungslustig um, und er wartet die Antwort nicht ab. „Gut, gut. Pünktlichkeit lob’ ich mir.” Er bemerkt die fragenden Blicke der beiden Ersten Hauptkommissare. Die hübsche junge Dame scheint leicht nervös zu sein. Der Polizeichef umarmt sie von der Seite.

„Das ist doch wohl nicht seine Tochter? Hat Goldkränzchen überhaupt eine?”, denkt sich Malvoisin, während Reinhardt innerlich schimpft. „Jetzt schleppt der auch noch seine Freundinnen hier an. Ich faß’ es ja nicht.”

„Meine Herren, ich darf Ihnen meine Nichte vorstellen, Fräulein Ilka Jawohl. Ich wünsche, daß sie einem erfahrenen Kollegen mitgegeben wird um Praxis zu sammeln. Das geht doch in Ordnung, nicht?”

Goldkränzchen wartet die Antwort wieder nicht ab. Für ihn ist es klar, daß seine Nichte mitgeht. Er lächelt die beiden Hauptkommissare jovial an. Die Mimik verdeutlicht, daß Einwände zwecklos sind, da er das Sagen habe. Er schiebt das Mädchen in den Besprechungsraum, in dem es schlagartig ruhiger wird. Malvoisin und Reinhardt sehen sich wortlos an, zucken mit den Achseln und folgen den beiden. Alle erheben sich.

„Bleiben’s doch bitte kommod, meine Herrn!” Der Herr Präsident hat plötzlich etwas Österreichisches im Tonfall. Er liebt diesen Satz, den er mal bei einem befreundeten österreichischen General gehört hat. „Stehn’s kommod” statt des zackigen „Rührn!” Es geht ein leises Grienen durch die Reihen. Die meisten der Anwesenden kennen das bereits, die Unwissenden werden schnell aufgeklärt und grinsen mit einigen Sekunden Verspätung.

„Nehmen’s doch bitte Platz, meine Herrn”, klingt es noch einmal kurz österreichisch und dann ganz väterlich jovial „Und Du setzt Dich bitte da vorn hin, mein Kind, dann bekommst Du alles gut mit.” Wieder durchläuft ein Grinsen die Reihen, einige sehen sich achselzuckend an. Man hört ein leises „Kennst du die?” und „Wenigstens mal ‘ne optische Bereicherung”. Ilka setzt sich auf den äußersten freien Platz in der ersten Reihe und läuft zum Einstand erst einmal leuchtendrot an.

„Die sieht aber süß aus” ist noch zu hören und weitere Begrüßungskommentare werden durch ein energisches präsidiales Räuspern unterbunden, begleitet von einem entschiedenen Stirnrunzeln Malvoisins und, wohlgemerkt außerhalb des Blickwinkels des Herrn Präsidenten, einer gleichzeitigen barschen Handbewegung, die alle als „Schnauze!” ganz richtig verstehen. Es wird schlagartig still. Der Herr Präsident genießt den offenbaren Eindruck seiner Autorität.

„Ich habe Sie hergebeten, meine Herren, um Ihnen …”

„Onkel!” Ilka protestiert unter wiederum leichten Erröten und halbherzig erhobenen Finger, als wolle sie sich im Schulunterricht melden: „Herr Lehrer, ich weiß ‘was!” Es trifft sie, trotz der ungehörigen Unterbrechung, ein freundlicher Blick ihres so vertraut verwandtschaftlich angesprochenen Mutterbruders.

„Ja, mein Kind?”

„Onkel, ich bin kein Herr.” Sie sieht ihn trotz ihrer frischen Gesichtsfarbe mit festem Blick an.

Der Herr Präsident reagiert schlagfertig und gelassen.

„Wie alle anwesenden Herren Dir sicher mit Freude bestätigen werden, aber jetzt laß mich bitte meine Einführung loswerden, ja?”

Ilka hat ihren ersten Lacher und bereits einige Sympathien gewonnen. In solch einer Männergesellschaft ist das keineswegs selbstverständlich. Auch Ilka wäre bei falschem Verhalten nicht die erste, die hinausgeekelt würde.

„Also, meine Herren, liebe Kollegin.” Der Polizeichef nickt lächelnd seiner Nichte zu, was wieder zu deren frischer Wangenfärbung führt. Er fährt ernst fort: „Wir haben einen ebenso scheußlichen wie rätselhaften Tötungsfall im Eutiner Staatsforst. Heute morgen …” Die Tür zum Besprechungsraum öffnet sich, was unwillkürlich die gerade einsetzende Einführung unterbricht. Alle Anwesenden drehen sich um.

„Ah, Herr Kriminalrat”, bemerkt der wieder Gestörte etwas spitz, „strömen Sie nur herein. Wir haben schon mal ohne Sie angefangen.”

Der Angesprochene stutzt kurz, räuspert sich und schließt die Tür. „‚Lord Nelson’ hat wohl zum Auslaufen erst die Flut abwarten müssen, hä?” witzelt einer leise, aber der Bespöttelte hat es gehört und sieht leicht indigniert in den Raum. „Nee, der hat seine Seekarten verlegt und den Kurs nicht gefunden.” Ein allgemeines Grinsen geht durch die Reihen.

„Äh, Verzeihung, Herr Präsident, äh, ich hatte …”

„Unaufschiebbare Pflichten, Herr Müller-Dobermann, ich weiß, ich weiß. Ihre Akkuratesse ist bekannt und man macht eine angefangene Sache erst einmal zu Ende. Löblich, löblich, aber jetzt setzen Sie sich bitte hin.” So milde der Ton am Anfang der stellvertretenden Entschuldigung, so deutlich ist er am Ende. „Lord Nelson” gewinnt Farbe, was wiederum bemerkt wird.

„Endlich ist er nicht mehr so eintönig grau”, giftet es leise aus einer anderen Richtung.

Müller-Dobermann räuspert sich schon wieder und nimmt sich vor, dem Spott wider seine Person einen Riegel vorzuschieben.

„Nachdem wir nun alle vollzählig anwesend sind, hoffe ich zumindest”, er sieht Malvoisin fragend an, der eifrig „Ja” nickt, „kann ich wohl fortfahren. Äh ja”, der Polizeichef sortiert sich kurz, „also scheußlicher Tötungsfall, wie ich schon sagte. Heute morgen im Wald bei Kellenhusen, wurde ein gänzlich unbekleideter junger Mann von zwei Ortsansässigen aufgehängt gefunden.”

„Wie praktisch. Malle hat es mal wieder nicht weit gehabt”, raunt einer der Uniformierten weiter hinten seinem Nachbarn zu.

Malvoisin hat es dennoch vernommen und droht ernsten Blickes in die Richtung des Rauners, der bemerkt, daß er bemerkt worden ist und leicht den Kopf einzieht.

„Die Einzelheiten wird Ihnen als leitender Ermittler Herr von Malvoisin nun darstellen.” Der Polizeichef dreht sich zu Malvoisin um und bedeutet ihm mit einer einladenden Handbewegung, nach vorn zu treten. „Bitte, Herr von Malvoisin.”

„Danke, Herr Präsident.” Er nickt seinem Vorredner knapp zu und wendet sich dann an die Uniformierten und zwar zunächst an deren hübschen Neuzugang.

„Fräulein Jawohl, ich darf Sie auch im Namen des K1 bei uns begrüßen und hoffen, daß Ihnen der Dienst Freude macht, obwohl Sie gleich heute kennenlernen werden, daß er aus viel Kleinkram besteht und so gar nichts heroisches hat, wie manche Krimis uns immer suggerieren wollen. Und wir ballern auch nicht alle Augenblicke in irgendwelchen Straßen herum. Dann haben wir nämlich mindestens das Controlling auf dem Hals, das uns nach der Notwendigkeit des Verbrauches so vieler teurer Munition fragt.” Ein stilles Grinsen aller älteren Anwesenden bestätigt ihn. Ilka Jawohl bedankt sich für die Einzelbegrüßung mit einem verlegenen, aber süßen Lächeln. Es gilt Malvoisin, aber Langeland fängt es mit seinem Radar auf.

„So, werte Kollegen, zu den bisherigen Fakten. Wir haben diese männliche Leiche, etwa 26 bis 27 Jahre alt, völlig unbekleidet, an den Füßen aufgehängt und praktisch ausgeblutet. Der Tote hatte einen Schnitt am Hals. Die Spuren weisen darauf hin, daß er versucht hat, seine Halswunde mit der rechten Hand zuzuhalten, aber mit einem vom Boden aufgehobenen Ast gegen den Arm geschlagen wurde. Er hatte ein starkes Betäubungsmittel im Blut, ist aber dennoch wieder zur Besinnung gekommen, hat sie bald aber wieder verloren und ist dann letztlich verblutet. Er hatte keine Ausweispapiere bei sich, das ging in dem Zustand auch schlecht …” Malvoisin bemerkt ein jetzt seiner Meinung nach überflüssiges Grinsen und zeigt seine Zornesfalte, die es abstellt. „… und am Tatort wurde auch nichts auf seine Identität hinweisendes gefunden. Wir haben es also mit John Doe zu tun. Der Bildabgleich ergab keine Vermißtenmeldung, die auf ihn hindeutet. Befragungen in Dahme und Kellenhusen bei Kurverwaltung und Strandkorbvermietern haben nichts ergeben. Durch einen glücklichen Umstand haben wir aufgrund eines Vorfalles auf der Promenade von Kellenhusen einen Zeugen gefunden, der John Doe lebend am Lensterstrand gesehen und wiedererkannt hat aufgrund einer Besonderheit seines Genitals, die auffiel.” Die Köpfe aller Uniformierten gehen hoch, Ilka Jawohl wird wieder rot. „Scheiße, ein Schwulibär. Jetzt sollen wir wohl noch die Homoszene durchforsten”, ist es leise von hinten zu hören. Malvoisin reagiert ungehalten. „Na, na. Nicht solche voreiligen Schlüsse, meine Herren. Unser Zeuge ist definitiv kein Homosexueller, nur aufmerksam, beim Toten bestehen bislang ebenfalls keine Hinweise auf diese Orientierung, zumal er beim Verlassen des Strandes mit einer attraktiven Blondine gesehen worden ist.” Der Polizeimeister Rutger Michaelsen meldet sich. „Verzeihung, Herr Hauptkommissar. Was beweist das schon?”

„Alles und gar nichts, Herr Michaelsen. Aber was beweist Ihr attraktives Äußeres, Herr Kollege?” Der Angesprochene wird knallrot und blickt leicht verwirrt nach links und rechts und sieht in grinsende Gesichter. „Es beweist bestenfalls, daß Sie Glück bei Ihrer genetischen Gestaltung hatten, zweitens, daß Ihre Freundin einen guten Geschmack bewiesen hat, Sie genommen zu haben, und drittens, daß ich offene Augen habe, und keineswegs, daß Sie homosexuell wären, weil Sie ein gutaussehender Mann sind, oder auch ich, weil ich es bemerkt habe.” Malvoisin zieht die rechte Augenbraue hoch und nickt Michaelsen mit einer Mimik zu, die ihn stumm auffordert, künftig dumme Bemerkungen zu unterlassen.

„Also, John Doe fiel durch sein langes Genital auf und weil er beschnitten war, nach Erklärung der Gerichtsmedizin aufgrund der Tatsache, daß er eine relativ große Eichel hat. Jede Erektion hätte ihm erhebliche Schmerzen bereitet, weshalb er schon als Junge recht früh operiert worden sein muß. Unser junger Zeuge hat mit seinem völlig normalen Prüfblick hinsichtlich am Strand anwesender Konkurrenzhengste diese Tatsache bemerkt, sich dann auch genau des Gesichtes erinnert, nachdem wir ihm ein Bild des Toten gezeigt haben, das auch Sie nachher kennenlernen werden. Und da John Doe mit seiner weiblichen Begleitung Richtung Hauptstrand Grömitz verschwand, haben wir eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß er dort Quartier hatte, wo er durch sein zu Lebzeiten gutes Aussehen, womit ich sein Gesicht meine …” Malvoisin bemerkt erneut ein über alle Gesichter laufendes Grienen, nur Ilka Jawohl wird ihre Errötung nicht los.

Michaelsen meldet sich nochmals. „Könnte er nicht Jude gewesen sein und wir haben es hier mit einem antisemitisch begründeten Tötungsfall zu tun? Deutsche oder, wegen der räumlichen Nähe auch dänische Rechtsradikalinskis oder auch Araber?” Einige der Uniformierten nicken zustimmend.

„Danke für die Frage, Herr Michaelsen, daran haben wir auch schon gedacht. Auszuschließen ist es natürlich nicht, aber dazu müssen wir erst einmal seine Identität kennen.” Malvoisin läßt wieder seinen Blick reihum schweifen und spricht alle an.

„Und nun kommen Sie ins Spiel.” Malvoisin wendet sich kurz dem auf seinen Einsatz wartenden Christiansen zu. „Der Kollege Christiansen hat die Liste aller Vermieter von Grömitz …”

„Ach nee”, stöhnt ein Polizeiobermeister auf.

„Ach doch, Herr Lewandowski”, gibt es Malvoisin ihm zurück. „… und Grömitz selbst in 30 Planquadrate eingeteilt. Jeder von Ihnen übernimmt eines davon und klappert die Vermieter ab. Die großen Hotels, die Kurverwaltung und die Strandkorbvermieter übernehmen Frederik Langeland und ich. Sie bekommen jeder ein Blatt mit dem ausgedruckten Bild des Toten und zu dem Ihnen zugewiesenen Planquadrat die Liste der Vermieter. Wer zuerst einen Treffer hat ruft mich an, meine Handy-Nummer steht dabei, oder, wenn wir Erfolg haben sollten, machen wir einen Rundruf. Erst wenn wir bei allen durch sind und nichts erreicht haben, geben wir ihn in die Medienfahndung. Vorher machen wir die Welt nicht scheu. Es ist Hauptsaison. Unruhe können wir nicht gebrauchen.” Der letzte Satz ist Musik in den Ohren des Polizeichefs.

„So, Jan, dann teil mal aus.” Malvoisin bedeutet Christiansen mit einer einladenden Handbewegung die Uniformierten mit seinen Ausdrucken zu versorgen, der sogleich loslegt und sich zu jedem Planquadrat den Namen des Eingeteilten notiert. Ilka Jawohl verfolgt das Ganze, indem sie ihren Stuhl ein Stück herumdreht, um sich Hals- und Rückenwirbel nicht unnötig zu verdrehen. Ihre Mutter hatte sie immer aufgefordert, sich gerade zu halten, und mit einem lustigen Augenzwinkern dazu gesagt, daß ein schöner gerader Rücken die Orthopäden arbeitslos mache und der halbe Weg zu einem attraktiven Ehemann sei. Sie hat das anfänglich leicht ätzend gefunden, aber nie etwas gesagt, und nun war sie ihrer Mutter sehr dankbar, denn bei ihr war auch nicht der Ansatz eines jugendlichen Witwenrückens zu sehen, und da sie obendrein das Glück hatte zu den fünfzig Prozent Menschen zu gehören, die eine völlig makellose Haut haben, war sie bei jedem Strandbesuch der Hingucker, denn der Rest, um Männer verrückt zu machen, stimmte auch. Nur ihr letzter Freund hatte kein Verständnis für ihre Berufswahl und sie kurzerhand verlassen.

