Читать книгу Es begann in der Abbey Road - George Martin - Страница 9

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Mal wieder hatte mein musikalischer Pate seine Beziehungen spielen lassen. Allerdings konnte ich das nicht ahnen, als ich das Fahrrad außerhalb des großen, alten weißen Gebäudes in der Abbey Road abstellte, das man zu den EMI-Studios umgebaut hatte.

Oscar Preuss verfügte über ein geräumiges, anheimelndes Büro, das im Eingangsbereich des Hauses lag. In dem mit einem dicken Teppich ausgelegtem Raum befanden sich ein Kamin, gemütliche Sessel und ein imposanter Flügel. Preuss saß an einem alten, stattlichen Sekretär, der in der Ecke beim Fenster stand, direkt gegenüber seiner Bürokraft, einem jungen und attraktiven Mädchen, das sich äußerst reserviert gab – zumindest, was mich anbelangte.

Ich fragte ihn zuerst, wie er von mir erfahren habe.

„Ich suche schon eine ganze Weile einen Assistenten“, antwortete er. „Ich sprach mit einem hier angestellten Kollegen darüber, Victor Carne, und fragte ihn nach einer adäquaten Person. Aus dem Stegreif heraus kannte er niemanden, wollte sich aber umhören.“

Wie sich herausstellte war Carne ein guter Freund von Sidney Harrison, und als er diesen fragte, lag Sidneys Antwort auf der Hand: „Ich kenne da so einen jungen Mann, der gerade die Ausbildung in Guildhall abgeschlossen hat. Er heißt George Martin.“ Und so erzählte Victor – ein guter Freund von Gigli und zuständig für beinahe alle operativen Aufgaben der EMI – Oscar von mir, und Oscar offerierte mir die Anstellung mit der königlichen Bezahlung von wöchentlich 7 £, 4 Schilling und 3 Pence, was exakt 1 £, 8 Schilling und 10 Pence über meinem Stipendium lag.

Oscar war der Geschäftsführer der Parlophone, eines der zahlreichen Labels (dazu zählten auch HMV, Columbia und Regal Zonophone) unter der Schirmherrschaft der EMI. All diese Labels existierten schon vor dem Krieg, doch im Laufe der Zeit mussten einige von ihnen zur Unterstützung der verbleibenden verkauft werden. Parlophone litt am meisten darunter. Ursprünglich stammte es aus Deutschland und veröffentlichte Musik des Lindström-Katalogs. Das Markenzeichen, das viele Leute für ein stilisiertes £-Emblem halten, ist tatsächlich ein deutsches L. Fast alle Top-Interpreten von Oscar, wie zum Beispiel Victor Sylvester und Rawicz und Landauer, wurden von Parlophone nach Columbia „verschoben“. Das Label stand kurz vor dem Aus, doch nun, 1950, versuchte Oscar es wieder von Grund auf aufzubauen. Trotzdem schwächelte es noch.

Oscar ließ nichts unversucht und arbeitete hart. Er war Administrator und produzierte gleichzeitig alle Platten. Das Label war quasi eine Einmannband, die aber das komplette musikalische Spektrum bereiste – klassische Einspielungen, Jazz, Easy Listening, Songs, Klaviermusik und Tanzmusik mit Interpreten wie Ivor Moreton und Dave Kaye, Billy Thorburns Organ, Dance Band, And Me und gelegentlichen Platten der Comedy wie The Laughing Policeman.

Es war klar, dass Oscar mit solch einem Arbeitspensum vor sich einen Assistenten benötigte, den er gnadenlos ins kalte Wasser warf. Mit meinem Background setzte man mich als 12-Inch-Mann ein, eine Referenz an die alten Schellackplatten der damaligen Zeit, bei denen Populärmusik im 10-Inch-Format und Klassik im 12-Inch-Format veröffentlicht wurde. „Gut“, meinte Oscar. „Du wirst dich zuallererst um die Klassik kümmern.“ Ich schätze mal, dass für ihn die Entscheidung logisch war, da ich nun mal von der Klassik kam.

Ich betreute zuerst eine Gruppe Musiker, um genau zu sein, das London Baroque Ensemble mit dem Dirigenten Dr. Karl Haas. Dr. Haas war ein liebenswürdiger alter Mann, mit einem Doktortitel in Musikwissenschaft. Im Krieg hatte er sehr gelitten, und auch damals ging es ihm nicht gut. Darüber hinaus war er ständig pleite. Doch wenn er mal über Geld verfügte, kaufte er für mich Geschenke wie eine Schachtel Likör-Pralinen oder lud mich sogar zum Essen ein. Er lieh sich von einer Person Geld, um einem anderen Menschen Geschenke zu machen, und drehte das Spielchen dann wahrscheinlich um und borgte sich von dem Beschenkten Geld, um dem ursprünglichen Geldgeber etwas mitzubringen.

Seine Großzügigkeit wurde nur noch von dem Problem übertroffen, das durch seinen Namen verursacht werden konnte. Ich erinnere mich an einen Besuch in unserem Büro. Der Mann vom Empfang kam zu uns und fragte ungläubig: „Mr. Preuss, draußen wartet ein Mann, der sich Mr. Arse3 nennt. Mr. Arse! Kann das denn sein? Wirklich Mr. Arse?“ Wunderbar, was die Phonetik mit Namen anstellt – oder auch grauenvoll!

Der gute Doktor agierte eher wie ein Musikwissenschaftler als wie ein großartiger Dirigent und hatte ein beeindruckendes Wissen über die Musik des Barock, und das zu einer Zeit, als diese Epoche nicht in Mode war. Er überzeugte Oscar, mit seinen Musikern Stücke des Barock zu vertonen. Er stellte sein Ensemble aus den angesehensten Instrumentalisten Londons zusammen, die hauptsächlich im Studio spielten, obwohl sie sich zu gelegentlichen Konzerten hinreißen ließen. Es waren größtenteils Vertreter der Holzblasinstrumente. Ich – ein eher durchschnittlicher Oboist – empfand es als eine große Ehre und faszinierend, Musiker von der Größe eines Frederick Thurston an der Klarinette, Dennis Brain am Horn oder Jack Brymer, Terence MacDonagh und Geoffrey Gilbert aufnehmen zu dürfen.

Wir zeichneten Stücke wie zum Beispiel Dvoˇráks Bläserserenade, Mozart-Serenaden, viele Kompositionen von Bach und Märsche von Beethoven auf: Werke, die heute sehr beliebt sind, doch die damals kaum jemand kannte. Die Aufnahmen wurden natürlich in Mono gemacht, da Stereo noch nicht existierte, aber ich bin immer noch stolz auf unsere Leistungen. Wenn wir Streichquartette einsetzten, wurden sie unweigerlich von Jean Pougnet geleitet, einem charmanten Berg von einem Mann. Seine bevorzugte Freizeitbeschäftigung lag im Holzhacken auf seinem Anwesen auf dem Lande. Sah man die großen, prankenartigen Hände, war es schier unvorstellbar, dass er seiner Geige damit solch hauchzarte und wunderschöne Klänge entlocken konnte.

Abgesehen von dem Genuss, Holzblasinstrumente von Koryphäen gespielt zu hören, lernte ich bei diesen Sessions wichtige Elemente der Aufnahmetechnik. Durch eine behutsame Platzierung der einzelnen Instrumente im Raum war es möglich, das Ganze mit nur einem Mikrofon mitzuschneiden. Die natürliche Akustik des Studios verlieh den Aufnahmen einen hervorragenden Klang. Um einen möglichst natürlichen Sound zu gewährleisten, sollte man so wenig Mikros wie möglich einsetzen, ein Prinzip, von dem ich glaube, dass es heute noch gilt.

Als das Ensemble in voller Blüte stand, ging Dr. Haas eines Tages zu einer Party. Dort traf er Peter Ustinov, der damals als Beitrag zu den Festivitäten Imitationen von Opernsängern aufführte. Dr. Haas erfuhr, dass Ustinov nicht nur die Musik des Barock schätzte, sondern auch über ein umfangreiches Wissen zu dem Thema verfügte. So entschloss er sich zur Gründung der London Baroque Society und lud Peter ein, den Vorsitz zu übernehmen. Karl bekleidete den Posten des Dirigenten, ich den des Sekretärs – und schon war sie geboren, die London Baroque Society, mit nur drei Mitgliedern. Wir trafen uns ungezwungen in den Abbey Road Studios, aßen gemeinsam zu Mittag, unterhielten uns über Musik allgemein und entschieden uns, was das Ensemble als Nächstes aufnehmen wird. Ich muss schon sagen – uns umgab eine bestimmte Eleganz des 18. Jahrhunderts! Und so lernte ich Ustinov kennen, den ich später aufnahm.

Als ich 1950 zur EMI kam, eröffnete sich mir eine Welt, die von einigen Kontroversen gekennzeichnet war. Die CBS USA hatte Langspielplatten auf den Markt gebracht, und im Juni des Jahres veröffentlichten Decca ihren ersten Longplayer. Doch die einflussreichen Anzugträger der EMI hatten nicht den Weitblick, dass dieses Medium einen revolutionären Prozess ins Rollen brachte, der sich auf den Aufnahmeprozess auswirken sollte. Sie vertraten die Auffassung, dass sich jeder bei einem aus damaliger Sicht überlangen Tonträger langweilen werde, dass das Format zu teuer sei und dass sie ganz zufrieden mit den 78er-Singles seien.

Ich konnte die Einstellung nicht verstehen. Ich produzierte Klassik, und nichts war ärgerlicher, als die Musik in winzige „Fischgräten-dünne“ Stückchen mit einer Laufzeit von jeweils 4:30 Minuten zu sezieren. Ständig musste ich mich mit der Problematik auseinandersetzen, die Partitur gewissenhaft durchzuarbeiten und mich für den idealen Punkt einer Unterbrechung zu entscheiden. Allerdings fiel das oft mehr oder weniger willkürlich aus, und manchmal war ich gezwungen, den Schnitt mitten in einem Satz zu machen. Wenn ich keine ursprünglich vom Komponisten vorgesehene Pause in der Musik fand, musste ich die zweite Seite mit dem letzten Akkord der ersten Seite beginnen, denn sonst wäre ein eigenartiger Höreindruck erstanden. Das war absurd, aber es bot sich keine Alternative, denn durch die rein technischen Einschränkungen durfte eine Seite höchstens eine Spielzeit von 4:45 Minuten haben. Verschiedene Produzenten setzten beim selben Stück unterschiedliche Schnitte, abhängig vom Tempo, das der Dirigent den Musikern vorgab. Mich faszinierte der Vergleich, wo die anderen Tontechniker denn nun ihren Schnittpunkt ansetzten.

Es machte Spaß, wirkte sich allerdings negativ auf das Geschäft aus. Trotz der gebotenen Eile veröffentlichte die EMI eine Erklärung, in der sie bei einem möglichen Formatwechsel eine mindestens sechsmonatige Vorlaufzeit einräumte. Sir Ernest Fisk war für die katastrophale Entscheidung verantwortlich. Ich wähle den Begriff „katastrophal“, denn die Firma verlor ganze zwei Jahre. Meiner Ansicht nach lag in dieser Fehlentscheidung ein fundamentaler Grund für den Verlust des Repertoires von Columbia Records in den USA. 1953 musste die EMI den Katalog des Sub-Labels an Phillips abtreten, und 1957 verkauften die Manager RCA-Victor an Decca, und das nach einer 75-jährigen Zusammenarbeit. Sir Ernest Fisk war ein Australier, der nichts so sehr liebte wie eine Fahrradfahrt um den Hyde Park. Er wird als Vorsitzender der Geschäftsführung in die Firmengeschichte eingehen, der den Einstieg der EMI in den Langspielplattenmarkt verzögerte – Fahrrad hin oder her.

Eine Episode wird wahrscheinlich nicht in die Geschichte eingehen. Es ist der Tag, an dem mir beinahe gekündigt wurde. Ich wusste nicht, wie er aussieht, da der gute Mann in der Geschäftszentrale in Hayes arbeitete. Ich arbeitete mit einem Chor im Studio 1 in der Abbey Road, in dem eine große Orgel stand. Der Organist kam zu spät, ließ also mich, die Tontechniker und den kompletten Chor warten.

Ich hatte den Musiker noch nie gesehen. Um 10.20 Uhr, als die Session schon im vollen Gang sein sollte, ging ich nach oben und wartete auf die Ankunft des unbekannten Musikers. Ein Mann mit einer Halbglatze, gekleidet in einen schwarzen Mantel und eine Nadelstreifenhose, der einen Instrumentenkoffer trug, betrat das Gebäude.

Wütend ging ich auf ihn zu und meinte: „Es wird auch verdammt noch mal Zeit. Ist Ihnen überhaupt klar, dass wir auf Sie warten mussten? Wir warten schon seit gestrichenen 20 Minuten.“

„Wovon reden Sie überhaupt?“, fragte er mich.

„Sie wissen wohl am besten, was ich meine. Die Aufnahme sollte um Punkt 10 Uhr beginnen, und Sie lassen uns hier hängen.“

„Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“, fragte er mit eiskalter Stimme.

Plötzlich tauchte ein schrecklicher Zweifel im hinteren Teil des Martin-Gehirns auf und zwickte mich. „Aber sicher – Sie sind der Organist … oder etwa nicht?“

„Nein, ich bin nicht der Organist. Ich heiße Fisk, und ich bin der Geschäftsführer dieser Firma.“

Gespenstische Stille. Hatte ich eine aussichtsreiche Zukunft verspielt? Ich entschuldigte mich unterwürfig und versuchte zwischen den Paneelen in den Boden zu versinken. Hoffentlich merkte er sich bloß nicht meinen Namen! Die nächsten Tage verbrachte ich in ständiger Furcht und Angst, da ich mich ihm gegenüber mehr als ungehörig verhalten hatte. Glücklicherweise gab es kein Nachspiel, wofür ich dem guten Mann wohl dankbar sein muss.

Der oberste Manager der Firmengruppe war ein vollkommen unterschiedlicher Charakter, den man den Spitznamen „der japanische General“ gegeben hatte. Gespräche mit ihm bestanden im Extremfall in wenigen Silben. Ich wechselte kaum ein Wort mit ihm, da Oscar für die direkte Kommunikation mit „Gott“ zuständig war, doch ich nahm des Öfteren seine Anrufe entgegen, bei denen er sich mit einem simplen „Mitell hier“ meldete. Danach herrschte Stille, eine Stille, die eine dringliche Aufforderung zum Sprechen ausdrückt. Und so redete man wenige Worte. Es folgte wieder eine lange Pause. Der Mann sprach einfach kein Wort zu viel.

Obwohl die Plattenlabels zu der Zeit einen großen Teil der Einnahmen für die EMI erwirtschafteten, wurde die Unterhaltungsindustrie meiner Meinung nach von der Geschäftsführung argwöhnisch beäugt. Vermutlich hätten sie lieber Fahrräder als Schallplatten produziert. Ich glaube auch, dass sie die hohen Kosten der Umstellung auf die Produktion von LPs fürchteten. Allerdings hatten sie keine Entschuldigung, nichts über den potentiellen Marktwert zu wissen, denn jeder wies sie darauf hin – Oscar, Leonard Smith und Norman Newell vom Pop-Segment der Columbia und Walter Legge, der für die Klassik Columbias verantwortlich zeichnete.

Damals konnte Walter Legge als die Primadonna der Welt der Klassik bezeichnet werden. Er war mit Elisabeth Schwarzkopf verheiratet und engagierte sich für den Unterhalt des originalen Philharmonia Orchestra, was ihm ganz offensichtlich nicht schadete. Schwarzkopf und das Orchester waren nur zwei der vielen Künstler und Ensembles, die unter seiner Leitung produzierten. Er war ein typischer Einzelgänger. Ich verehrte Legge, da er einen Hauch frischen Windes in die damals knochentrockene und gruftähnliche Struktur der EMI brachte.

Doch ein Oscar Preuss war nicht weniger außergewöhnlich. Als ich zu ihm stieß, muss er um die 60 gewesen sein. Er hatte die berufliche Laufbahn als Tontechniker-Lehrling im Alter von 14 oder 15 Jahren begonnen, also kurz nachdem Edison den Startschuss für eine technologische Revolution gab. Er fertigte sogar noch die Membran und die Nadeln für die ersten Grammophone an, darunter sogar noch die Zylinder-Maschinen. Damals musste sich der Tontechniker, der die Aufnahme leitete, noch sein Equipment selbst anfertigen. Über die Jahre hatte er die Karriereleier erklommen, bis er schließlich Parlophone vorsaß und auf einen riesigen Erfahrungsschatz zurückblicken konnte.

Während des ersten Arbeitsmonats bestand meine Aufgabe darin, Oscar auf Schritt und Tritt zu folgen und so viel wie möglich von ihm zu lernen. Nach einer Weile übertrug er mir kleinere Aufgaben. Er fragte mich: „George, vielleicht bin ich morgen nicht pünktlich im Büro. Könntest du bitte mit den Aufnahmen beginnen?“ Und ich war pünktlich vor Ort und organisierte die Tontechniker und die Musiker, sodass wir die erste Aufnahme schon „im Kasten“ hatten, bevor Oscar herein gestürmt kam und kommentierte: „Das ist überhaupt noch nicht gut. Da müssen wir was anderes versuchen.“ Es kostete einiges an Überwindung, mich bei den Musikern vorzustellen und sie zu informieren, dass ich mehr oder weniger die Verantwortung trug. Ich hege keine Zweifel, dass sie mich anfänglich als einen Grünschnabel betrachteten, doch mir war die Autorität übertragen worden (wenn auch nicht das Gehalt), und somit mussten sie mich tolerieren.