Während sie nun überlegt, wem sie wohl zugeteilt wird, hat Langeland sie bereits im Visier.

Die ersten Uniformierten betrachten die ihnen ausgehändigten Bögen. Einer mault hörbar: „Also mal wieder Klinkenputzen.”

„Was meinen Sie, Herr von Malvoisin, wann werden Ihre Männer und Sie mit der Erkundung durch sein?” Der Polizeichef sieht seinen Lieblingskommissar mit hochgezogenen Augenbrauen an. Den Lieblingsstatus würde er ihm allerdings nie verraten, zumal er sich sicher ist, daß es Malvoisin unangenehm wäre. Er hat seine stille Rangliste bisher immer für sich behalten.

„Spätestens am Abend, denke ich. Es werden alle Vermieter und Empfangschefs ortsanwesend sein, da wir Hochsaison haben. Und sollte jemand auch bei einem zweiten Besuch nicht angetroffen werden, rufen wir ihn an und vereinbaren einen Befragungstermin. So haben wir spätestens übermorgen alles durch.”

„Geht das nicht schneller?” Müller-Dobermann fühlt sich irgendwie übergangen und geht unwirsch dazwischen.

„Wenn Sie mitgehen, Herr Kriminalrat, dann ganz sicher.” Malvoisin äußert diese Einladung nicht ganz ernsthaft.

„Sehr richtig, lieber Müller-Dobermann, so kommen Sie nicht aus der Übung. Euch studierten Juristen fehlt es ohnehin meist an der Praxis, nicht?” Der Polizeichef sieht ihn mit einem Mienenspiel Jetzt-wag-es-noch-zu-widersprechen an.

„Äh, ja, ei … eine grundsätzlich gute Idee, Herr, äh, Präsident, aber ich habe morgen einen wichtigen Termin beim LKA - unverschiebbar. Bei wem könnte ich da bloß schnell eine Besprechung haben? Tut mir leid. Ja.” Der Kriminalrat zuckt mit leicht erhobenen Händen die Achseln. Sein leichtes Stottern und äh-äh verraten Malvoisin, daß der Termin erst in dieser Sekunde akut geworden ist und auch der Polizeichef hat schon mal bessere Ausreden gehört. So versetzt er ihm einen Schuß unter die Wasserlinie: „Auch gut, Sie würden den Betrieb ohnehin nur aufhalten.” Damit wendet er sich Malvoisin zu, während Müller-Dobermann sichtlich mit seiner Fassung ringt - still, aber er ringt und wechselt dabei die Gesichtsfarbe in eine Art Grüntönung, was ihn besorgniserregend ungesund aussehen läßt.

„Sagen Sie, mein Lieber,” und dieses Mein-Lieber versetzt dem Kriminalrat einen weiteren Stich, „wem wollen Sie denn nun meine Ilka mitgeben?”

Malvoisin hat den Blickkontakt zwischen Langeland und der hübschen Kollegin bereits bemerkt und formuliert seine Antwort wie ganz beiläufig.

„Och, ich dachte, ich nehme sie mit, das heißt, wenn Fräulein Jawohl nichts dagegen hat.”

Die so gerade Eingeteilte wird schon wieder rot und die Antwort nimmt ihr ihr Onkel ab.

„Natürlich hat sie nichts dagegen, nicht wahr mein Kind?” Er wendet sich ihr kurz zu und sie nickt eifrig ja und meint - natürlich - nein. Sie hat gar nichts dagegen, im Gegenteil. Sie findet Langeland irgendwie süß, aber sie weiß es noch nicht. „Eben. Die übrigen Herren würden sowieso nur von sicheren Flirtanfällen abgelenkt, nicht?” Der Polizeichef lächelt seine Nichte an, die den Blick senkt, denn er weiß sehr wohl, welche Wirkung sie hat, und wendet sich dann wieder Malvoisin zu. „Also, abgemacht und so eingeteilt. Wann geht es morgen los?”

„Ich erwarte den Mannschaftsbus morgen früh um Punkt acht Uhr dreißig in Grömitz auf dem Parkplatz beim Strandeingang vor der Seebrücke. Von dort schwärmen wir aus. Und Du, Fritz”, Malvoisin deutet mit dem Zeigefinger auf Langeland, der gerade Blickkontakt mit Ilka hat, und deutlich vernehmbar nachsetzt, „FRITZ …” Dessen Kopf fährt herum.

„Äh, ja, bitte?”

Malvoisins vielbemühte rechte Augenbraue fährt hoch. „Fritz, Du hast morgen früh ab sieben Uhr hier das Einsatzkommando. Du kannst Dich gleich noch mit Oberkommissar Tallilicht besprechen. Er ist morgen der Dienstälteste der uniformierten Kollegen.”

Ein kräftig gebauter 35jähriger mit Bürstenhaarschnitt sieht von dem ihm gerade ausgehändigten Material auf.

„Ja, bitte?”

Langeland ruft ihm zu: „Jens, ich komm gleich zu Dir.”

„In Ordnung”, brummt der und setzt das Studium der Papiere fort.

„Mich brauchen Sie wohl nicht mehr, Herr Präsident?”

„Wer hat dich denn schon je gebraucht, du Kaimauernrempler”, denkt sich Malvoisin und verschränkt die Arme.

„Nein, danke, Herr Müller-Dobermann. Sie sind entbehrlich.”

Das hat nochmals gesessen und mit indignierter Miene zieht „Lord Nelson” ab. Der Polizeichef war damit unwillkürlich deutlicher geworden, als er wollte, aber ein einmal ausgesprochenes Wort läßt sich nun einmal nicht mehr einfangen und so ließ er es ohne weiteren Kommentar wirken.

„Goldkränzchen hat ja sooo recht”, grient nicht nur Malvoisin in sich hinein.

„Meine Herren, Sie entschuldigen mich bitte. Ich habe heute ein Abendessen mit dem Herrn Generalstaatsanwalt und Damen. Dafür muß ich mich noch etwas restaurieren, und Sie wissen ja, bei den Damen muß man hinterher sein, sonst suchen sie zum verabredeten Termin noch zwei Stunden lang ihre Handschuhe, bemerken, daß das Parfüm irgendwie nicht zur Frisur paßt oder fangen an, komplett die Garderobe zu wechseln. Man kennt das zur Genüge.” Die kleine Männerrunde lacht wissend und der Polizeichef verabschiedet sich.

„Onkel, darf ich mitkommen?” Ilka Jawohl springt auf und eilt mit einem scheuen Blick dem Polizeichef nach. Sie ist heilfroh, der sehr wohl von ihr bemerkten Augenforschung Langelands erst einmal entkommen zu sein, obwohl - es hat ihr gefallen und sie wendet sich noch einmal nach ihm um. Ihre Blicke treffen sich - und schon ist es passiert.

Nach und nach leert sich der Besprechungsraum. Jeder hat seine Instruktionen und weiß, wann es am nächsten Morgen losgeht.

Jan Christiansen spricht noch einmal Malvoisin an. „So, jetzt sind alle versorgt. Also morgen früh um sieben Uhr Treffen hier und acht Uhr dreißig erwartest Du uns in Grömitz auf besagtem Parkplatz.”

„Genau so.”

„Dann darf ich mich verabschieden. Ich muß gestehen, daß mich diese Blitzeinsatzplanung ein wenig geschlaucht hat. Ich brauch jetzt ein gutes Abendessen, eine heiße Badewanne und dann ein frauenfreies Bett.” Seine drei Gegenüber grinsen, denn sie wissen, daß Christiansens Bett seit gut einem Jahr relativ frauenfrei ist, zumindest hat man nichts Gegenteiliges gehört. „Atschüs, bis morgen.” Er winkt ihnen zu und ist draußen.

Langeland besinnt sich auf seinen eigenen Feierabend. „Ich mach’ mich dann auch mal auf den Weg.” Er verabschiedet sich mit Handschlag von den beiden Hauptkommissaren und verschwindet ganz schnell, ehe Malvoisin noch etwas einfällt. Er ist oft genug im Türrahmen mit letzten Tagesüberraschungen festgehalten worden.

Reinhardt hat inzwischen seinen Wortschatz wiedergefunden. Vor dem Besprechungsraum spricht er Malvoisin nochmals auf das pikante Thema an.

„Aber wir sind doch keine Tiere, die … Du weiß schon.”

Malvoisin wendet sich ihm zu und lächelt ihn an.

„Oh doch, mein Lieber. Der Mensch ist auch nur ein Affe, ein sprechender, und benimmt sich oft schlimmer als die Viecher. Nur der Mensch tötet ohne Hunger und aus Lust am Töten, und das nennt er Zivilisation. Nur der Mensch macht seine Umgebung schlechter, und das nennt er dann Gestaltung. Und die, die uns alle paar Jahre unsere Stimmen abnehmen, weil wir immer wieder so blöde sind, sie ihnen auch noch zu geben, die nennen das dreisterweise Politik, die Kunst der Staatsverwaltung. Und weißt Du was? Diese sprechenden Affen können wirklich ’was. Die verarschen uns so gekonnt, daß wir das sogar noch für unsere staatsbürgerliche Pflicht halten, ihnen mit unseren Kreuzchen den Freifahrtschein für all den verzapften Krampf zu geben, und Pensionen zu zahlen, die ein normaler Mensch erst mit über hundert, zwei- bis dreihundert Jahren Arbeit beisammen hätte, wenn es reicht.”

Reinhardt sieht Malvoisin leicht verstört an. „Was ist denn mit Malle heute los?”

Da kommt die hübsche Polizeianwärterin unerwartet zurück und bleibt mit einem leicht verlegenen, aber irgendwie niedlich klingenden Räuspern bei den beiden Altgedienten stehen.

„Äh, Verzeihung, wenn ich vielleicht störe …” Beide sehen sie etwas überrascht an, aber nicht ungern. Sie ist wirklich ein angenehmer Anblick.

„Ja, bitte?” Malvoisin sieht sie mit hochgezogener rechter Augenbraue an.

„Ich wollte mich nur bedanken, Herr Hauptkommissar, daß ich morgen dabei sein darf. Mein erster Mordfall sozusagen, auch wenn ich noch nicht allein losziehen darf, ich meine morgen, in Grömitz.” Sie wirkt etwas aufgeregt, schlägt kurz den Blick nieder, sieht Malvoisin aber gleich wieder mit ihren schönen braunen Augen an.

„Da gibt es nichts zu danken, Kollegin. Sie sind eingeteilt und gehen mit uns mit und sammeln Praxis. So einfach ist das.” Malvoisin lächelt sie freundlich an. Sie lächelt tapfer zurück, ihr Blick wandert zwischen beiden hin und her.

„Äh, ja, ich geh’ dann mal. Ich muß noch einkaufen gehen.” Ilka Jawohl knetet leicht verlegen ihre schlanken Hände und tritt langsam den Rückwärtsgang an. „Ja, atschüs, bis morgen.”

„Ja, bis morgen, tschüs. Wir sehen uns um achtdreißig.” Und dann hat sie es endlich geschafft, wegzukommen.

Die beiden Männer sehen ihr mit mildem Lächeln amüsiert nach.

„Waren wir auch mal so aufgeregt?” Reinhardt sieht sein Gegenüber nun schmunzelnd an.

„Oh ja, ich glaub’ schon. Aber weißt Du was? Wir gucken jetzt mal, ob die Kantine noch auf hat, und ich spendiere uns eine Probe norddeutscher Braukunst und wir versuchen, uns an unsere Anfänge zu erinnern.”

„Gute Idee.” Reinhardt ist froh, von den Zivilisationsbetrachtungen weggekommen zu sein.

„Hab’ ich Dir schon mal erzählt, was wir damals …”

*

Jan und Christian hatten ihr Sonnenbad beendet. Gesprochen haben sie vorher nichts mehr, lagen einfach nur faul im warmen Sand. Sie waren in ihre T-Shirts, Hosen und Schuhe geschlüpft, zum Parkplatz zurückgegangen und hatten sich dort im Wagen die Badehosen angezogen, was nicht ganz unbemerkt geblieben war, denn sie mußten erst etwas umständlich wieder aus ihren Hosen heraus. Jan wollte das erst außerhalb erledigen, aber Christian hatte ihn gefragt, ob er verrückt geworden sei. Plötzlich stünde die Bauwitz hinter ihnen und fragte spitz, was für eine Vorstellung das denn sei. Das mußte er nun wirklich nicht haben. Am Strandkorb konnte man schon mal einige Augenblicke ganz ohne sein, auch ohne Umkleideüberstreifer oder Bademantel, aber auf dem Parkplatz? Jans „Seit wann bist Du denn so prüde?“ hat er einfach überhört. Aber zwei attraktive Mädchen waren so nah an ihnen vorbeigegangen, daß sie die Verrenkungen im Auto gesehen hatten und tatsächlich ganz nah herangekommen waren. Christian war noch nicht ganz in sein Badetextil hineingekommen, als auf seiner Seite ein lachendes Gesicht hereinschaute und ihm fast das Herz stehengeblieben und das Blut in den Kopf geschossen war. Das Mädchen klopfte an die Seitenscheibe, deutete “Herunterfahren” an, was Christian auch tatsächlich befolgte und meinte mit interessiertem Blick, warum er das denn nicht vor dem Wagen mache, dann hätte man doch auch ‘was davon. So kess war ihm schon lang kein weibliches Wesen mehr gekommen, wenn er von seinen frechen Schwestern einmal absah, aber für die war er ja nur Bruder und kein Mann. Jan stichelte von der Seite „Hab’ ich Dir doch gesagt!“, hatte selbst “alles” rechtzeitig “verstaut”, wurde aber nicht weniger interessiert betrachtet, was er sehr wohl bemerkte, während Christian schnell noch seine Vorzüge verstecken mußte, aber bei ihm war es zu spät. Alles gesehen und gescannt. Unter erheblichem Räuspern band er die Badehose zu und machte Anstalten, auszusteigen, ließ aber vorher die Scheibe wieder hochfahren. Jan zog den Zündschlüssel ab und stieg ebenfalls aus.

Als sie nun in T-Shirts und ihren Drachenbadehosen vor den ebenso neugierigen wie bildhübschen Mädchen standen, bemerkten sie erst, was sich ihnen da genähert hatte. Die beiden mußten etwa 18 oder 19 Jahre alt seien, hatten jede lange dunkelbraune Haare, die auf Jans Seite mit blauen Augen, die bei Christian mit braunen, die auf Jans Seite trug ein weißes Bikinioberteil und weißes Strandröckchen, die andere dasselbe in türkis. Christian schätzte beide auf etwas mehr als einen Meter siebzig groß und jede auf etwa 55 Kilogramm. Es war ihm plötzlich ganz egal, daß er “gesehen” worden war. Wären sie den beiden am Lensterstrand begegnet, wären die Geschenke ohnehin alle ausgepackt gewesen. Aber im Textilstrandbereich erschreckt man sich doch bei ertappter Nacktheit; das scheint ein Naturgesetz zu sein.