Die wohl beängstigendste Aufnahme-Session war meine erstmalige Arbeit mit Sidney Torch und dem Queen’s Hall Light Orchestra. Ich arbeitete im Studio 1 in der Abbey Road, im Grunde genommen fast schon eine Kathedrale mit den Ausmaßen von geschätzten 2.000 Quadratmetern. Sogar mit der guten, alten Compton-Kirchenorgel noch an ihrem Platz (auf der Fats Waller seine einzigen Orgel-Aufnahmen machte) war der Raum riesengroß. Oscar hatte mir gesagt, dass er erst ab 11 Uhr da sein werde, also eine Stunde nach Aufnahmebeginn. Ich glaube, dass es ein beabsichtigter Schachzug von ihm war, um zu prüfen, wie ich mich schlage. Hautsächlich erinnere ich mich an die lange Wegstrecke durch den scheinbar endlosen Raum und durch das versammelte 45-köpfige Orchester, bis ich endlich vor Sidney Torch stand, der auf seinem Dirigentenpodest thronte. Ein Schlagmann beim Kricket fühlt sich wahrscheinlich ähnlich, wenn er zur Spielfeldlinie auf dem Platz in Lords schreitet.

„Guten Morgen, Mr. Torch“, quietschte ich mit einer piepsigen Stimme. „Mein Name ist George Martin. Ich bin Oscars Assistent und werde mit den Aufnahmen beginnen.“

Ich machte mir vor Angst fast in die Hose, da ich wegen des Reflexes auf meine Unsicherheit offensichtlich ein wenig albern und unbedarft aufgetreten war, doch Sidney blieb nett und gelassen. Er lächelte wohlwollend, erklärte, das sei schon in Ordnung, und gab mir mehr oder weniger zu verstehen, dass er mich unbehelligt lassen würde, wenn ich ihm nicht in seine Arbeit pfuschte.

Nach der ersten Begegnung kamen wir gut miteinander aus. Allerdings wurde er in kritischen Situationen äußerst jähzornig. Ich habe ihn dabei beobachtet – wenn das Orchester nicht seine Vorstellungen umsetzte – wie er den Taktstock durch den ganzen Raum schleuderte (und das ist ein sehr weiter Wurf). Dabei schrie er: „Herrgott noch mal, Gentlemen. Nun spielen Sie es doch endlich richtig!“

Ich musste schnell lernen und lernte aus meinen Fehlern. Einen der ersten Schnitzer leistete ich mir 1950, also schon zu Anfang meiner Anstellung. Man schickte mich in ein Lichtspielhaus, um mir einen Film anzusehen, in dem Mario Lanza das Thema „Be My Love“ sang. Immer noch stark von der Klassik geprägt, empfand ich den Gesang des Mannes als Beleidigung durch und durch. Er behandelte die Melodie mit roher Gewalt und Ignoranz. Ich verabscheute jede Sekunde und verfasste daraufhin einen gehässigen Bericht, der aus der Feder eines Musikkritikers hätte stammen können, der alles von einer erhobenen, avantgardistischen Warte aus analysiert. Ich kritisierte das Stück als einen kitschigen und bis ins letzte kalkulierten Song, in dem jedes nur erdenkliche Klischee verwendet wird.

Und so kümmerten wir uns nicht weiter um diese Nummer. Doch in meinem jugendlichen Leichtsinn hatte ich die auf der Hand liegende Möglichkeit übersehen, dass aus dem Stück ein Hit werden konnte. Und genau das geschah natürlich.

Ich musste weiteres Lehrgeld bezahlen, als Oscar mich mit der Leitung von Jazz-Sessions beauftragte, zusätzlich zu den Klassik- und Easy-Listening-Aufnahmen. Ich begutachtete eine Plattenaufnahme von Humphrey Lytteltons Formation. Sie spielten einige Stücke, wobei ich speziell dem Bassisten kritisch zuhörte. Scheinbar erzeugte er mit seinem Instrument nur ein dumpfes Ploppen.

Ich beobachtete den Musiker noch etwas länger und fragte ihn dann: „Könnten Sie die Noten nicht etwas deutlicher spielen?“

Nach einer kurzen Pause reagierte der schockierte Mann und schleuderte mir eine nicht druckfähige Antwort ins Gesicht. Die Essenz seiner Meinung bestand jedenfalls im Vorwurf, dass ich keine Ahnung von den damals modernen Spieltechniken des Kontrabasses hätte – was sogar stimmte.

Unbeeindruckt versuchte ich ihm meine Empfindung zu vermitteln: „Es klingt so, als würden Sie mit Boxhandschuhen spielen.“

Ich lag nicht falsch, doch in dem Moment explodierte Humph. Er beschimpfte mich mit Ausdrücken, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte, und rannte wutentbrannt aus dem Studio.

Es war klar – jetzt brauchte ich Hilfe von höchster Stelle. Ich suchte Oscar in seinem Büro auf und erzählte ihm von dem Vorfall, was zu einer weiteren Explosion führte. Oscar schrie: „Du gehst jetzt sofort, holst Humph um alles in der Welt wieder ins Studio zurück und entschuldigst dich bei allen Anwesenden“, befahl er mir. Und dann drehte er sozusagen das Messer um, das in meiner Brust steckte: „Wenn du uns Humph vergrault hast, kannst du deinen Hut nehmen.“

Außerhalb des Gebäudes fand ich den hochgradig verärgerten Künstler, der die Straße auf und ab stampfte. Ich biss in den sauren Apfel, entschuldigte mich bei ihm für mein dummes und ungebührliches Verhalten und überzeugte ihn letztendlich, die Session weiterzuführen. Damit – aber das verriet ich ihm damals nicht – war der Job wieder gesichert.

Später entwickelte sich zwischen Humph und mir eine innige Freundschaft. Gemeinsam produzierten wir viele Platten, wie zum Beispiel „Bad Penny Blues“. Ich hatte die Lektion gelernt. Aus musikalischer Sicht hatte ich recht gehabt, doch nicht diplomatisch reagiert. Sine qua non – ein taktvolles Verhalten ist die unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit eines Plattenproduzenten. Es ist eine schwierige Gratwanderung. Man darf sich nicht jeder kleinsten Laune eines Künstlers unterwerfen, aber auch selbst nicht zu unbedarft und massiv auftreten. Ich musste eine geeignete Umgangsform erlernen, um dem Musiker Fehler aufzuzeigen, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Man sollte führen, aber durfte auf gar keinen Fall Druck ausüben. Damals, wie auch heute, war die psychologische Feinfühligkeit das bedeutendste Charakteristikum eines Plattenproduzenten.

Eine weitere, wenn auch weniger bedeutende Eigenschaft ist die Trinkfestigkeit. Sie wurde besonders gefordert, wenn ich mit schottischen Künstlern arbeitete. Parlophone hatte sich auf diesem Markt etabliert. Es war das Plattenlabel in Schottland und veröffentlichte Reels, Jigs und ähnliche folkloristische Musik. Oscar leitete für gewöhnlich die Sessions mit Robert Wilson. Auch standen bei uns die Akkordeonisten Mickey Ainsworth und Jimmy Blue unter Vertrag, und ich musste nach Schottland reisen, um sie aufzunehmen.

Die beiden waren leidenschaftliche Whiskey-Trinker. Wir begannen die Aufnahmen um 10 Uhr morgens, und schon nach eineinhalb Stunden meinten die beiden betrübt: „Wir arbeiten so hart, dass uns der Durst plagt, George. Lass uns uns doch kurz einen genehmigen.“ Und so ließen wir alles stehen und liegen und begaben uns in die Bar an der Ecke. (In Schottland gibt es an jeder Ecke eine Bar.) Dort bestellten sich die beiden ihre „Erfrischungen“, immer doppelte, hochprozentige Whiskeys.

Johnny Walker oder Bell waren verpönt. Es war wohl Pride of Methlane oder eine andere unbekannte Marke mit dem Effekt reinen Feuerwassers. Ich konnte mich nicht vor den Umtrunken drücken, bei denen sich die beiden die Drinks hinter die Binde kippten, ähnlich Desperados in einem stilechten Western. Stand ein Glas erst mal vor ihnen, wurde es augenblicklich runtergekippt und sofort mit einer dringenden Bitte zum Barmann zurückgeschoben: „Ach, bitte noch einen.“

Doch was mich am meisten verblüffte – der Alkohol schien ihnen nichts anhaben zu können. Sie tranken während einer Session jeder eine halbe Flasche, wodurch ihre Finger noch schneller über die Tastatur des Akkordeons flitzen. Diese Fähigkeit stellte ich auch bei Annie Shand fest, einer Pianistin mit einer kleinen Band in Aberdeen. Ich nahm sie im dortigen Theater auf. Ungefähr zur Mitte der Aufnahmen hielt sie plötzlich inne, kramte in der Handtasche und zog eine große Whiskeyflasche heraus. „Möchte hier einer ’nen heißen Schluck?“, fragte sie beim Abschrauben des Verschlusses ihres Medizinfläschchens. „Heiß“ bedeutete in dem Fall, einen großen Schluck, der dem Format ihrer Handtasche nahezu gleichkam, die sie offensichtlich als persönliche Bar bei sich trug. In Annies Leben zählte der Whiskey zu den Grundnahrungsmitteln.

Mal abgesehen von diesen Künstlern, die ich eher als Leichtgewichte bezeichnen möchte, hatten wir den großartigen Jimmy Shand (nicht mit Annie verwandt) unter Vertrag. Ich arbeitete häufig mit ihm und wurde mit schottischer Musik regelrecht „geimpft“, wogegen man sich gar nicht wehren konnte. Damals feierte schottische Tanzmusik in Großbritannien einen Erfolg nach dem anderen, und Jimmy wäre es beinahe gelungen, mich für die Musik zu begeistern. Jedes Mal, wenn ich zu ihm reiste, nahmen wir ungefähr 48 Titel auf – 12 oder 14 täglich – was dem Vorrat für ein Jahr entsprach, in dem wir sie nach und nach auf den Markt brachten.

Jimmy war ein schüchterner und zurückhaltender Mensch – und, was ungewöhnlich für einen schottischen Musiker ist, abstinent –, der mit einem starken, pfeifenden Akzent sprach. Ich würde ihn als sehr höflich beschreiben, obwohl er Menschen generell misstraute, was aber möglicherweise an dem generellen Argwohn der Schotten gegenüber „Fremden“ lag. Allerdings teilten wir eine Gemeinsamkeit. Ich hatte mir gerade mein erstes motorisiertes Vehikel zugelegt, eine alte Ariel VB 600 mit einem Seitenmotor und einem Beiwagen. Wie sich herausstellte, mochte Jimmy, dem alles Technische eine Riesenfreude bereitete, besonders Motorräder – und das mit einer beispiellosen Leidenschaft. Er besaß eine alte, zerbeulte Maschine, die er mit viel Liebe pflegte. Seine Lieblingsbeschäftigung, mal abgesehen von seiner Musik, die er sehr wichtig nahm, bestand darin, auf dem Motorrad mit einer Geschwindigkeit von vielleicht 90 Meilen die Stunde durch die ländlichen Gefilde Schottlands zu flitzen, dabei die Mütze tief ins Gesicht gezogen.

Dann gab es noch unseren „lateinamerikanischen“ Schotten Roberto Inglez, der tatsächlich Bob Ingles hieß. Er hatte seine Lektionen gelernt und war der umsatzstärkste Interpret des Latin in Lateinamerika! Er spielte „Einfinger-Piano“ (wie wir es scherzhafterweise nannten) vornehmlich auf den tiefen Tönen und achtete stets auf luxuriöse Orchestrierungen, die im Vergleich zu Edmundo Ross geschickter gesetzt waren, aber auch kitschiger klangen. Er setzte Streicher ein, ja sogar ein Horn, welches Dennis Brain für ihn einspielte.

Seine exotische Tarnung hätte nicht besser sein können. Eines Tages spielte er im Studio 2, als uns einige Vertreterinnen besuchten, die einen Eindruck von der Plattenproduktion gewinnen wollten. Sie standen mit offenen Augen und Mündern im Regieraum, als Bobs Stimme mit einem starken Glasgower Akzent über das Raummikro erklang.

„Oh“, meinte eins der Mädchen erstaunt. „Das ist ja tatsächlich ein Ausländer, nicht wahr?“

Bob gehörte zu den ersten Künstlern, deren Platten ich „pflanzen“ wollte – zumindest versuchte ich das. Oscar hatte sich entschieden, dass das ein Teil meiner Ausbildung sei. Ich musste also die Platte bewerben, was bedeutete, die BBC zu besuchen, damit sie dort gespielt wurde. Es wurde leider kein atemberaubender Erfolg. Ich schnappte mir eine von Bobs Platten und traf mich mit Jack Jackson, der sie in seiner Saturday Night Show spielen sollte, der Sendung mit Tiddles the Cat. Er zeigte sich sehr zuvorkommend, aber unbeeindruckt von meinen Überzeugungsversuchen. „Bringen Sie mir doch Platten von Guy Mitchell, Mitch Miller oder ähnlichen Interpreten. Das interessiert mich.“ Ärgerlicherweise konnte ich ihm keine vergleichbaren Künstler anbieten.

„Sehen Sie mal, mein Sohn“, erklärte er mit nachgiebiger Stimme. „Ich möchte mich Ihnen gegenüber nicht unhöflich verhalten. Wenn Sie mir eine für mein Programm passende Platte bringen, werde ich sie gerne vorstellen. Aber Roberto Inglez! Na, hören Sie mal …!“

Ich war am Boden zerstört.

Godfrey Winn war einer der Männer, die meine Platten in ihrer Sendung spielten, und zwar bei Housewives’ Choice. Über die Zeit entwickelte sich zwischen uns eine angenehme Beziehung. Eines Tages lud ich ihn zum Mittagessen in ein nobles Restaurant in der Ebury Street ein. Zuvor hatte ich mir 5 £ Spesen geben lassen. Wie üblich fuhr ich mit dem Motorrad zum Treffpunkt, um die Taxikosten zu sparen.

Nach der Mahlzeit bot er mir an, mich in seiner Edelkarosse, ich glaube, es war ein Bentley oder ein anderes Gefährt gleichen Kalibers, zum Studio zurückzubringen. Was sollte ich jetzt bloß machen? Ich hatte, ohne mit der Mine zu zucken, die 5 £ hingeblättert. Meine Bestrebungen, ihn zu beeindrucken, wären zunichtegeworden, hätte ich ihm von meiner Ankunft auf dem Motorrad erzählt – obwohl das heutzutage natürlich einen gewissen Schick ausdrücken würde. „Nein, mach dir keine Mühe. An der Ecke kann ich problemlos ein Taxi heranwinken. Trotzdem vielen Dank.“ Doch ich konnte ihn nicht abhalten. Höflicher Mensch, der er nun mal war, bestand er darauf, mir ein Beförderungsmittel zu organisieren. Und er wartete sogar, bis ich Platz nahm. Ich stand nun vor der peinlichen Aufgabe, ans Glas zu klopfen und den Fahrer zu bitten: „St. John’s Wood Studios, bitte.“

Hundert Yards die Straße hinunter – Godfrey befand sich nun in sicherer Entfernung – klopfte ich wie ein Wahnsinniger an die Scheibe und schrie: „Lassen Sie mich bitte raus. Bitte lassen Sie mich raus!“ Zweifellos dachte der Fahrer, ich sei übergeschnappt. Was macht man nicht alles, um das gute Image der Firma aufrechtzuerhalten!

Das stand für mich an erster Stelle und mag einer der Gründe dafür gewesen sein, warum ich mich beim Platten-Pflanzen nicht sonderlich geschickt anstellte. Ich war ein Schaf unter Wölfen und bemerkte das nicht. Damals gab es einige große Skandale in Bezug auf der Verhältnis Plattenindustrie/Radiomoderatoren, und so setzte die meisten Firmen Strohmänner ein, die den Job für sie erledigten, doch das war niemals Oscars Stil. Er zählte zu den rechtschaffenen Menschen, und somit dachte er nicht im Entferntesten daran, mithilfe zwielichtiger Gestalten zu arbeiten. Dadurch erfuhr ich erst relativ spät von diesen fragwürdigen Zuständen. Und mal ganz davon abgesehen, empfand ich die EMI als hoch seriös.

Für die Firma zu arbeiten ließ sich wohl mit einer Anstellung bei Rolls Royce in den Dreißigern vergleichen. Sie waren unglaublich stolz auf ihr „By Appointment“-Zeichen, auf das Hund-und-Grammophon-Label von HMV und weitere unverkennbare Charakteristika. Die Entlohnung bei der EMI kann nur als abgrundtief schlecht bezeichnet werden, aber man durfte sich des Privilegs rühmen, zu einer solchen Firma zu gehören, vergleichbar mit der Zugehörigkeit zur BBC heutzutage, allerdings noch ausgeprägter.

Was die Formalitäten anbelangte – da gab es keinen großen Unterschied zum öffentlichen Dienst. Jeder musste einen Anzug mit Krawatte tragen und konnte sich nicht erlauben, in schlabberigen Jeans aufzutauchen. Sogar im Studio durfte die Krawatte nicht abgelegt werden, und die Tontechniker arbeiteten in weißen Kitteln, wodurch sie wie OP-Assistenten aussahen. Ich kann mich gut an Peter Brown erinnern, einen Mitarbeiter, der es mittlerweile bis ganz nach oben geschafft hat. Er besaß nur einen Anzug, und zwar das Ausmusterungskleidungsstück, das ihm die dankbare Nation spendierte! Er kam Tag für Tag in dieser schäbigen Kluft zur Arbeit.

Der Kleidungskodex galt auch für Musiker. Sogar die Jazz-Schlagzeuger spielten in einem Anzug mit einer eng geschnürten Krawatte. Es war schon eine recht dümmliche Form des Snobismus, die zu lächerlichen Zwischenfällen führte. Eines Tages wollte Eddie Fisher, damals ein Riesenstar, die Studios durch den Haupteingang betreten. An dem Tag standen Plattenaufnahmen auf dem Programm, doch er trug seine amerikanische Uniform. Unglücklicherweise bekleidete er nicht den Rang eines Offiziers, und so bat ihn der Portier, die Studios bitte doch durch den Hintereingang zu betreten. So bewertete man also nach dem Krieg den Dienstgrad einer Person!