„Macht Ihr das immer so”, fand das Mädchen in türkis als Erstes die Worte wieder. Christian räusperte sich durch, gestikulierte etwas fahrig mit beiden Händen und meinte: „Ja sicher, wenn wir hier baden gehen wollen schon. Die Kurverwaltung schätzt es gar nicht, wenn wir hier nackt herumlaufen, wißt Ihr?”

„Ach ja? Habt Ihr das denn schon mal gemacht?”, fragte amüsiert das Mädchen in weiß.

„Ja, klar”, trumpfte Jan auf. „Mitten am Tag?”, fragte das Mädchen in türkis etwas überrascht. „Nein, natürlich nicht”, dämpfte Christian Jans Angeberei. „Wir gehen frühmorgens - äh, vor sieben Uhr - nackt schwimmen - äh, jetzt im Sommer. Ja, genau - so, äh, machen wir das.” Er wollte gelassen wirken, kam aber doch leicht ins Stottern.

„Wie, im Urlaub steht Ihr so früh auf? Das ist ja übel”, wunderte sich das Mädchen in türkis.

„Wir sind hier nicht im Urlaub, wir wohnen hier”, klärte Jan sie auf.

„Ach, Ihr seid Einheimische? Dafür seht Ihr aber cool aus”, meinte das Mädchen in weiß.

„Ist die blöd, wofür hält die uns hier? Für Waldschrats?” Christian ließ dieses Vorurteil nicht auf sich sitzen. „Denkst Du vielleicht, wir sehen an der Küste alle aus wie Quasimodo?”

„Quasi wer?”

„Noch nie ’was vom Glöckner von Notre Dame gehört?”

„Ach so, der”, dämmerte es dem Mädchen in weiß.

„Ich heiße übrigens Isa”, stellt sich das Mädchen in türkis vor, „und das ist meine Freundin Stella. Und wer seid Ihr?”

„Das ist mein Freund Christian”, übernimmt Jan ihre Vorstellung, „und ich heiße Jan.”

„Hübsche Namen, passen zu Euch.”

Die Freunde sehen sich lächelnd an und jeder betrachtet dann “sein” Mädchen. „Das gilt aber auch für Euch”, macht Christian sein erstes Kompliment.

„Stehn wir jetzt hier noch weiter ‘rum oder gehen wir an den Strand? Wir wollten eigentlich noch schwimmen gehen, Ihr doch auch, nicht?”

Und damit war es ausgemacht, daß für Jan und Christian des Strandes zweiter Teil folgte.

Isa nimmt ihre Strandtasche auf. „Tja, und wo gehen wir hin? Gleich hier an der Seebrücke oder zum Hundestrand?”

Christian schlägt vor „Wir bleiben am besten gleich hier vorn, da kann Jan auch seinen Autoschlüssel bei der Korbvermietung abgeben” und damit machen sie sich auf den kurzen Weg durch die Hintertür zwischen Georgsklause und dem Vermieterhäuschen Horch zur Promenade. Christian nimmt Jan die Schlüssel ab und geht hinein.

„Hallo, Tante Horch”, meldet Christian sich fröhlich an und läßt einen Gast vorbei, der sich gerade verabschiedet hat.

„Moin, mein Jung. Wollt Ihr noch ein bißchen schwimmen? Das Wasser ist herrlich, war vorhin selbst drin.” Sie sieht ihn freundlich lächelnd an. „Kannst Du bitte Jans Wagenschlüssel in Verwahrung nehmen? Einmal im Sand suchen hat gereicht.” Christian erinnert sich mit Schrecken an das Durchsieben von bestimmt zehn Quadratmeter Strand, verbunden mit Jans Hektik, und legt das kleine Lederetui auf den Tresen. Frau Horch nimmt es gleich an sich und deponiert es neben ihrem Telephon. „Aber denk’ dran: spätestens um 18.30 Uhr bin ich weg, klar?”, ermahnt sie ihn.

„Klar, Tante Horch. Danke.”

Sie bemerkt, daß die jungen Burschen in Gesellschaft sind. „Ach, Ihr seid nicht allein? Haben die jungen Damen einen Korb?” Marga Horch ist immer geschäftstüchtig.

Christian tritt vor das Häuschen. Blitzartig erschließt sich ihm die Möglichkeit der Verstationierung der beiden Schönen: haben sie einen Korb, müssen sie sie nicht immer suchen. „Sagt mal, wie lange bleibt Ihr eigentlich?” Isa sagt an „Noch elf Tage, drei sind wir ja erst hier, warum?”

„Habt Ihr einen Korb?”

„Nee, haben wir nicht. Ist hier einer frei?”

„Komm’ mal ’rein, ich frag’ mal.” Christian nimmt Isa einfach bei der Hand, die es nicht abwehrt und zieht sie ins Häuschen hinein. „Guten Tag”, grüßt Isa freundlich, was Frau Horch ebenso erwidert. „Hast Du noch einen Korb frei, Tante Horch?”

„Für wie lange denn?”

„Elf Tage”, wiederholt Isa, während Frau Horch sich schon zu ihrem mit roten Besetztsteinen übersäten Belegungsplan umwendet. „Hm, da wird morgen einer frei, für zwölf Tage, aber das ist einer in der dritten Reihe, der H80. Hat aber den Vorteil, daß Sie den Wind nicht so abkriegen. Möchten Sie den?” Christian nickt Isa ermunternd zu. Stella hat von draußen mitgehört und nickt ebenfalls.

„Okay, den nehmen wir.”

„Schön. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen? Morgen vormittag ist mein Mann hier, dann weiß er gleich Bescheid, wenn Sie kommen. Dreißig €uro die Woche und zehn €uro Kaution für den Schlüssel, aber das bezahlen Sie dann erst morgen.”

„Isa van Heelen und meine Freundin heißt Stella O’Brian. - Irischer Vater”, setzt sie gleich dazu. Das Nachfragen kennt sie schon. „O-Brei-en geschrieben, aber O-Bri-en gesprochen.”

Nun muß Christian schon nicht nach den Familiennamen fragen, alles in einem Aufwasch. Ein feines Lächeln umspielt seinen Mund. Er hatte bereits einen aufregenden Tag, und er scheint sehr angenehm enden zu wollen.

„Gut, dann kommen wir morgen so zwischen zehn und elf Uhr - reicht das?” „Natürlich, bereits für Sie reserviert. Kommen Sie, wann immer Sie möchten. Nur um 6.30 Uhr, wenn unser Krischan nackt schwimmen geht, tjä, dann ist noch keiner von uns hier”, lächelt Marga Horch schelmisch-süffisant Christian an, dem der Atem stockt und das Blut in den Kopf schießt. Er hat den Tag mit Leuchtturm-Übungen begonnen und scheint ihn so beenden zu sollen. „Verdammter Mist, woher weiß sie das? Ich hab’ doch nie jemanden gesehen.” Christian ringt sich ein leicht verunglücktes Lächeln ab. „Hähä, ja, äh, danke, Tante Horch”, stottert er sich irgendwie aus dieser peinlichen Situation heraus, „atschüs denn, bis nachher” und mit einem flüchtigen Winken schiebt er Isa hinaus und sucht, tja, was sucht er denn nun? Ach, irgendwie erst einmal das Weite. Jan bemerkt seines Freundes Verwirrung und zieht ihn zur Seite.

„Was ist denn los, Alter? Hast Du da drinnen eine Erscheinung gehabt?”, versucht er mit gedämpfter Stimme herauszubekommen, warum Christian so unkoordiniert um sich schaut, als wisse er nicht, wohin. Immer noch ganz perplex über Marga Horchs Wissensstand neigt Christian seinen Kopf näher an Jans linkes Ohr und raunt ihm zu, was er gerade erfahren hat.

„Ja und?” Jan spricht wieder in normaler Lautstärke. „Mann, Junge, wir sind hier auf’m Dorf. Hier kannst Du doch nich’ am Waldrand pupen, ohne daß es zehn Minuten später am Strand alle wissen. Stell’ Dich doch nich’ so an.”

Christian beruhigt Jans Selbstbewußtsein überhaupt nicht. Hat Sigurd vielleicht die Klappe nicht gehalten oder wer hat wohl hinterm Busch gestanden und ihm zugesehen? Jan war bislang nicht dabei gewesen.

„Ich komm’ morgen früh mal’ rüber und dann können sie alle unsere beiden Knackärsche begucken - und gut is’! Auf’m Kalender bist Du doch noch viel besser zu sehen. Krieg’ Dich ein, Mensch.” Jan klopft ihm aufmunternd gegen die Brust. „Und nun komm. Wir wollten doch mit den Deerns schwimmen gehen.”

Die Mädchen haben sich die kleine Szene leicht verwundert angesehen und -gehört. Stella hatte Isa zugeflüstert: „Kalender? Hast Du das gehört? Ist Deiner vielleicht ein Fotomodell?” „Wieso meiner? Und überhaupt. Deiner sieht doch auch toll aus.” „Warum ist der andere denn nun meiner?” „Weil ich meinen zuerst gesehen hab’, deswegen”, stellte Isa ein für allemal klar und beide sahen sich mit leicht eingezogenen Köpfen lächelnd an. Die Jungs waren bereits “verteilt”.

Jetzt kommen sie aber wieder zu den beiden hin und Jan übernimmt das “Kommando”.

„Laßt uns doch da ’rüber zu der Buhne gehen”, er deutet in Richtung der ersten Felsbuhne östlich der Seebrücke, „da lagert niemand.”

Jan nimmt Stella wie selbstverständlich bei der Hand und zieht mit ihr los. Isa nimmt Christian bei der Hand und zieht mit ihm los. Da sie alle vier barfuß sind lassen sie die Plankenrampe links liegen und gehen nach dem Strandmäuerchendurchlaß quer rechts rüber durch die Strandkorbreihen hindurch.

Als Christian links hinüber zur Brücke schaut, entdeckt er Inga Rasmus, die, braungebrannt, in einem Nichts von hellblauem Bikini, auf einen Strandkorb zugeht aus dem sich sein Großonkel Florian hervorbeugt. Sie hat zwei Becher in der Hand. „Oh, Onkel Flo hat sich eine Auszeit genommen.”

An der Buhne angekommen stellt Isa ihre Strandtasche ab, holt zwei große bunte Tücher heraus und legt sie nebeneinander, ihrer Breite nach parallel zur Wasserlinie auf den Sand und bedeutet den Jungs „Setzt Euch.” Christian legt sein T-Shirt ab, wirft es Jan vor die Füße. „Ich geh’ mal eben zu meinem Großonkel - bin gleich wieder da.” Kaum gesagt, ist er auch schon weg. Die Mädchen sehen sich fragend an und ihm hinterher, sehen Jan an, der seinem Freund nachsieht und in der Blicklinie Inga Rasmus erkennt, die gerade Florian von Pichler einen Becher reicht.

„Da hinten sitzt Christians Großonkel mit seiner Freundin. Er ist unser Verleger. Christian fragt sicher nur mal nach dem neuen Kalender.”

„Verleger? Kalender? Was für Kalender?” Isa wird neugierig.

Stella vermutet etwas. „Habt Ihr Euch nackt photographieren lassen, Du und Dein Freund?”

„Ja, klar”, gibt Jan es stolz zu. „Christian schon im letzten Jahr und dieses Jahr bin ich auch dabei.”

Isa und Stella sehen sich mit großen Augen an und zeigen dabei ein erwartungsvolles Funkeln.

„Kann man das mal sehen?”

„Ja, wie jetzt? Soll ich mich jetzt hier ausziehen?”

„Wär’ doch geil, oder?” Die Mädchen lachen verschmitzt.

„Ja, klar, und dann kommt Frau Horch angerauscht und erklärt mir den Weg zum Lensterstrand. Nee, danke.” Jan schüttelt den Kopf. „Das sind ja ‘n paar heiße Chicks.”

Als die Mädchen beginnen, sich ihrer Strandröckchen zu entledigen, zieht sich auch Jan das T-Shirt über den Kopf und läßt es als Textilhaufen neben sich fallen. Lächelnd betrachten Stella und Isa ihn und registrieren innerlich amüsiert seine bewundernden Blicke. Dann setzen sie noch eins drauf und legen ihre Bikinioberteile ab. Und daß sie das wohl immer tun, ist daran zu erkennen, daß sie keine weißen “Körbchen” tragen, was Jan begeistert bemerkt. Nachdem die Freundinnen ihre abgelegten Strandtextilien fein säuberlich zusammengelegt in Isas Strandtasche verstaut haben, läßt sich Stella neben ihrem “Ausgesuchten” nieder, während Isa sich kurz in Christians Abmarschrichtung orientiert und mit einem kurzen „Bin gleich wieder da“ ihm folgt.

Stella streckt ihre wohlgeformten Beine nicht ganz aus und stützt sich nach hinten mit den Armen ab. Jan muß sich Mühe geben, die so großherzig dargestellten weiblichen Attribute nicht zu sehr anzustarren, was sehr wohl bemerkt aber nicht gezeigt wird, wenn man von einem kurzen, fast unmerklichem Lächeln absieht. Jan ist es nicht aufgefallen; er ist zu sehr abgelenkt, befürchtet eine allzu deutliche optische Erweiterung seiner Badehose. „Wären wir doch nur schon im Wasser.”

*

Christian erreicht den Strandkorb seines Großonkels. Inga setzt sich gerade zu ihm, als sie den Besuch bemerkt. Flo Pichler, nur bekleidet mit dunkelblauen Shorts löffelt bereits genüßlich den erfrischenden Fruchtquark. Christian staunt unwillkürlich über die “immer noch gute” Figur des Bruders seines Großvaters mütterlicherseits, des jüngeren Bruders - wohlgemerkt. Es ist ohne Zweifel eine Frage seines Alters, daß er es kaum glauben kann, daß Männer dieses Alters eine sehr wohl beachtliche körperliche Erscheinung sein können. Aber es macht ihn auch irgendwie stolz auf den “alten Herrn” und hoffnungsvoll, in vierzig Jahren vielleicht auch noch so daherzukommen. Und seinen Vater findet er mit dessen fast 46 Jahren sowieso genial aussehend; beste Voraussetzungen für ihn selbst.

„Moin, Onkel Flo.” Der sieht auf, schluckt herunter, setzt den Becher aber nicht ab. „Moin, mein Jung’. Bist Du allein hier?”

„Hi, Inga.”

„Grüß Dich, Christian.” Die beiden tauschen Wangenküsse aus. Seit Florian und Inga ein Paar sind, hat sich auch Christian mit ihr eng angefreundet, in allen Ehren natürlich, und jedem, der über den Altersunterschied der beiden glaubte hetzen zu müssen, deutlich die Meinung gesagt. Als auch seine Eltern entschieden Partei für die beiden ergriffen hatten und Florians Mutter mit ihren fast 95 Jahren sich bei einem Kaffeekränzchen deutlichst jeden abwertenden Kommentar verbeten hatte, und wenn Urgroßmutter Priscilla deutlich wird, dann wird sie deutlich, war zumindest öffentlich Ruhe. Was einzelne Leute dachten war der Familie egal. Nur ihr böses Schandmaul hatten diverse Herrschaften zu halten.