Allerdings behandelte man die ganz großen Stars in der Regel zuvorkommend, denn sie umgab Glamour und der Hauch der großen, weiten Welt. Sie wurden in Limousinen zum Studio gebracht, und man reichte ihnen neben geräuchertem Lachs zur Erfrischung Champagner. Die Ankunft eines Stars war beinahe körperlich zu spüren, denn die Atmosphäre des Studios schien sich elektrisch aufzuladen. Und wenn sich eine Künstlerin wie Jane Morgan zeigte, war das auch gerechtfertigt, denn sie sah fantastisch aus. Jane Morgan hatte einen unvergleichlichen und tadellosen Stil und trug einen mit Diamanten besetzten, glitzernden Pelz. Doch daran erinnert sich heute anscheinend niemand mehr. Die großen Stars tragen alte und ausgebeulte Jeans und unterscheiden sich nicht von anderen Personen.

Meist wurden die Stars bei ihrer Ankunft von Oscars Sekretärin Judy Lockhart-Smith unterhalten. Der schottische Tenor Robert Wilson erwartete immer ein Glas Whiskey. Unglücklicherweise mochte unser Nachtwächter auch einen guten Schluck, bediente sich an der Flasche und füllte sie wieder mit Wasser auf. Judy wusste nichts davon und reichte Wilson eines Tages ein Glass des verdünnten Drinks. Er trank ein wenig und spuckte den Whiskeyverschnitt sofort aus. Wilson konnte kaum glauben, was seine Geschmacksknospen da ertragen mussten.

Judy, wie schon erwähnt, verhielt sich mir gegenüber eine lange Zeit äußerst unterkühlt. Ich fand sie attraktiv, jedoch leicht arrogant und eindeutig überheblich. Als Judy mich das erste Mal sah, musterte sie mich wie einen Hund, den jemand mitgebracht hatte. Trotz ihrer Jugend zählte sie zu den „Oldtimern“, und ich war das kleine Balg. Wir arbeiteten in einer angespannten Atmosphäre, begleitet von gegenseitiger Antipathie, was sicherlich ein recht ungewöhnlicher Beginn für zwei Menschen war, die später eine wunderbare Ehe führen sollten.

Judy verstand sich gut mit unseren Künstlern, und neben der normalen Arbeit blätterte sie die Noten während der Aufnahmen um, für Persönlichkeiten wie Kentner, Gerald Moore, Yehudi Menuhin, Rawicz und Landauer sowie Solomon, den Pianisten. Allerdings liefen nicht alle Aufnahmen harmonisch ab. Ray Martin, auch ein Künstler, der bei der Firma unter Vertrag stand, besaß einen kleinen Dackel, der kurz vor Solomons Mitschnitt einer Sonate in das Studio tapste. Unglücklicherweise war das Tier nicht „studiorein“ und hinterließ unter dem Piano ein kleines Häufchen. Solomon stellte einen Fuß auf das Klavierpedal und trat – kkkksch – direkt rein. Er humpelte aus dem Studio, wobei er darauf achtete, dass er den Dreck nicht weiter verbreitete, und weigerte sich, an dem Tag noch weiter aufzunehmen.

Ärgernisse in der Art waren von Sir Thomas Beecham nie zu erwarten. Der nette Mann wohnte ganz in der Nähe und nahm gelegentlich bei uns auf. Zum Mittagessen ging er zu McWhirters, dem Arbeiterimbiss nebenan, und nicht in das Nobelrestaurant die Straße hoch. Dort servierte man Hausmannskost. Der Lunch kostete 3 Schilling und 9 Pence und 3 Pence extra, wenn man die Fleischbeilage wünschte.

An einem dieser Tage bat er die Serviererin um die Weinkarte. „Wir haben keinen Wein, mein Lieber. Ich kann Ihnen aber gerne eine gutes Glas Tizer holen.“ Ihn störte es nicht, denn er war ein bodenständiger Mensch, ganz im Gegensatz zu Malcolm Sargent. Der forderte stets Sandwiches mit geräuchertem Lachs und Champagner. Als Star mochte er es, sich vom Fußvolk abzuheben, wohingegen Beecham es genoss, sich unter den „einfachen“ Menschen zu bewegen.

Sargent hatte sich den Spitznamen „Flash Harry“ „eingefangen“. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem wir eins von Beethovens Werken probten. Als er nicht im Studio war, hatte jemand die Noten für „I’m Just Wild About Harry“ auf sein Notenpult gelegt. Er kam zurück, nahm sie in die Hand und sagte: „Ich schätze mal, dass bezieht sich auf einen berühmten Dirigenten, hier ganz in der Nähe, oder etwa nicht?“

Ein weiterer Dirigent, mit dem ich arbeitete, war Charles Mackerras. Ich kannte ihn noch aus der Zeit, als wir als Oboisten im Ensemble für Don Giovanni im berühmten Theater Sadler’s Wells spielten. Die Gruppe musste über die Bühne marschieren und unter den Augen des Publikums auf einem Balkon spielen, wurde aber vom Orchestergraben aus dirigiert. Wir trugen Perücken und ein Wams und erhielten dafür sogar zusätzlichen Lohn, was mir damals nur recht sein konnte. Charles und ich waren die einzigen Oboisten der Gruppe, mit dem Unterschied, dass er das Instrument um Längen besser beherrschte. Mein Spiel ließ sich höchstens als mittelmäßig umschreiben, doch er verhielt sich immer freundlich und hilfsbereit. Zu der Zeit befand er sich noch im Sadler’s Wells in der Ausbildung zum Dirigenten. In seiner Freizeit sammelte er die Musik von Gilbert and Sullivan, die er sehr mochte.

Als die Rechte an den Werken von Arthur Sullivan gemeinfrei waren, machte Charles den brillanten Schachzug, verschiedene Stück aus diversen Opern zusammenzustellen und sie für ein Orchester zu arrangieren. Darüber hinaus engagierte er sich bei der Produktion eines Balletts, das auf Sullivans Musik basierte. Es hieß Pineapple Poll, wurde ein Riesenerfolg und unverzüglich von Len Smith für Columbia aufgenommen, der dabei das Covent Garden Orchestra einsetzte.

Oscar war völlig aufgebracht: „Du kennst Charles Mackerras“, beschimpfte er mich anklagend. „Warum hast du uns nicht Pineapple Poll gesichert?“

Ich fühlte mich schuldig und antwortete: „Ich wusste, dass er sich mit einer Produktion beschäftigte, dachte aber nicht näher darüber nach.“

Oscar versuchte das Beste aus dem Missgeschick zu machen, indem er das Werk mit dem Sadler’s Wells Orchestra unter der Leitung von Charles Mackerras aufnahm, doch die Platte war nicht annähernd so gut.

Es war typisch für die EMI, dass verschiedene Labels die gleichen Werke vertonen durften. Obwohl sich unsere Büros alle im selben Gebäude befanden – Len Smith arbeitete in Räumlichkeiten, die direkt über den Flur lagen –, bekämpften sich die Labels wie Rivalen. Alle vier Wochen trafen sich die Kontrahenten bei der sogenannten „Ergänzungs-Besprechung“, um sich darüber zu unterhalten, welche Aufnahmen für den kommenden Monat angesetzt wurden. Der eigentümliche Name dieser Meetings beruhte darauf, dass die in Frage kommenden Titel eine Ergänzung zum Gesamtkatalog darstellten. Oscar hegte ein unvergleichliches Misstrauen gegen Walter Legge von Columbia und wartete darauf, dass Walter den Produktionsplan vorstellte. Erst danach enthüllte er sein angepeiltes Programm. Und dafür gab es einen guten Grund. Falls Oscar kundgetan hätte, dass er eine Aufnahme des Sinfonia Concertante von Dittersdorf für den nächsten Monat plante, wäre folgende Antwort von Legge symptomatisch gewesen: „Das tut mir so leid, mein Lieber, jedoch ließ ich sie erst vor wenigen Tagen aufzeichnen. Ich habe sie nur noch nicht veröffentlicht, weil ich über stilistisch ähnliche Werke im Überfluss verfüge.“ Das war natürlich vollkommener Unfug. Hätte Legge die Idee so einer Aufnahme zugesagt, wäre er aus dem Konferenzzimmer geschlichen, hätte die Produktion durch einige schnelle Telefonanrufe fixiert und sich gleichzeitig eine Feder für seinen Kopfschmuck verdient. Da Oscar das Prozedere schon einige Male erlebt hatte, war er durch die Erfahrungen klüger geworden.

Neben den Meetings versammelten sich die einzelnen Labels zu einem monatlichen Verlagstreffen. Dabei hörten wir die neuen Stücke. Damals verfügten Interpreten und Verleger über keine Homerecording-Möglichkeiten, und so besuchten uns die verschiedene Vertreter – gebucht von Judy in 15-minütigen Intervallen – und sangen und klimperten uns ihre aktuellen Werke auf dem großen Flügel (der stand in unserem Büro) im guten, alten Tin-Pan-Alley-Stil vor. Wir machten uns Notizen und behielten Kopien der Noten. Ich hatte meinen Spaß dabei, da es mich an die Zeit der Varietés erinnerte und in der Tradition von George Gershwin stand, der als unbekannter Künstler auch seine Stücke feilbieten musste. Es lässt sich überhaupt nicht mit den polierten und durchproduzierten Demobändern vergleichen, die man uns heute präsentiert.

Da die Besprechungen vormittags stattfanden, hatte ich den Nachmittag für Aufnahme-Tests im Studio 2 zur Verfügung. Jede halbe Stunde kündigte sich ein neuer Interpret an. Damals verfügte Judy über ein wesentlich größeres Wissen über Pop und Jazz als ich. Sie nahm sich manchmal frei, flog in den Pariser Blue Note Club und hatte ihren Spaß mit dieser Szene.

Verglichen mit heute war das Geschäft meist weniger dramatisch, sensationsheischend und aufgesetzt. Es war ganz einfach Arbeit, obwohl eine höchst interessante, von der die Menschen, die sich außerhalb dieses Kreises bewegten, so gut wie gar nichts erfuhren. Kaum jemand hielt den Job eines Plattenproduzenten für erstrebenswert, was im eindeutigen Gegensatz zu heute steht, wo sich alle darum reißen und ihnen jedes Mittel recht ist, um sich zu etablieren.

Sogar die Rivalität unter den diversen Sub-Labels der EMI kann noch als gentlemanlike bezeichnet werden. Wir schnüffelten niemals nach Büroschluss in den Aktenordnern der anderen herum, um einen Vorteil zu erlangen, um zu wissen, was bei ihnen vor sich ging. Es bestand eher eine Parallele zum Automobilhersteller British Leyland, wo man leicht einen Mitarbeiter finden konnte, der auf seine Firmenzugehörigkeit stolz war: „Einmal ein Austin-Mann, immer ein Austin-Mann“. Auf uns übertragen hieß dass dann: „Einmal ein Columbia-Mann, immer ein Columbia-Mann.“

Dennoch hütete Oscar sein Täubchen Parlophone wie eine Henne ihre Küken (wenn dieser Vergleich ornithologisch überhaupt zulässig ist). Niemand durfte seinem Label zu nahe kommen. Allerdings gab es zeitweise nicht viel Arbeit bei Parlophone, da die Firma nach dem Krieg viele Interpreten verloren hatte. Einige Künstler wurden von Label zu Label verschoben, und so führte Oscar auch Produktionen für Columbia durch, da er bestimmte Musiker noch von Parlophone kannte und sie ihm ans Herz gewachsen waren. Zum Beispiel nahm er Robert Wilson auf, der eigentlich zu HMV gehörte.

Allerdings bestanden einige unumstößliche Gesetze. Parlophone produzierte niemals ein Musical, denn dieses Genre betreute HMV exklusiv. Die Differenzierung der Labels erstreckte sich sogar bis in die Geschäfte. Heutzutage werden Schalllatten überall verkauft. Damals konnte man Tonträger nur in Fachgeschäften erwerben, die wiederum nur ein Label vertrieben – ein Shop für HMV, ein anderes Geschäft für Columbia und so weiter. Speziell HMV hegte einen regelrechten Standesdünkel und war stolz auf ihre Läden. HMV-Platten durften nur von HMV-akkreditierten Verkäufern dem Endkunden angeboten werden. Darüber hinaus erlaubten sie nur eine Verkaufsstelle in einer Stadt. Die Innenausstattung jeweiligen Geschäfte machte der von Rolls Royce Konkurrenz. Die Filialleiter fühlten sich regelrecht geehrt, wenn eine Tafel mit dem Zeichen des Hundes mit dem Grammophon über ihrer Eingangstür hing.

Ich empfand das als nicht sonderlich intelligent, da sie den Umsatz freiwillig und absichtlich beschnitten. Am Ende zerbrach das Geschäftsmodell, und HMV-Platten waren überall zu kaufen. Das aber führte zu einer massiven Auseinandersetzung mit der EMI. Ein Mann, der den alten Zeiten partout nicht Lebewohl sagen wollte, empörte sich so sehr, sodass der letzte Ausweg für ihn in einer Kündigung bestand. So eine Entscheidung mag aus heutiger Sicht dumm anmuten, belegt und betont jedoch den starken Wunsch der Menschen, ihre Individualität beizubehalten.

1952 war die Zeit für mich reif, meine Identität zu suchen. Ich schlug Peter Ustinov vor, gemeinsam mit meinen Kollegen von der London Baroque Society eine Platte zu machen. Peter war das Enfant terrible der britischen Schauspielzunft, unsere Antwort auf Orson Welles. Da er das Publikum immer mit seiner sogenannten „Mundmusik“ erheiterte, entschieden wir uns für die doppelseitige Single „Mock Mozart“/„Phoney Folk Lore“. Die A-Seite beschreibe ich gerne als dreiminütige Mini-Oper von Peter. Ich kategorisierte die Produktion unter dem Überbegriff „The Voices And Noises Of Peter Ustinov“. Peter sang alle Teile, also Sopran, Altstimme und Tenor, und wurde von Anthony Hopkins auf dem Spinett begleitet.

Das Ganze entwickelte sich zu einem kleinen Abenteuer. Natürlich verfügten wir damals noch über keine Mehrspurtechnik. Da er im Grunde genommen ein vierköpfiges Ensemble imitieren musste, war Peter gezwungen, mit sich selbst zu singen. Dazu benutzten wir zwei Bandmaschinen und mischten dabei gleichzeitig. Natürlich war das alles noch in Mono, wodurch wir natürlich Generationen an Aufnahmequalität verloren. „Generationen“ bedeutet das prozentuale Verhältnis zwischen Signal und Geräusch. An dieser Stelle sollte ich den technisch eher Desinteressierten etwas über den mechanischen Aufnahmeprozess erklären. Die Aufnahmequalität wird von der Qualität/Quantität der Moleküle des Bandes an sich bestimmt. Das Verhältnis des ursprünglichen Signals zum Hintergrundrauschen – damit meine ich die kaum wahrnehmbaren Geräusche des Bandes, die durch den rein physischen Prozess des Anliegens am Tonkopf entstehen – bestimmt das Endresultat.

Das Verhältnis des ursprünglichen Signals, also der Tonquelle, zum Hintergrundrauschen verändert sich durch den mechanischen Abrieb, verkleinert sich also zugunsten des Hintergrundrauschens. Während bei der ersten Aufnahme das Rauschen noch eindeutig im Toleranzbereich liegt, nimmt es bei einer erneuten Aufnahme auf ein anderes Band zu. Je öfter dieser Prozess wiederholt wird, desto stärker hörbar wird das Phänomen. Jede weitere Aufnahme verschlechtert also das gewollte Tonsignal und verstärkt die Störgeräusche um den Exponenten 2. Bei zwei Aufnahmen wird das Rauschen viermal höher, bei drei Aufnahmen sogar neunmal. Dieser Faktor verringerte sich deutlich mit der Entwicklung der Bandaufnahmetechnik, da technisch ausgefeiltere Tonköpfe, ein leichterer Druck des Bandes gegen den Tonkopf und vor allem deutlich besseres Bandmaterial zu klanglich besseren Ergebnissen führten. Im Fall von Ustinov nahmen wir vier Mal auf, und darum verstärkte sich das Rauschen sechzehnmal. Doch ein Großteil des Publikums hört die Geräusche noch nicht mal. Ich glaube zudem, dass die Käufer der Platten noch nicht ahnten, dass der Hintergrundpegel so hoch war. Allerdings würde es den heutigen Hi-Fi-Puristen sicherlich auffallen.

Nun standen wir noch vor einem zusätzlichen Problem. Obwohl die Theorie der mehrfachen Stimmen machbar anmutete, ergab sich bei den Aufnahmen ein Problem. Ich fand heraus, dass Peter im Studio Schwierigkeiten hatte, zu der schon mitgeschnittenen Spur, auch „Track“ genannt, seines Gesangs zu singen. Wie viele andere war er ein „Kopierer“. Um synchron zu der ersten Stimme zu singen, musste er sie zuerst hören und setzte zeitlich versetzt kurz danach an – was natürlich zu spät ist.

Somit arbeiteten wir in kleinen Häppchen. Ich hetzte ständig vom Regieraum zu Peter und zurück. Zwischendurch gab ich ihm Anweisungen: „Hör zu, Peter. Bitte sing diesen Teil ti dum, ti dum, ti dum – und beginn exakt, wenn ich dir mit meiner Hand ein Signal gebe.“ Somit konnte er den genauen Anfangspunkt der Phrase erkennen und passend dazu die Melodie singen.

Es war ein beschwerlicher, langer und mühseliger Arbeitsprozess, der sich aber letztendlich auszahlte. Die Produktion der B-Seite hingegen viel uns wesentlich leichter, da Peter seine „Party-Stückchen“ imaginärer Folk-Songs zum Besten gab.

Doch dann stand die monatliche „Ergänzungs-Besprechung“ der EMI an. Bei „Mock Mozart“ angelangt, richteten sich alle Augen auf mich. Purer Horror machte sich auf den Gesichtern der Kollegen breit. Die Kommentare folgten schnell.