„Nee, bin mit Jan hier …”

„… und mit mir”, erklang es hinter Christian, der erschrocken herumfährt, direkt in Isas schönes Lächeln sieht und angesichts ihrer unerwarteten Oben-ohne-Realität erst einmal ein deutliches Räuspern hören läßt.

Florian von Pichler ist Profi genug, auch jetzt, und nicht aus der Ruhe zu bringen. Inga lächelt in sich hinein.

„Möchtest Du uns die junge Dame nicht vorstellen”, sieht er seinen Großneffen auffordernd an.

„Ja, äh, das ist, ähem …”

„Hast Du Dich verschluckt?” Isa klopft ihm fürsorglich auf den nackten Rücken und sieht dann die beiden Korbsitzer an.

„Isa heiße ich, Isa van Heelen” und streckt Christians Großonkel die Hand hin, der seinen Fruchtquarkbecher auf dem kleinen Klappbrett abstellt und die angebotene Hand ergreift.

„Florian Pichler, ich bin der Großonkel dieses gerade etwas indisponierten hoffnungsvollen jungen Mannes, und das ist meine Lebensgefährtin Inga Rasmus.” Beide bleiben sitzen, was am Strand durchaus nicht unhöflich ist, zumal, wenn jemand sich am Klappbrett vorbeizwängen müßte. Inga reicht Isa die Hand und lächelt sie freundlich an. „Hallo. Bist Du aus dem Achterland oder im Urlaub hier?”

„Wir sind im Urlaub, gerade gekommen.”

Inga staunt. „Na, für ‘gerade gekommen’ hast Du aber schon ordentlich Farbe - und wir …?” Sie sieht die hübsche Barbusige fragend an.

„Meine Freundin Stella sitzt da hinten an der Buhne mit Christians Freund Jan”, wobei sie durch Kopfnicken in die gemeinte Richtung deutet, „und meine Eltern haben in Blankenese ein schönes Penthaus, da kann man gut ‘ohne’ sonnenbaden.” Christian horcht auf, das Überraschungsräuspern hat sich gegeben. Jetzt weiß er schon eine ganze Menge für die kurze Zeit der Bekanntschaft.

Isa ist neugierig. „Ich habe gehört, Sie machen Kalender?”

„Ja, ganz recht, schon viele Jahre.”

„Auch von Christian?” Isas Augen funkeln.

„Ja, seit letztem Jahr auch von ihm, neben anderen.” „Kann man die mal sehen?”

„Natürlich. Kommen Sie doch einfach mal zu uns, dann können Sie sich die Arbeiten anschauen, und wenn Sie Lust haben - wir suchen noch Modelle.” Florian von Pichler ist schon wieder bei der Arbeit, was Inga mit einem leisen Kopfschütteln kommentiert. Isa ist wie elektrisiert. „Christian kann Sie ja mal zu uns bringen, die Tage, und wenn Ihre Freundin so gut aussieht wie Sie, bringen Sie sie mit.”

„Meinen Sie wirklich?” Isa kann es kaum glauben. „Würde ich es sonst sagen?” Pichler nickt ihr bekräftigend zu und gestaltet in Gedanken bereits den zusätzlich neuen Kalender. Silke Burmester wird begeistert sein, denkt er sich. Jetzt fällt Christian wieder ein, warum er zu seinem Großonkel gegangen war. Isas plötzliches Auftauchen hatte ihn doch recht verwirrt.

„Sind die Probeabzüge schon fertig, Onkel Florian?” Er vermeidet bewußt die Abkürzung “Flo” angesichts Isas Präsenz.

„Gestern, Christian, wollte Dich schon anrufen. „Dann komme ich morgen.” Isa knufft ihn in die Seite. „Äh, wir kommen morgen”, verbessert er sich. „Also, abgemacht, und nun laßt uns mal unseren Fruchtquark essen, ehe er ganz warm geworden ist bei der Hitze, ja?” Christian versteht die deutliche Aufforderung, zu verschwinden. Er winkt seinem Großonkel zu: „Na denn bis morgen, Onkel Flo … rian. - Tschüs Inga”. Ein schneller Wangenkuß, und er zieht Isa mit sich fort, die kaum noch ihr „Tschüs, hat mich gefreut …” anbringen kann.

Lächelnd sehen Pichler und Inga den beiden nach. „Nette Deern, wird sich gut machen”, stellt der Verleger fest und beginnt, seinen tatsächlich etwas warm gewordenen Quark zu löffeln. Inga tut es ihm nach.

„Der süße Christian ist schon wieder verliebt. Seine Biene hat er scheints gründlich abgehakt, hm.”

*

Als Christian mit Isa zurückkommt, die er immer noch festhält, als würde er befürchten, sie könne zurücklaufen und sich ohne seine Aufsicht seine Nacktphotos ansehen, bemerkt er, daß auch Stella “abgelegt” hat und Jans Badehose bereits sichtbar verräterisch ist. Er läßt Isa los, die sich auf ihrem Badetuch niederläßt und Stella etwas zuflüstert, so daß diese ihre Augen aufreißt, grinst, aber nichts sagt. Christian setzt sich zu Jan, flüstert ihm etwas zu, worauf der sich aus seiner rücklehnenden Haltung wieder vorbeugt und die ausgestreckten Beine an den Oberkörper zieht. Stella gefällt das gar nicht, denn sie hat gern registriert, was da zu sehen war und nun versteckt wird. Alle vier sagen erst einmal nichts. Christian beginnt schneller als sonst, mit dem Sand zu spielen.

„Wohnt Ihr schon lange hier?”, unterbricht Isa mit ihrer wohlklingenden Stimme die nur kurze, aber den Freunden ewig erscheinende Stille. Die beiden nehmen weder den Wind, noch das Wellenauflaufen und das Strandbrummen war. Hinter ihnen laufen kleine Kinder durch „Ich krieg dich, ich krieg dich”.

„Äh, wie bitte?” Christians Gesicht gerät für Bruchteile von Sekunden in Bewegung, als sei er aus tiefster Konzentration herausgerissen worden.

„Wie lange Ihr hier schon wohnt?” Isa hat es bemerkt und amüsiert sich.

„Wo wohnen wir schon lange?” Christians sprachliche Auffassung scheint verwirrt zu sein. Isa ist nicht ganz unschuldig daran.

„Na, wann habt Ihr hier Eure Zelte aufgeschlagen?”, bohrt nun Stella nach.

„Warum Zelte? Wir wohnen doch nicht in Zelten, hhm?” Jan schüttelt den Kopf. Er hat seine Antennen nur noch auf diese exquisiten Brüste gerichtet und den dazugehörigen äußerst reizvollen Rest - ein äußerst beunruhigend attraktiver “Rest“. An Britta kann er sich gar nicht mehr erinnern, denn ihr für ihn einstmals so schönes Bild funkt nicht störend dazwischen, und selbst Kristin ist gerade im “Papierkorb” geparkt. Er hat nur noch Augen für diese herrliche weibliche Aufregung.

„Eben. Warum sollten wir auch in Zelten wohnen?” steht Christian seinem Freund zur Seite.

„Herrschaft, irgendwo müßt Ihr doch wohnen. Ihr übernachtet doch nicht am Strand, oder?”

„Och, warum nicht? In der richtigen Gesellschaft kann das viel Spaß machen.” Nun grienen die Jungs sich an, während die Mädchen amüsiert-genervt durchatmen.

„Stehen die auf der Leitung?”, denkt sich Isa und versucht es anders.

„Seid Ihr hier geboren?”

„Nö.” Jan schüttelt den Kopf und Christian tut es ihm gleich. „Nee.”

„Na, dann müßt Ihr doch von Eurem Geburtsort irgendwann einmal hergekommen sein, nicht?”

„Ja, ich denk’ schon”, gibt Jan als Halbantwort.

„Und wann? In diesem oder im letzten Jahrhundert?”

„Wir sind doch nicht aus dem letzten Jahrhundert!”, protestiert Christian.

„Doch, seid Ihr schon. Wir sind alle aus dem letzten Jahrhundert, Du Schlauberger, aber nun sag’ schon: wann seid Ihr hergekommen?”

„Ach so,” dehnt Jan, „ich heute morgen und Christian wohnt hier, warum?”

„Nur so, weibliche Neugier eben. Und seit wann wohnst Du hier, Christian?”, bohrt Isa nach.

Nun fällt der Groschen, wenn zuvor auch pfennigweise. „’n büschen weniger als zwei Jahre, aber wir haben hier vorher Urlaub gemacht seit ich neun Monate alt war.”

„Und wo bist Du geboren?”, will Isa es nun genau wissen.

„In Lübeck”, kommt es so gelassen und selbstverständlich, als hätte der Klapperstorch kein anderes Ziel gewußt als ihn am Holstentor abzulegen und seine Mutter hätte ihn beim Einkaufen dort einfach mitgenommen, weil noch Platz im Korb war.

„Und Du, Jan?” Stella will nun auch ihren Info-Anteil haben.

„Was denn?” Jan ist dankbar, sie ansehen zu können, ohne in den Verdacht des Starrens zu geraten.

„Geboren?”

„Jou, bin ich.”

„Dein Geburtsort ist ein Geheimnis?”

„Warum?”

„Weil Du ihn uns nicht sagst, darum.”

„Warum sollte ich ihn denn nicht sagen?”

„Sag’ Du’s mir, ich weiß es nicht.”

„Was weißt Du nicht?”

„Warum Du Deinen Geburtsort nicht ausspuckst.”

„Warum sollte ich denn auf meinen Geburtsort spucken?”

Stella holt tief Luft, Isa amüsiert sich inzwischen über das komplizierte Spiel, herauszubekommen, wo diese beiden Prachtexemplare zur Welt kamen.

„Ja, ich weiß nicht. Vielleicht ist es irgendein Kuhdorf in dem nicht viel los ist.”

„Seit wann ist in Hummel-Hummel-Town nix los?”

Jetzt war es endlich heraus, Jans Wiege stand an der Alster, an der Elbe, an der Bill, irgendwo dazwischen.

„Ich bin nicht nur geborener Hamburger, ich bin auch gebürtiger Hamburger, daß Ihr das mal nur wißt.” Jans Stolz in der Stimme ist unüberhörbar.

Isa kann ihn nur zu gut verstehen. Für Stella hat es keine tiefere Bedeutung. Sie wurde in der irischen Grafschaft Kerry geboren und kam als kleines Mädchen, gerade passend zu deutschen Einschulung, nach Hamburg, als ihr Vater eine gute Stellung gefunden hatte und dem Drängen ihrer Mutter nachgeben konnte, nach Deutschland zurückzukehren.

Plötzlich ist Christian die viele Fragerei leid und schlägt vor, doch endlich schwimmen zu gehen, sonst sei die Ostsee verdunstet, wie er leicht übertreibt, bevor sie das Wasser heute probiert hätten. Jan ist selig, sich endlich abkühlen zu können, und springt als erster auf, wobei er in der Eile die Ausstellung verräterischer Ansichten schlicht vergißt.

„Hej, nimm mich mit”, protestiert Stella hinter ihm her und läuft ihm schnell nach.

Christian läßt es etwas galanter ablaufen, erhebt sich, reicht Isa die Hand, die sie brav ergreift und sich hochziehen läßt und beide schlendern irgendwie gelassen, vertraut, als würden sie sich schon lange kennen, in die angenehm temperierte See hinein.

*

Ilka Jawohl schließt leise ihre Haustür, stellt ihren Einkaufskorb ab und legt ihre Schirmmütze auf die Hutablage ihrer Garderobe. Es ist eine stabile Vollholzgarderobe, die ihr ihr 94jähriger Urgroßvater zum Einzug in die hübsche 2 ½-Zimmerwohnung und Dienstbeginn geschenkt hat. Sie habe einen Männerberuf gewählt und nun brauche sie auch eine Hutablage wie ein Mann. Auf ihren schmunzelnden Protest, Frauen seien heute bei der Polizei ganz normal, hatte er nur das Gesicht verzogen und „Deerns bi de Udels, bäh!” gesagt, aber das hat sie mit einem breiten Lächeln überspielt ihm einen süßen Schmatz gegeben und ganz fest gedrückt. „Gewöhn Dich dran, Uro, wir Mädchen spielen jetzt überall mit, fast jedenfalls.” Sie wußte, daß der alte Herr nach einem Seuten von ihr dahinschmolz wie Butter in der Sonne, aber er grummelte immer noch ein wenig nach. Er war eben vom ganz alten Schlag, noch Hauptmann der Schutzpolizei gewesen und nach dem Krieg bis zum Oberst im Bundesgrenzschutz aufgestiegen. Er konnte nicht mehr umdenken und wollte auch nicht, aber seine Urenkelin liebte er von ganzer Seele. Was er nie sagte, daß es einfach seine Angst war, dem Kind könne etwas passieren. Als sein siebzigjähriger Sohn, Ilkas Großvater, ihn vorsichtig ermahnte, er solle es doch mal gut sein lassen, bekam der zur Antwort, er habe seinen Vater nicht zu korrigieren, er habe ihm ja wohl Respekt beigebracht. Und Hans Hinrich Jawohl, selber ein gestandener Polizeioberrat a.D., tat, was er immer tat, wenn sein Vater energisch wurde: er überspielte es mit einem achselzuckenden Schmunzeln, denn sein Vater konnte auch mit 94 Jahren immer noch deutlich den Polizeioffizier darstellen. Daß er seinem Vater heimlich zustimmte, würde er niemals zugeben. Und seiner Enkelin wollte er einfach nicht die Begeisterung verderben, es in eine so harte Gesellschaft wie die der Polizei geschafft zu haben, an der manch junger Kerl scheiterte.

So ganz ohne ist Ilka zudem selber nicht. Sie hat eine zauberhafte, jungweibliche Figur, ist bildhübsch - und eine hervorragende Kendo-Kämpferin und Judoka. Niemand täusche sich in ihr. Ihre Augen können sehr kampfeslustig funkeln.

Aber jetzt ist sie einfach nur geschafft von einem langen Tag, dabei aufgeregt über den Einsatz am nächsten Morgen. Sie will nur noch duschen, etwas essen und einen schönen Film sehen. Auf dem Weg in ihr Schlafzimmer fällt ihr Langeland wieder ein. „Dieser Kerl, wie der mich angesehen hat.” Während sie sich entkleidet und die Uniform weghängt, hält sie plötzlich inne und betrachtet sich in ihrer zarten Unterwäsche, nicht die ganz feine Spitze, die sie auch hat, aber zum Männerverrücktmachen reicht sie, und denkt sich: „Wahnsinnig werde ich Dich machen, Herr Kollege, einfach wahnsinnig” und mit einem siegesgewissen Schmunzeln legt sie auch den Rest ab, dreht sich in ihrer betörenden Nacktheit vor dem Schrankspiegel hin und her und sagt laut: „Total wahnsinnig!” Mit einem fröhlichen Lachen geht sie unter die Dusche. „Langeland, Du wirst nicht mehr wissen, wo vorn und hinten ist, und dann setze ich Dich wieder zusammen”, sagt sie zu ihrem Spiegelbild. Danach gehört sie sich nur noch selbst und genießt das prasselnde Wasser.