„Was ist das, George?“

„Peter Ustinov!!??“

„Was hast du dir nur dabei gedacht, George?“

„Das ist doch blanker Unsinn. Niemand hat bislang so eine Platte produziert.“

Oscar unterstütze mich, so gut es nur ging, doch die anderen dachten anscheinend, ich sei verrückt geworden. Ich musste mich mit jedem einzelnen der Kollegen herumschlagen, um sie davon zu überzeugen, dass die Platte eine Chance hatte. Die Veröffentlichung stand auf der Kippe, doch nachdem sie auf den Markt gekommen war, zahlte sich mein Wagemut aus. Eine Woche nach Veröffentlichung rief mich der Geschäftsführer von HMV aus der Oxford Street an und fragte: „Diese Peter-Ustinov-Platte – haben Sie die produziert?“

„Ja“, antwortete ich kleinlaut und wartete darauf, gegen was für einen Angriff ich mich jetzt zur Wehr setzen musste.

Doch er überraschte mich: „Können Sie mir möglicherweise bei der Beschaffung weiterer Exemplare behilflich sein? Ich haben schon 200 Stück verkauft und kann nirgendwo nachbestellen.“

(Der Geschäftsführer war übrigens zufälligerweise Ron White, später Manager des EMI-Verlags.)

Mit dem Lächeln eines Siegers ging ich zu meinen „Meistern“ und rieb ihnen die Neuigkeiten genüsslich unter die Nase. „Ihr habt viel zu wenig Platten gepresst.“ Ich glaube, dass die Erstauflage 300 Exemplare betrug. Als die Nachpressung gefertigt war, sank die Nachfrage unglücklicherweise. Schon wieder eine Lektion gelernt! Am heutigen Standard gemessen, klingt die Auflagenhöhe von 300 Platten lächerlich gering, doch damals gab es Produktionen, von denen sich vielleicht nur 180 Stück absetzen ließen. Trotzdem rechnete sich das aus ökonomischer Perspektive, da die Aufnahmekosten gering waren, ganz im Gegensatz zu den tatsächlich sehr hohen Endverbraucherpreisen.

Dazu kam noch, dass ein Künstler wie Peter keinen Vorschuss erhielt. Er bekam Tantiemen in Höhe von 5 %, damals die höchste Umsatzbeteiligung. Der größte Kostenfaktor bestand im Mieten des Spinetts, was uns 15 £ kostete, und in der Gage für Anthony Hopkins, die mit einer vergleichbaren Summe zu Buche schlug. Zur Kostendeckung musste man also nur 200 oder 300 Platten zu je 7 Schilling an dem Mann bringen.

Die Plattenproduktion mit Peter stellte eine Ausnahme von der Regel dar, da die meisten Künstler – besonders Sänger – Exklusivverträge mit den Plattenfirmen abgeschlossen hatten. Bedeutende Interpreten bekamen Verträge mit einer Laufzeit von zwei Jahren, möglicherweise um eine Option für weitere drei Jahre ergänzt. Der Vorteil für diese Interpreten bestand in der Zusage von regelmäßigen Veröffentlichungen, die sich natürlich finanziell niederschlugen. Einige erhielten eine Tantiemenvorauszahlung (allerdings musste man für so eine Vertragsklausel schon ziemlich erfolgreich sein), da die EMI mit ihren Künstlern in finanzieller Hinsicht ähnlich wie mit dem Personal umsprang – und dementsprechend knauserig war. Die durchschnittliche Bezahlung pro Platte lag bei einem Penny, die höchste Entlohnung bei einer 5-prozentigen Beteiligung. So ließ sich natürlich die mangelnde Verbundenheit der Künstler mit der Firma erklären.

Die Vielfalt der Interpreten beeindruckte mich immer wieder. In derselben Woche nahm ich Bob und Alf Pearson auf („My Brother And I“ war ihr großer Hit), Dick Bentley und Joy Nichols („Take It From Here“), das Covent Garden Orchestra, Tommy Reilly mit seiner Mundharmonika, Eve Boswell und Charles Williams, der neben Sidney Torch das Queen’s Hall Light Orchestra dirigierte.

Ich kann mich noch gut an Charles erinnern, der „The Dream Of Olwen“ schrieb, da das Schicksal ihn mit einem überraschenden Geld­regen erfreute. Er schrieb einige Stücke, eher als Hintergrundmusik gedacht, und erhielt dafür regelmäßige Zahlungen der Performing Rights Society, einer Organisation, vergleichbar mit der deutschen GEMA, die die mechanischen Vervielfältigungsrechte, Aufführungsrechte und Senderechte von Komponisten und Textern wahrnimmt. Plötzlich – ohne einen ersichtlichen Grund – betrug eine der Zahlungen die für damalige Zeiten exorbitante Summe von 5.000 £. Wie sich herausstellte, benutzte eine TV-Station in den USA eine seiner Kompositionen, ein Stück mit einer religiösen Grundstimmung, als Erkennungsmelodie. Und niemand hatte ihm davon berichtet!

Gelegentlich nahm ich auch Freddie Randall und seine Jazz-Band auf, denn mittlerweile hatte ich mich weit von den altehrwürdigen Klangkathedralen des Klassik entfernt und produzierte – trotz meiner früheren Zusammenstöße mit Humph – alle Jazz-Künstler von Parlophone, also Graeme Bell and his Dixieland Jazz Band, Joe Daniels and his Hotshots, Jack Parnell und Johnny Dankworth and his Seven.

Mit Johnny nahm ich einer meiner ersten Hits auf. Das Stück nannte sich „Experiments With Mice“ und basierte auf dem Liedchen „Three Blind Mice“. Er und Cleo Laine wurden schon bald gute Freunde, mit denen ich häufig arbeitete. Cleo, die damals noch nicht mit ihm verheiratet war, sang in der Band. Ich finde es erfreulich, dass John und Cleo genauso lange im Geschäft sind wie ich. Auch sie haben die harten Seiten und unangenehmen Aspekte kennengelernt: Tourneen, finanziell schwierige Zeiten, das ständige Auf und Ab sowie andere Problematiken – und nun betraten sie die Weltbühne als große Künstler. Eine mich immer wieder erheiternde Ironie besteht in der Tatsache, dass man Cleo ständig eine erfolgreiche Karriere absprach, da sie eine zu gute Stimme habe. Umso mehr erfreut mich der Erfolg einer nun von allen Seiten anerkannten Künstlerin.

John engagierte sich wahnsinnig, angetrieben durch einen regelrechten Fanatismus, und das konnte mitunter lustige Konsequenzen haben. Einmal bereitete er ein Jazz-Konzert für Matyas Seiber in der Festival Hall vor und arbeitete dabei mit seinem Arrangeur Dave Lindup, der mit der Band immer auf Tour ging. Da die Arrangements unbedingt fertig gestellt werden mussten, buchte John eine Hotelsuite und fragte ausdrücklich, ob er sich mit Dave ein Zimmer teilen könne, um den Großteil der Nacht durchzuarbeiten. Der Empfangschef reagierte mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck, wobei ihm wahrscheinlich Vorurteile über das Musikerleben durch den Kopf gingen. Die beiden ließen sich davon nicht aus der Ruhe bringen, gingen auf ihr Zimmer und dachten nicht mehr darüber nach.

Als sie von dem Gig zurückkehrten, begannen sie unverzüglich mit der Arbeit. Um 4 oder 5 Uhr morgens drehte sich Dave zu John und meinte: „Mir fallen die Augen zu. Ich kann nicht mehr und brauche unbedingt Schlaf.“ Er entkleidete sich und fiel auf das eine Bett, während John mit ungebrochener Kraft weiter arrangierte.

Um 7 Uhr holte auch ihn die Müdigkeit ein, doch es war schon viel zu spät, um noch ins Bett zu gehen. Er legte die Arbeit beiseite, duschte, zog sich an und ging zum Frühstück. Als er sich den Marmeladentoast schmecken ließ, kam ihn in dem Sinn, dass er nicht nur um ein Doppelzimmer gebeten hatte, sondern dass die Zimmermädchen sofort sehen würden, dass nur ein Bett benutzt war. Als die beiden das Hotel verließen, zogen sie einige hochgradig suspekte Blicke auf sich.

Aus verständlichen Gründen empfand John rassistische Bemerkungen als abgrundtiefe Beleidigung und legte sich mit jedem an, der sich abfällig über eine andere Hautfarbe äußerte. Allerdings amüsiert er sich immer noch über einen Zwischenfall beim lokalen Obst- und Gemüsehändler, wo er sich etwas Obst kaufen wollte. Er entdeckte vielversprechende Weintrauben und sagte zum Verkäufer: „Ich hätte gerne einige Pfund dieser Trauben. Sie sehen ja äußerst schmackhaft aus.“

Doch als die Bedienung die Kiste von der Anrichte zog, bemerkte er das Etikett „Südafrika“. Er sah plötzlich keinen Grund mehr, sich die Früchte zuzulegen, und meinte: „Moment mal. Die Trauben kommen aus Südafrika, oder? Ich habe es mir überlegt und möchte sie nun doch nicht.“

Der Mann schaute ihn ein wenig unterkühlt an und antwortete: „Tja, vielleicht haben Sie ja recht. Man kann ja nie wissen, was für Nigger die angepackt haben.“

Nach dem Erfolg von „Experiments With Mice“ folgte Johns nächster Riesenhit „African Waltz“. Er wurde von dem aufstrebenden Songwriter Galt McDermott verfasst, den damals kaum jemand kannte. Wir nahmen später noch einige seiner Stücke auf, wie zum Beispiel „I Know A Man“ mit Rolf Harris. Das war noch lange vor der Zeit, in der er das berühmte Musical schrieb, das ihm zum Millionär machte – Hair. McDermott gehörte zu den Songschreibern, die sich in den Büros der Verleger in der Denmark Street rumdrückten und dabei versuchten, ihre Stücke zu verkaufen.