*

Jan und Stella sind schon auf dem Weg zum Badeponton, als Isa und Christian Hand in Hand nicht ganz knietief im Wasser stehen. Sie sehen sich an und sehen sich an und sehen sich an - und wie auf ein unhörbares Kommando lassen sie sich plötzlich los und beginnen, einander mit Ostsee zuzuschaufeln. Isa kreischt los und jucht und schreit und schaufelt nur noch schneller, um dann die Flucht anzutreten, denn Christian ist eindeutig der bessere Wasserschaufler. Stella und Jan haben inzwischen den Badeponton erklommen und verfolgen amüsiert die lebhafte Szene. Jan ist sich sicher, daß sein Freund mit seiner Eroberung nicht zu ihnen aufschließen wird. „Na, die zwei sind gleich Richtung Grömitz unterwegs.” Und was das bedeutete, wußte er: Hundestrand und noch weiter und der warme Sand würde sein übriges tun. Gedacht, gelacht - schon sah er, daß Christian und Isa nicht auf sie zuschwammen, sondern die Sandbank entlang auf Kurs gen Grömitz waren.

*

In der Villa van Straaten in Dahlem hat Cornelius seine beiden Koffer gepackt. Ein weiterer Anruf bei seinem Bruder Magnus hatte nichts ergeben, außer, daß er nicht erreichbar war. Er beneidete seinen Bruder, eine so intensive Eroberung gemacht zu haben. So war er überzeugt, am nächsten Tag den völlig erledigten Magnus platt im Bett vorzufinden, wahrscheinlich mit dem Grund für seine Erschöpfung gleich daneben. Cornelius konnte sich ein wissendes Grinsen nicht verkneifen, denn er kannte die Virilität seines Bruders. Der hatte mit Siebzehn einmal eine Wette abgeschlossen, daß er in einer Nacht vier Mädels schaffen würde, blanke Angeberei zwar, aber er schaffte sie. Als er morgens um sechs nach Hause kam, fragte er frech grinsend nach Nr. 5 - dann fiel er um und schlief fünfzehn Stunden durch. Wie zum Beweis hatten in der Zeit vier sehnsüchtige Mädchen angerufen, von denen jedes besorgt wissen wollte, wie es denn Magnus ginge. Cornelius war auch nicht ohne, aber das schaffte er nicht. Und Magnus war auf dem Gymnasium, das sie besuchten, plötzlich noch beliebter als zuvor, denn da hatten ihn zuvor fast nur die anderen Jungs wegen seiner sportlichen Leistungen bewundert, was bald in Neid umschlug, doch nun waren es die Mädchen, deren Nachrichtendienst Magnus’ Liebesdienerqualitäten schneller als der Schall verbreitet hatte. Sieben blaue Augen in Folge waren die Folge, aber die anderen erstrahlten in noch ganz anderen Farben, bis es dem Oberstudiendirektor zu bunt wurde. Er sprach ein Machtwort, forderte die männliche Schülerschaft auf, sich ihre Kampfeslust für die Bundeswehr aufzuheben und die Energie auf das Bestehen des Abiturs zu lenken, sonst sehe er schwarz für diverse Abidurchschnitte. Süffisant hatte er hinzugesetzt, daß man mit bestandenem Sexabitur kaum einen Studienplatz bekäme, außer vielleicht in Flensburg.

Dr. Dr. Aloysius Zackendorff, kurz Zackzack genannt, was er einer gewissen Schneidigkeit und seinen beiden Doktortiteln verdankte, war auch sonst auf zack; er hatte selbstverständlich mitbekommen, was vorgegangen war. Auch sein Nachrichtendienst funktionierte und seine Beobachtungsgabe war mit Dienstgrad und hohem Gehalt nicht eingeschlafen. Seine Tochter Renata war verräterisch rot und still geworden, als er testweise die Sache bei einem Abendbrot ansprach. Sie hatte sehr schnell auf ihr Zimmer gewollt - und er hatte verstanden. Bei seinen Schülern war er nach dem “Sexabitur-Rundbrief” nur noch höher geachtet. „Mann, Zackzack ist wirklich cool“, hatte es in allen höheren Klassen geheißen und die jungen Böcke meinten es auch so.

Nun freut sich Cornelius auf die Ostsee, das Treffen mit seinem älteren Bruder, den er endlich einmal im Wettschwimmen schlagen will, schöne Mädels … Er wollte doch noch etwas, was war das gleich? „Ach ja, Paps wartet ja mit dem Essen und möchte Schach spielen. Vielleicht kann ich ihn heute endlich mal mattsetzen.”

Es wird ein langer Abend werden, der zwei Flaschen besten Waldulmer Spätburgunders den Hals kostet und Cornelius die Erkenntnis bringt, daß sein Vater beim königlichen Spiel einfach unschlagbar ist.

*

Christian und Isa sind ein ordentliches Stück geschwommen, selbst Jan konnte die beiden nicht mehr sehen und Stella war zudem eine sehr verführerische Ablenkung.

„Hast Du heute abend schon ‘was vor?”

„Ich weiß nicht, und Du?” Ihre Augen leuchten.

„Hast Du denn Zeit, damit wir uns etwas überlegen können?”

„Ich denke schon”, wobei sie die Augen niederschlägt, „und ich wüßte was, womit wir uns das Nachdenken schöner machen können.”

Jan tut ganz unschuldig. „Ja, was denn?” Dabei sieht er sich um, als suche er etwas am Himmel.

„Das, Du süßer Esel” - und für ein paar Minuten wird es ganz still. So still, wie es nur still sein kann, wenn zwei Herzen stürmisch pochen.

*

Christian zeigt Isa an, daß er an Land gehen will. Sie sind weit genug entfernt vom Hauptstrand. Taxfrei und einsam genug, um mit seiner schönen Begleitung zweisam sein zu können.

„Hier können wir wieder stehen. Komm.” Er reicht Isa die Hand und prüft in beide Richtungen, ob späte Spaziergänger auf sie zukommen. Niemand zu sehen. Erst einmal Glück gehabt. An einer Stelle mit feinem Sand lassen sie sich nieder.

„Du bist wohl öfter hier”, will Isa wissen.

„Nur mit Jan, wenn wir mal ohne sonnen wollen, ohne gleich nach Lenste pilgern zu müssen.” Christian streckt sich aus und verschränkt beide Arme unter seinem Kopf.

„Nur mit Deinem Freund, sonst niemandem?” Isa glaubt ihm nicht so ganz, dafür findet sie ihn viel zu verführerisch, und läßt sich neben ihm nieder.

„Ahem.”

„Der Junge wird nicht mal rot.”

Christian druckst ein wenig herum. „Na ja, früher auch mal mit meiner Ex, aber meist waren wir am Lensterstrand, von wegen nahtlos und so, weißt Du.”

Isa grient. „Und ‘und so’ sind andere schöne Mädchen, hm?”

„Na weggesehen habe ich nicht, wenn Du das meinst.”

„Das kann ich mir bei Dir auch nicht vorstellen, wegzusehen, meine ich. Du bist nämlich ein ganz schöner Filou.”

„Ich?” Christian spielt den verwundert Empörten, dabei fühlt er sich durchaus geschmeichelt. „Ich doch nicht. Was denkst Du denn?”

„Was ich denke?” Isa beugt sich zu Christian hinüber. „Ich denke mir schon eine ganze Weile, wann Du endlich auf die Idee kommst, mich zu küssen …” Christian sieht sie erstaunt an. „… oder willst Du mir erst bei der Abfahrt einen Abschiedskuß geben, so einen langw…” Weiter kommt sie nicht.

*

Jan und Stella sind wieder promenadefähig bekleidet und kommen zum Korbvermieterhäuschen von Marga Horch zurück. Sie räumt gerade zusammen und macht sich fertig, für den Tag zu schließen.

„Ah, da seid Ihr ja. Wo sind den Christian und Fräulein van Heelen?”

„Keine Ahnung. Die beiden sind Richtung Grömitz weggeschwommen. Hab’ sie aus den Augen verloren, aber die gehen nicht verloren. Christian findet doch selbst im Dustern den Weg. Kann ich bitte meine Autoschlüssel haben?”

„Aber sicher.” Frau Horch hat sie gleich in der Hand und hält sie Jan hin. „Danke. Und nehmen Sie bitte …, ach nee”, überlegt er es sich, „die gebe ich den beiden selbst”, womit er die abgelegten Kleidungsstücke von Christian und Isa meint.

„Mir soll’s recht sein, aber jetzt mach’ ich zu. Tschüs, Ihr beiden, bis morgen.” Frau Horch zieht die gelben Rollos herunter, schließt die Tür und selbige ab, verabschiedet sich mit einem freundlichen Lächeln und radelt davon.

Stella sieht Jan fragend an. „Hast Du eine Ahnung, wo die beiden abgeblieben sind?”

„Na, an Grömitz vorbeigeschwommen werden sie nicht sein, aber ich denke, ich weiß wo sie sind und da wollen sie jetzt nicht gestört werden.”

Stella lacht still vor sich hin. „Und wo wären wir ungestört?”

Jan kratzt sich am Hinterkopf, als müsse er noch lange überlegen und grient dann vielsagend: „Och, da wüßte ich ‘was.”

„Na, dann laß uns gehen.” Sagts und nimmt den verblüfften Jetzt-nicht-mehr-Single-Jan an die Hand.

*

Isa konnte gar nicht glauben, was Christian mit ihr machte. Sie wollte mit ihrer Freundin, wie heißt sie doch gleich, eigentlich nur einen Mädelsurlaub verbringen, vielleicht ein wenig flirten, denn von angeberischen Strandhengsten hatten sie beide vorerst die Nase voll, aber daß sie Apoll persönlich begegnen würde - sie war auf herrlichste Weise fassungslos. Sie hatte geglaubt, schon einmal geküßt worden zu sein, sie hatte geglaubt, sie habe schon einmal Sex gehabt - und nun fürchtete sie, sie könne sich in ihrer Wonne einfach auflösen. Sie, die selbstbewußte Isa, die eingebildete Typen mit geringschätzigen Blicken zu einem Nichts eindampfen konnte - sie war in einem erotischen Nebel, sie sah nichts mehr, sie hörte nichts mehr, sie fühlte nur noch dieses virile Feuer, in dem sie auf ewig brennen wollte. Wieder und wieder durchrauschte es sie. War sie noch auf der Erde? Das konnte nicht mehr irdisch sein. Nicht aufhören, nicht aufhören, nicht aufhören, rief es pausenlos in ihr, und ihr ward was sie wollte bis sie ein unglaubliches Farbenspiel sah.

Es kommt Isa wie eine Ewigkeit vor, daß sie aus dem Wasser gestiegen sind, als sie bemerkt, daß sie, eng an Christian gekuschelt, immer noch im Sand liegt, der sich immer noch warm anfühlt. Sand und Christian - wohlgemerkt. Sie schnuppert an der Brust ihres apollinischen Liebhabers, die sich ruhig hebt und senkt. Seine Augen sind geschlossen. „Wie gut er duftet, und so schön ist er.” Was sie nicht ahnen kann, sind seine Gedanken. „Ich kann es ja nicht glauben, daß ich diese schöne, superheiße Katze erobert habe. - Mann, wenn das so weitergeht, dann verglüh ich an ihr zu Asche.“ Christian hat noch nicht begriffen, daß er nicht erobert hat, sondern ausgesucht worden ist. Er lernt das noch.

Isa sieht ihn lange an und berührt dann seine Lippen mit ihrem linken Zeigefinger. In dem Augenblick schnappt er nach ihr und sie fährt lachend zusammen.

„Du schläfst ja gar nicht”, und patscht mit ihrer Linken auf seine Brust.

„Wie könnte ich, da würde ich doch verpassen, daß Du bei mir bist.”

Und ehe sie sich versieht, küßt Christian sie, als wolle er sie zurück in den Nebel entführen aus dem sie gerade erst erwacht ist, noch einmal Achterbahn mit ihr fahren. Er will noch einmal glühen. So sehnsüchtig sie das gerne mitmachte, so deutlich bemerkt sie den Sonnenstand, der ihr sagt, daß der Abend hereingebrochen ist, und sie erinnert sich.

„Hhmm … Du … hhmm … hör’ mal …”

„Was denn?”, und er will weitermachen.

„Du, hör’ mal auf, unsere Klamotten …”

„Was kümmern mich, …”, dann fällt es auch Christian ein. „Oh je, Tante Horch hat abgeschlossen.”

Christian richtet sich auf, auch Isa geht in Sitzposition.

Ich kann ja so durch den Ort, ich meine, mit Badehose, aber Du? Dein Oberteil liegt doch noch an der Buhne. Mist!” Er überlegt kurz. „Obwohl, Jan und Deine Freundin werden das kaum liegengelassen haben. Vielleicht haben sie alles abgegeben, aber jetzt ist da zu.”

„Ja, was machen wir denn jetzt?” Nicht, daß Isa schüchtern wäre, aber dumme Blicke braucht sie trotzdem nicht.

„Paß auf. Wir gehen jetzt Richtung Promenade. Du bleibst hinter der Agentur Horch und ich geh’ zum Peterson und hol’ mir zwei Küchenhandtücher. Die knoten wir zusammen und Du hast ein ganz gutes Brusttuch. Einverstanden?” Isa nickt. „Ich könnte auch nach Hause gehen und einen passenden BH von meiner größeren Schwester holen, aber wenn sie da ist, müßte ich es erklären und Dich hier zu lange allein lassen. Beides blöd.” „Fürsorglich ist er auch noch, wie süß!”

Christian erhebt sich, sucht seine Badehose und Isas Bikinihöschen. Er gibt seiner Geliebten beide Hände, zieht sie hoch und steigt in sein Badetextil. Während sie sich mit beiden Händen den Sand von Po und Beinen wedelt, kniet Christian nieder und läßt Isa in ihres steigen. Er nutzt die süße Gelegenheit, ihre Venus zu küssen, was ihr sehr gefällt, ehe er das Höschen hochzieht. Auf halber Höhe angekommen, steht er auf und will Isa umrunden, um es zu vollenden, als sie, wie automatisch, es selbst tun will, was ihr eine zärtliche Rüge beschert.

„Nicht - ich habe Dich ausgezogen, ich zieh Dich auch wieder an.”

Lächelnd erwidert sie: „Bestimmst Du das im…” Weiter kommt sie nicht. Er verschließt ihr den Mund und sie dreht sich zu ihm herum und hilft ihm dabei, und ganz langsam zieht er den texilen Verschluß über das Paradies.

*

Malvoisin sitzt in seinem Büro und durchforstet Datenbanken. Er hat die vage Hoffnung, irgendwo einen Parallelfall zu finden. Langeland hat sich bereits verdrückt, Anders meinte nach dem Kantinenbierchen, er wolle jetzt in Familie machen, sonst mache die Familie etwas mit ihm, und er selbst verlängerte seinen Dienst wohl auch als eine Art Windelflucht. Maren hatte schon Andeutungen gemacht, sie erwarte, daß er eine Vaterzeit nähme, und ihm schwante, daß er dem wohl nicht würde ausweichen können. Er liebt seine beiden Mini-Prinzen sehr, aber diese vollen Windeln, bäh. Scheiß-Urlaub bekommt gleich eine ganz andere Bedeutung, wenn er an diese gewaltigen Portionen denkt, die die beiden Kleinen … Ein Klopfen reißt ihn aus den übelriechenden Betrachtungen.

„Ja, bitte!”

Professor Anderson steckt den Kopf zur Tür herein. „Wie schön, Du bist noch da.”

„Ah, Klinge, hast Du Lesestoff dabei?” Seine Miene heitert sich auf. Die befürchteten Geruchsattacken rücken wieder ein Stück in die Ferne. Bei aller Liebe zu den Kleinen … Frauen sind ja doch härter im Nehmen.

„Ich dachte, ich bringe es Dir gleich selbst.”

„Bist Du mit John Doe fertig?”

„DNA haben wir bald, aber der Rest ist klar.”

„Na, dann setz Dich. Erzähl kurz.”

„Also. Die Todesursache ist in der Tat die Schnittwunde am Hals. Er ist schlicht verblutet. Johnnyboy hatte eine heftige Dosis Diazepam im Körper. Oral genommen, keine Einstichstellen. Damit war er nicht sofort weg, dann aber gründlich, eine Weile zumindest. Mit Rohypnol geht es zack“, er schnippt knallend mit Daumen und Mittelfinger, „aber an das Zeug kommt ein Normaltäter ja doch nicht so leicht heran.”

„Haben wir es denn mit einem Normaltäter zu tun?”

„Deine Sache. Ich kann Dir nur sagen, wie es gemacht wurde, nicht warum.”

„Fesselungsspuren?”

„Nein. Die Abschürfungen an seinen Füßen rühren vom Hochziehen am Baum her.”

„Wer nimmt denn freiwillig dieses Zeug bis zur Bewußtlosigkeit? Medikamentensucht?”

„Keine Anzeichen. Der junge Mann war kerngesund und bestens trainiert. Berufssportler, Stuntman, Offizier, Kollege …”

„Ein Polizist?” Malvoisin zieht die Stirn kraus. „Das fehlte uns noch. Goldkränzchen dreht durch, weil dann bald der Innere anruft.” Ihm schwant einen Augenblick lang übles.

„Na ja, das festzustellen ist Eure Sache. Übrigens, er hatte bis auf die Weisheitszähne ein vollständiges, perfektes Gebiß. Zahnbild habe ich bereits eingegeben. Sobald ihn ein Zahnarzt erkennt, haben wir ihn. Und eine seltsame Kleinigkeit haben wir noch entdeckt.”

Malvoisin horcht auf.

„Mach’s nicht so spannend.”

Professor Anderson senkt kurz den Blick, muß grinsen, faßt sich und sieht sein Gegenüber mit einem Räuspern an.

„Er hat eine kleine Verletzung an seinem Besten ...”

„Wie bitte?” Malvoisin springt auf. Er befürchtet eine Sekunde lang „Malte Kröger Teil zwei ‘Der Unvollendete’”. „Ist er gebissen worden?”

„Nein, Zahnabdrücke sind keine zu sehen, aber eine kleine Ritzung. Sieh Dir das Bild an.”

Malvoisin schlägt die Mappe auf, die Anderson ihm hingelegt hat, und betrachtet die ausgedruckte Aufnahme.

„Kann er selbst Haare entfernt haben?”

„Möglich ist das schon. Sieh hier.” Anderson zeigt auf ein weiteres Bild. „Sein Hodensack ist rasiert. Er muß es gerade erst gemacht haben, keine Stoppeln. Und er hat Schamhaarwuchs am unteren Schaft, auch sauber rasiert. Er selbst, eine Freundin, ein Freund, wer weiß, kleine Ungeschicklichkeit. Aber ich tippe eher auf Ritzung durch einen scharfen Gegenstand, vermutlich ein sehr scharfes Messer, denn …” Anderson blättert in der Mappe um, „… sieh hier: Er hatte eine weitere kleine Ritzung am Hals, oberhalb der Ausblutungswunde.” Malvoisin holt ein Vergrößerungsglas aus einem Schreibtischfach und besieht sich die Aufnahme näher.

„Er hatte einen recht starken Bartwuchs bis auf den Halsbereich ausgedehnt”, fügt Anderson hinzu, „also können Rasurschnitte sehr wohl sein, denn wir wissen ja nicht, ob er sich mit Einlegklingen oder einem Rasiermesser geschabt hat. Und sieh Dir die Ritz- und Schnittführung an.” Anderson deutet über den Tisch hinweg auf die tödliche Wunde. „Der Ausblutungsschnitt ist ihm hängend mit dem Kopf nach unten beigebracht worden, die vergleichsweise schwache Ritzung aber so.” Der Professor deutet auf dem Bild darauf, kommt dann um den Schreibtisch herum und deutet es an Malvoisins Hals an. „Er hat dabei gesessen oder gestanden. Ein gesunder Mann wird immer vor einem Spiegel stehen, wenn er sich rasiert, auch im Intimbereich. Unser John Doe hat gesessen und ist durch Bedrohung zur Einnahme der heftigen Valiumdosis gezwungen worden. Ein stehender Mann kann seine Ellenbogen und Fäuste gebrauchen, er kann mit seinen Knien rammen, er kann treten, ein sitzender ist leicht in Schach zu halten. Selbst von kleineren Personen, die ihn stehend immer noch überragen.” Malvoisin sieht den Gerichtsmediziner mit hochgezogener rechter Augenbraue an, der fortfährt: „Ich laß mich hängen, aber es waren mindestens zwei. Ich halte es für unmöglich, daß eine Person einen trainierten Mann allein so zum Stillhalten zwingen kann, wenn dasjenige keine Schußwaffe besitzt, denn wenn er die Genitalbedrohung auch abwehren könnte, dann schneidet der oder die andere oder sticht zu. Finis. Einer oder eine allein ist dem Opfer viel zu nah und kann durch schnelle Bewegungen doch noch abgelenkt und überwältigt werden. Ihr müßt mindestens zwei Täter und oder Täterinnen suchen, und zwar an seinem Wertvollen ist rechtshändig, hinter ihm stehend linkshändig geritzt worden, was auch auf einen beidhändigen Menschen deuten kann. Er selbst war Rechtshänder, sein rechter Arm ist etwas kräftiger ausgebildet. Gute Jagd, mein Lieber. Ich hab’ jetzt Feierabend. Meine Frau hat Karten fürs Ohnsorg-Theater. Wenn wir das verpassen bringt sie mich um.”

„Na, dann viel Vergnügen. Was gibt es denn?”

„Wat dat nich all gifft!”, sagt Anderson schmunzelnd und reicht Malvoisin die Hand.

„Wat dat nich all gifft”, wiederholt Malvoisin und muß selbst grinsen, „und bedankt, min Leeven, hast uns sehr geholfen.”

„Da nich für, und tschüs.”

„Viel Spaß, und sag’ Deiner Grete schöne Grüße. Sie soll Dich am Leben lassen, ich weiß wo sie wohnt!” „Ich werd’s ihr ausrichten und mit einem breiten Grinsen ist Klinge Anderson draußen.

Malvoisin setzt sich wieder und betrachtet nachdenklich die Aufnahmen von John Doe, während auf dem Bildschirm der Polizeistern als Schonerbild herumwandert.

„Zwei Täter, rechtshändig, linkshändig, sitzend, Valium, durchkreuzte 21, Erledigung, vorher Sex, vertraut, nackt, ”, murmelt er vor sich hin und kratzt sich am Kopf. „Aber warum hast du den Dildo im Arsch gehabt”, wird Malvoisin laut und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.

*

Christian hatte in der Klause das Glück, im Außenbereich die süße Polin Krystyna zu treffen, die er seit dem letzten Sommer schon kannte. Sie sah ihn zwar mit großen Augen an, als er nach zwei Geschirrhandtüchern verlangte, aber da sie ein wenig verliebt in ihn war, fragte sie nicht lange und holte sie ihm. So mußte er ihrem Chef schon keine indiskreten Erklärungen geben. Sein „Dank Dir, Süße” und der Wangenkuß hatten dem schüchternen Mädchen eine sehr frische Gesichtsfarbe verschafft. Christian flitzte zu Isa zurück, knotete die beiden Handtücher zusammen und seine neue Schöne konnte so durch den Ort. Als sie am Theehaus vorbeiliefen, blieb sie plötzlich stehen.

„Du, Stella hat den Wohnungsschlüssel, ich komm’ gar nicht ’rein.” Da hatten sie das Malheur. Wo sie denn wohne, wollte Christian wissen. „Bei Frau Lehmann”, gab sie zur Antwort.

„Bei Mama Lehmann?”

„Ja, hinten, im Weißen Haus.”

„Oh je”, hatte er gemeint, „Mama Lehmann ist eine Seele von Mensch, aber sie sludert gern mal. Dann sind wir im Dorf ’rum.” Ob sie nicht zu ihm mitkommen wolle, da könne er ihr ein T-Shirt und eine Hose geben. Dem hatte Isa gern zugestimmt und so waren sie über den Landesdeich auf dem Weg um den Ort herum zu Christians Elternhaus gelaufen und außer einem anderen Pärchen, das nicht viel Notiz von ihnen nahm, niemandem begegnet. Im Gegensatz zu Christian ist Isa aber das Barfußlaufen außerhalb eines Strandgebietes nicht wirklich gewohnt und so war manche Begegnung mit kleinen Steinchen auf den Wegen eher schmerzhaft. Christian eröffneten sich damit weitere Möglichkeiten liebevoller Zuwendung. Fußsohlenmassage hat ‘was. Jetzt mußten sie aber erst einmal ungesehen ins Haus kommen.

Die Dämmerung ist noch nicht weit fortgeschritten und so keine große Hilfe. Alberichs Tarnkappe sollte man haben, denkt sich der junge Prinz, aber er hat sie nicht.

„Mit wem kommt Christian denn da an?” Christiana sieht von ihrem Zimmer aus hinaus, als sie gerade das Fenster schließen will, um nicht die halbe Nacht auf Mückenjagd sein zu müssen. „Was trägt die denn da als Oberteil? Sieht ja aus wie Handtücher. Christian war wohl stürmisch.” Sie weiß nicht, ob sie sich amüsieren oder traurig sein soll, daß ihre heimliche Liebe sie einfach nicht wahrnimmt, verriegelt und zieht die Gardinen zu.

Frieda Johannson geht noch einmal ums Haus, um nachzusehen, ob alles aufgeräumt und in Ordnung ist. Sie bückt sich nach einer vergessenen Schaufel, und im Aufschauen sieht sie Christian, der seltsam verhalten auf sein Elternhaus zukommt. „Wat is denn dat för ‘ne Deern bi Krischan? De sütt ja abasig [komisch] ut. Hett de nix antotrecken?” Kopfschüttelnd geht sie ins Haus und wird ihn am nächsten Tag fragen: „Na, Krischan, ik bün ja man nich neeschierig, aber hest ‘ne anner Fründin?” „Öh, ja, gewissermaßen, äh, woher?”, wird er farbig untermalt herumdrucksen. Er war sich so sicher gewesen, nicht gesehen worden zu sein.

„Komm’, leise, wir gehen über die Terrasse hinein, da können wir uns am ehesten unbemerkt in mein Zimmer schleichen.” Isa findet es inzwischen ganz amüsant, warum Christian es so heimlich hat, sie zu seinen Eltern mitzunehmen und nicht einfach zur Haustür hineingeht. Er öffnet das seitwärtige Gartentörchen und winkt sie herein, legt aber gleichzeitig den Zeigefinger auf den Mund. Sie versteht und freut sich erst einmal, weichen Rasen unter den Füßen zu haben - keine pieckenden Steinchen mehr. Christian macht das Törchen zu und nimmt die abwartende Isa bei der Hand. Er sichert nach allen Seiten, zieht sie mit sich, kommt herum zur Terrasse, will ihr gerade noch einmal bedeuten, nur ja leise zu sein, als er bemerkt, daß die Haustür die bessere Wahl gewesen wäre …

„Na, mein Sohn, doch noch Hunger?” Christian zuckt zusammen und Isa schreit leise auf, was nicht so schlimm gewesen wäre, aber sie schreckt derart zusammen, daß sich ihr Behelfsoberteil in seine Einzelteile zerlegt und zu Boden segelt.

Malvoisin legt ein Buch weg, neben den unvermeidlichen Topf grünen Tees, sieht seinen Großen fragend-amüsiert an und beantwortet sich die Frage selbst:

„Wie ich sehe ist für Dein leibliches Wohl bestens gesorgt, nicht wahr?”

„Äh, ja, hallo Papa. Ich dachte, ähem, ich dachte …” „Du dachtest, Karin weg, Tessa weg, Deine Mutter in der Küche und Dein Vater ist noch im Existenzkampf für seine vergnügte Familie unterwegs, richtig?”

„Ja, ähä, so ’was ähnliches, dachte ich wohl.” Christian kratzt sich verlegen am Kopf und bückt sich, um der kurzzeitig schreckerstarrten Isa wenigstens eins der Handtücher vor den Busen zu halten.

„Wenn Du wieder richtig sprechen kannst, würdest Du mir bitte Deine Begleitung vorstellen? Immerhin möchte ich wissen, wer heute bei meinem Sohn übernachtet, wenn Du erlaubst. Deine Mutter könnte sich morgen früh sonst übergangen fühlen oder gar denken, sie könne nicht mehr zählen, wenn eins mehr am Tisch sitzt.” Dabei sieht er Isa lächelnd, aber prüfend an. „Und Du weißt, wie schnippsch Deine Mutter werden kann, wenn sie respektlos behandelt worden ist oder es jedenfalls glaubt. Und heel füünsch ward Dien Moder, wenn se sik asig verfeert, dat dor een to veel is in‘t Huus.” Christian erinnert sich nur zu gut.

„Ja, äh, Verzeihung, Papà, das ist Isa van Heelen. - Isa, das ist mein Vater, Martin Malvoisin.” Dabei deutet er mit seiner Rechten hin und her.

Malvoisin kommt auf sie zu, reicht ihr die Hand, wozu sie erst den Handtuchhaltungsgriff wechseln muß, sonst hätte sie wieder im Freien gestanden. Ihr Lächeln wirkt dabei noch etwas verlegen.

„Fräulein van Heelen ist zum Abendessen eingeladen“, bestimmt der Hausherr. „Ich werde Deiner Mutter sagen, daß sie noch zwei Plätze mehr auslegen möchte, während Du mit unserem Gast hinaufgehst und feststellst, ob eines Deiner T-Shirts paßt und eine Deiner älteren Hosen. Das ist doch das, was Du wolltest, nicht wahr?” Christian nickt eifrig zustimmend, froh darüber, daß sein Vater ihm die Ablenkung von seinen erotischen Planungen ermöglicht. „Den Strand läßt Du aber bitte draußen.” Dabei wischt er ihm etwas Sand von der Schulter, und Christian beginnt augenblicklich, die Spuren seines Bettersatzes abzuwedeln. Er sieht sich schon wieder mit dem Staubsauger in der Hand. Nee, welche Blamage, bekäme Isa das mit. „Und Sie, junge Dame, sorgen bitte dafür, daß mein Sohn für sich selbst auch etwas findet. Wir sehen uns in zwanzig Minuten. Im Obergeschoß ist ein Bad, in dem Sie sich frisch machen können. Aber nicht so laut. Deine Brüder schlafen schon”, womit er seinen Ältesten ermahnend ansieht.

Christian nimmt Isa bei der Hand und zieht sie ins Haus. Beide sind froh, dieser Überraschungsszene erst einmal zu entkommen. Malvoisin folgt ihnen mit leichtem Kopfschütteln und erinnert sich schmunzelnd diverser Einschleusungsversuche aus seiner Teenagerzeit.

Christian atmet tief durch, als er sich von innen gegen seine geschlossene Zimmertür lehnt. „Mann, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen.”

Isa muß grinsen, will aber erst noch etwas wissen. „Brüder? Welche Brüder? Seit wann gehen große Jungs so früh schlafen?“

„Meine Brüder sind erst ein Vierteljahr alt, Zwillinge.“

„Ach wie süß”, ist Isa begeistert, „und Karin und Tessa? Sind das Verflossene oder Deine Schwestern oder so?“, wobei sie schmunzelnd den Kopf schräg legt.

„Wenn sie sich nur schon verflüssigt hätten, diese hauptberuflichen Witzboldinen“, verzieht Christian sein Gesicht. Die Sonnencremeschutzattacke vom Vormittag kommt wieder hoch. „Meine überflüssigen Schwestern sind das. Zu nichts zu gebrauchen. Schall de Düvel de twee …“

Isa amüsiert sich. „Ach, Du liebst sie ja doch, jetzt tu mal nich’ so.“

Christian grinst nun doch ein wenig. Die Idee, seinen Besten vor Sonnenbrand zu schützen war so schlecht nun auch wieder nicht, und Isa fühlt sich an ihren sechzehnjährigen Bruder Thoralf erinnert, der momentan nur spinnt und aus dem gerade alle pubertären Ungereimtheiten herauspickeln. Als sie ihn nach seinem zweiten Vornamen fragte und er verwundert meinte, er habe doch keinen, und als Antwort bekam „Streuselkuchen”, konnte sie nur noch rennen. Abends lieferte er ihr die wildeste Kissenschlacht des Jahres, und als sie unterlegen „Aufgabe” japste fragte er, wie er heiße. Schwer atmend hatte sie geantwortet, daß er Thoralf heiße - und mit zweitem Vornamen “Streuselkuchen“. Schallend lachend konnte sie sich befreien und kreischend im Bad verbarrikadieren. Das letzte Lachen aber hatte er - dummerweise. In der Tür war zum Lüften und Lichteinfall ein schrägzulegendes Klappfenster eingebaut worden. Das war geöffnet, was Isa in ihrer Aufregung nicht bemerkt hatte, und schon hatte er einen Eimer eiskalten Wassers heruntergeschüttet. Das Duschen konnte sie sich danach sparen. Ihren Aufschrei hat er sehr genossen. Sie liebt ihren kleinen Bruder, aber im Moment ist er die reine Pest. Dann fährt sie fort: „Ich weiß gar nicht, was Du hast. Dein Vater ist doch ein cooler Typ. Ich hab’ mich zwar auch erst erschrocken, aber nur weil Du so getan hast, als wäre da niemand, und dann … Führst Dich ja auf, als würde Dein Vater auf Besuch schießen.”

„Na ja, können könnte er schon.” Christian vollführt pantomimische Bewegungen des Coltziehens, Feuerns, theatralischen Pulverdampfwegpustens und Waffeeinsteckens.

„Wie bitte? Hat er etwa eine Waffe?”

„Nicht nur eine.”

Was macht er denn beruflich?” Isa wird neugierig. „Bei der Kripo ist er, Erster Hauptkommissar, und Reservefregatte ist er auch noch, und er kann mit den Dingern umgehen, das kann ich Dir sagen.”

„Dein Papa ist ja richtig gefährlich”, schmunzelt sie vor sich hin, aber damit meint sie etwas anderes. „Der sieht ja irre gut aus”, und fügt neckend hinzu, „kein Wunder, bei dem Sohn …”

„Und ich? Ich bin nicht gefährlich?” Christian fühlt sich plötzlich leicht unterschätzt und verdrängt.

„Ach, Du mein armer Romeo”, hüllt sie ihn mit stimmlichem Bedauern ein, und das Handtuch fallenlassend, „Du darfst mir heute nacht so oft zeigen wie gefährlich Du bist, wie Du nur kannst, mein Ritter von der Lanze, aber jetzt nicht”, und dabei umkreist sie ihn und fährt mit ihrem rechten Zeigefinger von seinem Bauchnabel um seine Hüfte über den Rücken und die Hüfte zum Bauchnabel und legt dann beide Hände gegen seine Brust. Sie spürt seinen schneller gewordenen Herzschlag.

„Hhm, das wird heute nacht sehr interessant werden, aber jetzt brauchst Du eine kalte Dusche. Wo ist das Bad?”

„Gleich gegenüber.”

„Na, dann geh. Verlaufen wirst Du Dich ja nicht” und schiebt ihn, die Tür öffnend, hinaus.

*

Der leicht ramponierte VW-Bus aus München biegt in eine einsame Straße ein, die zu einem Landsitz führt. “Thannhusen, 2 km” zeigt ein Hinweisschild an. Die Sonne ist längst untergegangen, selbst die letzte Resthelligkeit weicht bei wolkenlosem Himmel der Schwärze der Nacht.

„Na endlich”, brummt der Beifahrer. „Ich dachte schon, Du hättest das Nest verfehlt.”

„Halt die Klappe”, blafft ihn der Fahrer an, „ich finde alles, auch ohne Navi, denn ich rieche, wo es Geld gibt”, was er mit einem leisen, aber dreckigen Lachen unterstreicht.

Der Beifahrer wendet sich nach hinten, wo Paul Morenga und sein tansanischer Kumpel Arm in Arm in ihren Sicherheitsgurten, die Köpfe aneinander gelehnt, schon lange eingeschlafen sind. „Sehen die beiden nicht süß aus?”, grinst er, aber es ist ein böses Grinsen.

Der Fahrer sieht in den Innenrückspiegel und fixiert die Jungen kurz, um sich gleich wieder auf die Straße zu konzentrieren. „Dafür werden wir bezahlt, für süße Jungs. Anderes Spielzeug kann der Auftraggeber nicht gebrauchen. Und jetzt sei still. Wir sind gleich da.”

Der VW-Bus hält an einem geschlossenen Tor. Der Fahrer steigt aus, meldet sich an der Gegensprechanlage an, worauf sich die Torflügel fast geräuschlos öffnen. Der Kleinbus fährt ein Stück befestigter Straße, wird auf einen Kiesweg gelenkt und hält bald darauf vor einem alten Landhaus aus dem 19. Jahrhundert. Drei Fenster des großen Gebäudes nach vorn sind erleuchtet und der Eingangsbereich. Als der VW-Bus vor dem Haus hält, tritt ein großer, etwa dreißigjähriger Mann heraus, sehr gut aussehend, elegant gekleidet. Die beiden Fahrer steigen aus. Der junge Mann kommt auf sie zu und fragt grußlos mit kalter Stimme:

„Haben Sie die bestellte Ware dabei? Farbig, gesund und unbenutzt?”

„Dachten Sie etwa, daß wir …?”, will sich der kräftige Fahrer empören.

„Was ich denke, geht Sie nichts an“, wird er eisig zurechtgewiesen. „Also, ist die Ware in Ordnung?”

„Selbstverständlich”, übernimmt der Beifahrer, „sehen Sie selbst.” Dabei öffnet er die Seitentür und der junge Mann sieht hinein, betrachtet die beiden schlafenden Jungen. Die Augen des Dreißigjährigen funkeln böse, bis auf ein leichtes Zucken um die Mundwinkel ist seine Mimik teilnahmslos.

„Wie alt?”

„Beide Fünfzehn.”

„Gut ausgestattet?”

„Vor allem der schwarze Bengel, der Paul heißt. Wie ein junger Esel. Der zweite Tansanier ist auch nicht schlecht.”

„Gut. Haben Sie die ärztliche Gesundheitsbescheinigung für beide dabei?” „Selbstverständlich.“ Der Fahrer greift an der innen an der Fahrertür in ein Netz und hält ihm eine schmale Mappe hin. Der Dreißigjährige nimmt sie ihm ab und greift in seine Jackentasche. „Hier sind die Zwanzigtausend, wie vereinbart” und reicht dem Beifahrer einen dicken Umschlag. „Und jetzt holen sie die beiden heraus.”

Der Beifahrer steckt den Umschlag grinsend ein, dann rüttelte er die beiden Jungen wach, die völlig verschlafen um sich sehen und versuchen, sich zu orientieren.

„Is this our new school?” will Paul wissen.

„Ja, siß is jur nju houm. Hihr ju will lörn ewerißing ju nied. Komm aut!”

Zögernd folgen die beiden der Aufforderung. Der Dreißigjährige flüstert leise etwas in ein Sprechgerät. Kurz darauf geht die Tür auf und ein weiterer junger Mann kommt heraus, ebenso gut aussehend und elegant gekleidet, groß und kräftig, und ebenso kalt in der Ausstrahlung.

„Bring die beiden hinein. Sie sollen gleich duschen. Man wartet schon.”

Der Angesprochene tritt auf die Jungen zu und bedeutet ihnen mit „Follow me” ins Haus zu gehen, aber er bleibt hinter ihnen. Paul ist sich nicht mehr sicher, was mit ihnen geschieht, der junge Tansanier schaut ängstlich.

„Und Sie verschwinden wieder. Gute Fahrt, und keine Quartiernahme vor Hamburg, verstanden?” Er will sich abwenden, wird aber am Arm festgehalten, was er mit einem scharfen Blick wortlos rügt, worauf er losgelassen wird.

„Bekommen wir nicht einmal ‘was zu essen, und pinkeln müssen wir auch.”

„Sie haben genug Geld, und da hinten sind genügend Bäume.”

Damit läßt er die verdutzten Männer stehen und folgt seinem Assistenten mit der abgelieferten “Ware”. Hinter ihnen fällt die schwere Tür ins Schloß. Die “Lieferanten” sehen sich wortlos an.

*

Malvoisin kann sich nur schwer daran gewöhnen, daß seine Große langsam flügge wird. Da auch subtile Vergraulversuche Michael di Leonardi nicht vertrieben haben, was ihm letztlich, wenn auch uneingestanden, imponiert hatte, sein Charme und seine Gartenbauvorschläge zudem Maren auf seine Seite gezogen hatten, gab er auf. Ihm war klar geworden, daß er Karin loslassen mußte, damit sie gern im Familienverband blieb und fröhlich nach Hause kam. Seine Entdeckung, daß Michael zu den Conte Gabbiano gehört, verarmt, aber immerhin, beruhigte sein durchaus noch vorhandenes Standesbewußtsein und würde dumme Bemerkungen seines Vaters verhindern. Deren Wappentier, die Möwe, gefiel ihm, auch die Tatsache, daß Michael mit seinem Grafenstand nicht angegeben hatte. Dennoch stach es immer wieder in sein Vaterherz und störte sein Platzhirschverhalten, wenn sie abends anrief und anmeldete, sie bliebe über Nacht bei Michael. Oh, dieses fürchterliche Kopfkino! Seine süße Tessa tröstete ihn dann immer wieder, denn ihr heißer Ferienflirt hatte sich nicht so verfestigt, wie sie es sicher gern gehabt hätte, obwohl dieser Sören in Oldenburg wohnt, gefährlich nah bei.

Karins “schrecklicher” Abmeldeanruf ist gerade eingegangen, doch Malvoisins Laune hebt sich gleich wieder, als Tessa fröhlich hereinstürmt, sich einen knackigen Apfel schnappt und sofort von Corinnes dritter Badehose losplappert. Sie kann es gar nicht glauben, als ihr Vater es ihr bestätigt, daß der Beraubte ihrer Freundin tatsächlich nackt nachgestürmt ist.

„Und dann habt Ihr ihn aufgehalten?”

„Du hättest sehen sollen, wie böse Langeland ihn angesehen hat. Der Bengel wäre Corinne sonst bis zum Leuchtturm nachgerannt.” Bei dem Gedanken muß er doch grinsen, vor allem bei der Vorstellung was hätte passieren können, wenn ihm die gestrenge Bürgermeisterin begegnet wäre.

„Sieht er denn gut aus, Papa? Waschbrett und so?”

„Ja, ich glaub’ schon. Warum?”

„Na, den könnte man doch mal besichtigen, nicht?” Sie schaut sehr unternehmungslustig drein. Malvoisin kann ein Techtelmechtel seiner Kleinen mit einem Zeugen in einem Mordfall nicht gebrauchen - und überhaupt. Erst wollte der Lümmel mit seinem Patenkind anbandeln und könnte sich nun mit seiner Tochter trösten - niemals, und seine Stimme überschlägt sich fast.

„TESSA!”

„Och, Papa, Du gönnst mir aber auch gar nichts.” Tessa schmollt.

„Dieser Martin ist nichts für Dich.”

„Oho, daher weht der Wind.” Tessa schaltet um, wird schmusig, rutscht näher an ihren Vater heran, schreitet mit Zeige- und Mittelfinger seine Hemdknöpfe ab, Malvoisins rechte Augenbraue geht hoch, und schon kuschelt sie sich an ihn und krault liebevoll seine Brust.

„Ich hab’ doch schon mit meinem schönen Martin-Paps so großes Glück gehabt, da könnte doch dieser Martin auch der Bringer sein, oder nicht, Papa? Nur mal gucken.” Sie prüft mit einem vorsichtigen Aufwärtsblick die Mimik ihres Vaters - immer noch etwas streng, aber erste kleine Ich-gebe-gleich-nach-Schmunzelfältchen zeigen sich schon. Sie setzt mit Fingertanzen auf der Brust nach und meint: „Ich will auch gar nicht seine Badehose. Der Inhalt reicht mir schon. Nur mal gucken, vielleicht ein Eis essen gehen, oder so, hhm?”

„Soso, oder so! Und was ‘oder so’ ist, definiert dann dieser Nachwuchsromeo Jörgensen, ha?” Kaum gesagt, merkt er, daß er sich unprofessionell verplappert hat.

Tessa tut so, als habe sie es nicht bemerkt. „Martin Jörgensen. Ha! Dann finde ich ihn. Spätestens Tante Horch …” Sie richtet sich auf. „Sag’, Paps, wo ist denn Christian? Er ist doch sonst immer pünktlich zum Abendbrot da.”

„Er ist oben, kommt sicher gleich ’runter. Hat noch jemanden mitgebracht.”

Tessa horcht auf. „Papa hat nichts von Jan gesagt. Vielleicht ein hübscher Kumpel, den ich noch nicht kenne, oder hat er am Ende …?” In Tessas Überlegungen hinein beantwortet ihr Bruder ihre stillen Fragen durch sein Erscheinen mit Isa. Beide sind in hellbeige T-Shirts und kurze Hosen gekleidet - und wirken nicht nur sehr wohlgelaunt, sie sind es auch.

„So gut, Papa?” Christian breitet die Arme aus, nimmt dann Isa bei der Hand und dreht sie einmal um die eigene Achse, was sie lächelnd mitmacht. Malvoisin macht das Handzeichen “Spitze!”, worauf Tessa sich erst einmal keinen Reim machen kann.

„Hi, Krümel!” Dabei tätschelt Christian seiner Schwester den Kopf, was sie auf den Tod nicht ausstehen kann und mit „Hallo, Affe!” ihm einen deutlichen Magenstüber verpaßt. Er spielt mit einem „Uff!“ und leichter Körperkrümmung den Getroffenen, aber tatsächlich ist der Hieb an seinen blitzschnell gespannten Bauchmuskeln abgeprallt. Isa erinnert das irgendwie an die eigene Geschwisterliebe zu Hause. „Aber ein wirklich hübscher Krümel”, womit sie Tessa die Hand hinstreckt. „Ich bin Isa und Du bist sicher Christians Lieblingsschwester Tessa.”

„Da klappt’s den Tisch ’runter, hat er doch ’ne Neue!” Tessa ergreift die dargebotene Hand „Hallo!” und drückt sie fest. „Stimmt alles, bis auf ’Liebling’. Vielleicht in hundert Jahren oder wenn ich mal in Lappland wohne, möglichst weit weg.” „Na, so schlimm wird’s nicht sein, oder?” Isa sieht Christian fragend an. „Ach, sie übertreibt wieder maßlos, aber ich liebe sie trotzdem, die kleine Ziege” und damit nimmt er sie spielerisch in den Schwitzkasten. Ehe Malvoisin diesen Anfall von gezeigter Zuneigung unterbinden kann, kommt Maren dazu. Tessa wird mit einem Kniff in den Hintern schnell “freigelassen”. „Au, Du Doofi!” Tessa reibt sich die gekniffene Stelle, Christian erfährt Ermahnung durch einen deutlichen Blick seiner Mutter.

„Ach, ich sehe, wir haben Besuch. Mein Herr Sohn gibt sich die Ehre und wer äh …”

„Das ist Isa, Isa van Heelen, Mamà. - Isa, das ist meine Mutter”, beeilt sich Christian, die beiden einander vorzustellen.

Maren von Malvoisin kommt näher und reicht Isa die Hand, die sie ergreift.

„Guten Abend, gnädige Frau. Ich danke, daß ich in Ihrem Haus sein darf”, und diesen formvollendeten Gruß unterstreicht sie mit einer ebenso alten wie schönen Geste: sie macht einen Knicks. Christian staunt, Maren registriert mit Wohlgefallen die guten Manieren, Malvoisins rechte Augenbraue geht hoch und Tessa denkt sich: „Will die sich hier einschleimen?”

„Ich darf Sie herzlich bei uns willkommen heißen und Ihnen nun ein Abendbrot anbieten.” Unmerklich, dafür so entkleidend wie nur eine Mutter schauen kann, wenn es um ihren Sohn geht, der für neue Weiblichkeit interessant wird, unterzieht Maren Isa ihrem Prüfblick. Dabei zeigt sie ein gekonntes Wehe-ich-entdecke-etwas-Negatives-an-Dir-Lächeln. „Mein Mann und ich haben schon gegessen. Für Euch Drei ist in der Küche gedeckt.”

Darauf hat Christian nur gewartet. Er hat Hunger und zieht Isa mit sich. Tessa eilt ihnen nach, denn wenn Christian zulangt, bleibt nicht mehr viel übrig. „Sag’ mal, wer ist denn das?” Maren sieht ihren Mann verwundert an.

„Christians neueste Eroberung, was sonst.” Er zuckt mit den Achseln. „Bleibt über Nacht.”

„Ach, wie schön, dann fällt es morgen beim Frühstück nicht so auf, daß Karin fehlt” und setzt sich schmunzelnd neben ihn. „Du siehst, mein Herz, jede Situation hat ihre guten Seiten. Wir wissen, wo unsere Kinder sind, wir wissen, daß es ihnen gut geht, den beiden Großen wird es heute noch besonders gut gehen, und uns wird es gut gehen, wenn die kleinen Nachwuchsterroristen uns durchschlafen lassen. Was will man mehr.” Dabei summt sie leise fröhlich vor sich hin. Malvoisin wiegt nachdenklich den Kopf. Seine Maren hat ja so Recht. Und er wünscht sich so sehr, daß am nächsten Tag die Suche in Grömitz erfolgreich sein wird. John Doe muß seinen richtigen Namen bekommen.

In der Küche wird dem aufgetischten Abendessen gut zugesprochen, als Isa Tessa einen Vorschlag macht. „Was hältst Du von einem Mädchentag?” „Mädchentag?”

„Mädchentag!” „Ist hier ein Echo?”

„Wieso Mädchentag?” Christian fühlt sich ausgeladen.

„Bist Du ein Mädchen?”

„Seh’ ich so aus?”

„Eben, Du siehst nicht so aus, also mußt Du beim Mädchentag auch nicht mitreden.” Christian verzieht es die Mimik.

Damit wendet sich Isa wieder Tessa zu. „Hast Du Lust?” Eigentlich wollte Tessa ja diesen sagenhaften Martin suchen, aber ein Mädchentag wäre gar nicht so schlecht. „Darf Corinne mitkommen?”

„Ist das Deine Freundin?”

„Ja, vom Leuchtturm.”

„Oh, wie interessant. Natürlich darf sie mitkommen.”

„Aufpassen”, geht Christian dazwischen, „Corinne stibitzt Badehosen.”

„Ach ja? Das wird ja immer interessanter. Hat sie Deine auch schon mal …?”

„Sehe ich so aus?”

„Jaaa”, stellen Isa und Tessa im Duett fest und geben sich daraufhin lachend die Hand.

„Sehr witzig, Ihr Zwei” müffelt Christian und kaut etwas säuerlich weiter.

„Hast Du Angst morgen allein zu sein, Brüderchen? Kannst Dich doch mit Jan amüsieren. Wir Frauen wollen auch mal unter uns sein.” Tessa unterstreicht diese Feststellung mit einem sehr wichtigen Gesichtsausdruck und Isa denkt sich, „Die ist richtig.”

Christian hingegen kommt bei der Aufforderung, sich mit Jan zu amüsieren, leicht ins Schleudern, weiß er doch, daß Jan sich zur Abwechslung gern mal mit ihm amüsierte, trotz des wundervollen Angebots knackiger Mädchen. Er weiß einfach nicht, ob er dem nachgeben soll. Käme ihm damit ein anderer, der bekäme einfach nur die Fresse voll, aber Jan … Hielte das ihre Freundschaft aus, die ihm so viel bedeutet? Und wer, zum Donnerwetter, hat ihn bei der Bildhauerin so irre gut verwöhnt? Er hatte kein Parfüm wahrgenommen, aber mit den beiden Röhrchen in der Nase? Und dann das Zeug, mit dem er eingerieben worden war? Das roch so komisch, hat vielleicht alles andere überlagert. Grobe Hände hatten ihn nicht berührt, aber was heißt das schon. Jedenfalls hatte sich eine Person auf dem Anwesen befunden, die zumindest bei diesem meisterhaften Verwöhnen sich nicht zu erkennen gegeben hatte. Dafür gab es vermutlich einen triftigen Grund, aber welchen? Jan hätte es ihm doch hinterher triumphierend gestehen können, Kristin ist sicher nicht scheu und Sigrun? Könnte sie heimlich zurückgekommen sein? Sie hatte gut geduftet, als sie am Eingangstor an ihm vorbeigegangen war, Das würde er wiedererkannt haben. Wie Jan riecht hat er schon länger im System. Christian will unbedingt wissen, wer dieser heimliche Genußmensch war. Das muß doch …

„Hej, Christian! - Eh, Mann, wo bist Du mit Deinen Gedanken?”

„Was, wie?” Christian muß sich kurz besinnen. Ach ja, Mädchentag. Er ist ausgeladen. Amüsieren, mit Jan.

„Na ja, wenn Ihr meint, daß wir überflüssig sind, bitte.”

„Ach, wie süß, Seine Gnaden sind leicht irritiert und eingeschnappt, weil Seine Gnaden morgen nicht angesagt sind.” Isa hat einen leicht spitzen Ton aufgelegt. „Du wirst den eintägigen Thronverlust schon überstehen, und danach macht die erneute Thronbesteigung umso mehr Spaß”, wobei ihn Isa vielsagend angrient. Doch in diesem Moment steht Christian auf der Leitung. Er überlegt schon, was er mache könnte, sollte Jan seine Stella nicht an den Mädchentag verlieren, sondern volles Programm haben. Notfalls könnte er einfach nur faul sein oder wenigstens mit Siggi nackt schwimmen gehen, aber wenn der auch nicht käme? Ob Krystyna Zeit hätte?

*

Die beiden afrikanischen Jungen sehen sich wortlos an. Ihnen ist nicht mehr so ganz wohl. Sie können nicht einschätzen wo sie wirklich sind, noch wissen sie, was man mit ihnen vorhat. Und plötzlich halten sie sich beide an der Hand, Paul und Arga, was bei den sie begleitenden Männern ein böses Grinsen auslöst, aber sie sagen nichts. Die Jungen sehen sich um, versuchen jeder für sich herauszufinden, wo sie sich befinden, was für ein Haus das ist, in dem sie gar keine anderen Jungen oder Mädchen ihres Alters entdecken können.

Plötzlich bleiben die Männer vor einer Tür stehen, die geöffnet wird. Den Jungen wird bedeutet, sie sollen hineingehen. Sie treten ein, sehen sich um, als ihnen mit Körperberührung gesagt wird:

„Take your clothes off. You’ll take a shower now.” Paul und Arga sehen sich fragend an.

„Hurry up”, werden sie ermahnt. „We ain’t got time all night.” Ihnen wird entschieden angesagt, daß sie sich entkleiden und dann duschen sollen. Das Bad ist recht groß und hat an einer Seite zwei offene Duschen. „Here you have shower lotion, and there are clean towels for each of you.”

Paul öffnet eine der Duschgelflaschen und riecht daran. „Hhm, smells good” und damit nickt er Arga zu. Im Grunde genommen ist es beiden hochwillkommen sich endlich waschen zu können nach der langen Fahrt und nachdem Paul beginnt, sich auszuziehen, macht Arga es ihm nach. Als die beiden Männer die abgelegte Kleidung an sich genommen haben, meint einer:

„Sieh Dir diese jungen Esel an. Da ist gut eingekauft worden. Die werden Höchstpreise bringen.” Mit einem bösen Grinsen verlassen beide das Bad und schließen von außen ab. Die Jungen sehen sich an, haben nichts verstanden und die Sprachmelodie gefällt ihnen nicht, doch die aufkommende Angst wird zunächst von ihrem Reinlichkeitsbedürfnis überlagert. Paul betrachtet die Duschen und beginnt, das Wasser aufzudrehen. Es kommt eine kalte Dusche auf ihn herunter und er schreit vor Schreck auf, lacht dann über sich selbst, und dann hat er heraus wie es geht, dreht für Arga die andere Dusche auf, und beide beginnen, sich gründlich einzuseifen. Sie ahnen nicht, daß sie dabei beobachtet werden, mit abschätzenden, gierigen Blicken.

„Habe ich Ihnen zu viel versprochen, meine verehrten Gäste? Sehen Sie sich diesen wunderbaren afrikanischen Import an. Perfekte junge Körper, beide jungfräulich, erste Qualität.”

Auf einem großen Flachbildschirm sind die ahnungslosen Jungen zu sehen, wie sie sich intensiv waschen, plötzlich zu scherzen beginnen und beim Lachen ihre prachtvoll weißen Zähnen zeigen, neben all ihren körperlichen Vorzügen, die nun taxiert werden.

„Es geht zunächst um Paul, das ist der Junge unter der linken Dusche. Wer steigt ein bei fünftausend €uro?”

„Fünftausend!”

„Danke für Ihr Gebot. Wer bietet mehr?”

„Sechstausend.”

„Danke. Höre ich siebentausend?”

„Siebentausend.”

„Höre ich achttausend?”

„Achttausend.”

„Zehntausend!”

„Danke sehr. Sie kennen Qualität.”

„Zwölftausend!” Hinter einer roten Maske funkeln zwei blaue Augen.

„Fünfzehntausend!” Hinter einer schwarzen Maske “erstechen” zwei braune Augen den Mitbieter.

„Sechzehntausend!”

Die ausgestiegenen Mitbieter sehen sich hinter ihren Masken an.

„Zwanzigtausend!”

Der hinter einer blauen Maske verborgene Versteigerer ist begeistert. „Das läuft ja besser als ich dachte.”

Die Rote Maske läßt Paul mit einer “großzügigen” Handbewegung fahren. Sie wird Arga für 15.000 €uro “kaufen”.

Die ahnungslos unter der Dusche miteinander scherzenden Jungen ahnen nichts von dem bösen Spiel reicher Päderasten. Sie sind gerade nur zwei Fünfzehnjährige, die bei der Körperpflege für den Moment vergessen haben, daß sie noch kurz zuvor eine instinktive Angst beschlichen hatte.

Die Versteigerung ist beendet. Der Bildschirm wird abgeschaltet.

„Verehrte Gäste. Ich darf Sie in den Blauen Salon bitten. Es sind wie immer exquisite Speisen aufgetragen. Heute abend werden Sie zu den kulinarischen Genüssen von Sajeed und Sijai mit ihren göttlichen Körpern unterhalten werden. Und zum Abschluß liegen die Würfel bereit.”

Die Masken stehen auf und beginnen, den Raum zu verlassen. Die Grüne murmelt: „Wer wohl heute …?”

“Hatten Sie die beiden Inder nicht schon dreimal? Halten Sie sich heute mal zurück”, zischt ihn die Goldene an.

„Sind Sie neidisch, mein Guter?” Ein spöttisches Grinsen untermalt die Frage. „Sie können sich doch den süßen Martin bestellen, ehe er als Lustknabe nach Arabien verkauft wird. Letzte Gelegenheit, mein Bester, diesen jungen Hengst zu reiten, und dann: Farewell für immer.” Mit einem gespielten Abschiedwinken und häßlichen Lachen klopft er der Grünen Maske auf die Schulter.

*

Leiche 21

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