Zwischen der Moderne und den alten Zeiten besteht ein großer Unterschied: Heute4 werden alle Stationen des kreativen Prozesses von den Plattenfirmen überwacht, ja, sogar die Verleger stehen bei ihnen unter Vertrag. Früher waren Verleger eine starke und unabhängige Kraft. Wenn sie einen Komponisten akzeptierten, gehörte es zu ihrem Aufgabengebiet, den Song bei Plattenfirmen und den Radiomoderatoren vorzustellen, wodurch die Chancen auf einen Hit enorm stiegen. Hatte man keinen Verleger, der einem den Rücken stärkte, brauchte man mit dem Komponieren erst gar nicht anzufangen. Und so hingen die Songwriter sprichwörtlich an den Türen der Verlage und hofften auf ein Vorstellungsgespräch mit den Verantwortlichen, wie es einige Jahre später bei den Plattenfirmen genauso der Fall sein sollte.

Ich musste kontinuierlich Komponisten abweisen, was sich bis jetzt nicht geändert hat. Hörte ich mir tatsächlich alle angebotenen Stücke an, dann bliebe mir keine Zeit mehr zur Plattenproduktion. Unsere heutige Vorgehensweise besteht darin, dass sich ein Gremium durch das Material arbeitet und ausgesuchte Stücke empfiehlt. Wenn der Song womöglich etwas Besonderes darstellt, hören wir ihn uns selbst an.

Ein Grund für die damalige Stärke und Position der Verleger lag im Defizit der Singer/Songwriter, da damals weniger Menschen dieser Berufung nachgingen. Zudem gab es noch die klare Unterscheidung zwischen dem Interpreten und dem Komponisten. Die Interpreten befanden sich auf ständiger Suche nach gutem Material, und die Komponisten taten ihr Möglichstes, ihre Stücke vorzugsweise bei den bekanntesten Interpreten unterzubringen. Und so versuchte der Songwriter die Akzeptanz eines Verlegers zu gewinnen, der den notwenigen Kontakt zu einem populären Künstler unterhielt.

Natürlich wollten alle Künstler einen Nummer-1-Hit landen. Falls ein Konkurrent ein Stück ergatterte (das nach ihrer Meinung ihnen selbst zugestanden hätte) und es damit schaffte, schob man uns die Schuld dafür in die Schuhe. Zum Beispiel: Norman Newell, der für den Pop-Katalog von Columbia zuständig war, landete mit Danny Williams’ Version von „Moon River“ einen Riesenhit. Wir von Parlophone nahmen das Stück nicht auf, und so war es gut möglich, dass eine Eve Boswell (sie stand bei uns unter Vertrag) mich anmeckerte und mir vorwarf: „Wieso habe ich ‚Moon River‘ nicht gehört? Und warum habe ich die Nummer nicht aufgenommen?“ Zu so einem Wutausbruch hätte die gute Frau leider jegliche Berechtigung gehabt.

„Moon River“ stellte sich für meinen Assistenten Ron Richards als großes Fiasko heraus. Ich entsandte ihn ins Kino und erwartete einen Bericht und eine Einschätzung der Musik. Er schaute sich den kompletten Film an und schickte ein Memo: Er habe sich die Hintergrundmusik angehört, aber nichts Lohnenswertes entdecken können! Doch wir alle machen solche Fehler. Ich vertiefte mich immer mehr in das Geschäft und lernte die Journalisten, die Rundfunkmoderatoren, eigentlich die gesamte Branche kennen. Mit Noel Whitcomb vom Daily Mirror verband mich eine innige Freundschaft. Wie ein Lauffeuer hatte eine Nachricht die Runde gemacht, die auch uns nicht kaltließ. Einige Kids spielten erfolgreich in den sogenannten Coffee Bars, und so entschieden wir uns, dieses Phänomen genauer unter die Lupe zu nehmen. Eines Abends im Jahr 1957 besuchten wir die Two ’I’s Coffee Bar in Soho, um uns den neuen Act Tommy Steele and the Vipers Skiffle Group anzuschauen. Wir bestellten einen Kaffee, setzten uns hin und beobachteten den genialen jungen Mann, der mit seiner Gitarre in Hüfthöhe über die Bühne wirbelte. Mein erster Eindruck fiel nicht sonderlich positiv aus – ich stufte ihn als eine blonde Papp-Imitation von Elvis Presley ein. Noel teilte meine Einschätzung. Tommy hatte zwar viel Energie, doch seine Stimme klang nicht besonders gut – zumindest die wenigen Melodiefetzen, die ich hören konnte, denn die Vipers waren extrem laut und er nicht.

Von heute aus betrachtet wirkte die Show harmlos, doch in jenen Tagen empfand ich sie als schockierend, ähnlich musikalischer Masturbation. Die zur Schau gestellten Beckendrehungen stießen mich ab, da ich mich rein auf die Musikalität und Qualität seiner Stimme konzentrierte. Noel stimmte mir zu: „Da ist nichts.“ Und so ließ ich Tommy Steele an mir vorbeiziehen.

Aber ich mochte die Band und den Mut, mit dem sie ihre Musik umsetzten. Ich bot ihnen einen Vertrag an und produzierte mit ihnen viele erfolgreiche Platten. Doch Tommy Steele abzuweisen war offensichtlich eine große Dummheit, denn Decca trat einen Tag später an ihn heran, nahm den Sänger unter ihre Fittiche und machte einen großen Star aus ihm. Ich beichtete Sir Joseph Lockwood das Versäumnis, der damals die Geschäftsführung der EMI übernommen hatte. Er war offensichtlich sehr verärgert darüber. Ich hätte lieber mal den Mund halten sollen. Seit dieser Zeit habe ich Tommy schon mehrmals aufgenommen, woraufhin sich eine innige Freundschaft entwickelte, doch leider macht das den Fehler nicht ungeschehen.

Allerdings gibt es auch Entscheidungen, aufgrund deren Manager unfair behandelt werden. Dick Rowe von der Decca ist klassisches Beispiel dafür. Er wurde bekannt als „der Mann, der die Beatles abgelehnt hat“ und muss dieses Kreuz nun bis zu seinem Grab tragen. Doch es ist unfair, denn jeder in Großbritannien lehnte die Beatles ab. Der einzige Unterschied zu Dick Rowe bestand darin, dass er genügend Grips hatte, ihnen Probeaufnahmen zu gewähren – und das nicht nur ein Mal, sondern zwei Mal. Er zog es eindeutig in Betracht, die Band unter Vertrag zu nehmen. Statt ihn dafür anzuklagen, dass er sie letztendlich ablehnte, sollte man ihn wegen der Weitsicht loben, da er ihnen nun mal eine Chance gab, als alle anderen ablehnend reagierten.

1954 erledigte ich beinahe alle Aufgaben für Parlophone, und Oscar arbeitete kaum noch. Lockwood war der neue Geschäftsführer, was für die Firma einer frischen Brise gleichkam. Eine Zeit lang hasste ihn jeder wegen seiner Skrupellosigkeit. Allerdings zog er den Karren der EMI aus dem Dreck und brachte das Unternehmen auf Kurs.

Im Juli des Jahres bestand ich meine Führerscheinprüfung und startete in die „vierrädrige“ Welt. Das fragliche Vehikel war eine 1935er Austin Ten Cambridge Limousine, die mich 60 £ kostete. Das Gefährt war sicherlich nicht makellos, doch ein ideales Anfängerauto. Ich befand mich wegen der bestandenen Prüfung in Hochstimmung. Zurück im Büro, bot ich Oscar an, ihn nach Hause zu fahren, also zur Arkwright Road in Hampstead, nicht weit von den Studios entfernt gelegen.

Dankbar sagte er zu, und wir machten uns um 18 Uhr auf den Weg. In bester Laune steuerte ich die Finchley Road hinunter und näherte mich der Ampel beim John-Barnes-Kaufhaus. Natürlich schaltete ich – nach dem Erhalt des Führerscheins ein erstklassiger Fahrer – vom oberen in den dritten Gang zurück. Doch ohne dass ich mich versah, hatte ich den langen Schaltknüppel mit einem kugelförmigen Aufsatz, der weit unten im Fahrerraum befestigt war – komplett in der Hand!

Mit der nötigen (und aufgesetzten) Gelassenheit reichte ich Oscar das „amputierte“ Fahrzeugteil meines neuen Spielzeugs und meinte: „Würde es dir etwas ausmachen, den Knüppel ganz kurz zu halten?“ Ich steuerte den Wagen ganz vorsichtig an den Bordstein. Die Schaltung hatte sich im dritten Gang verkeilt. Das war nichts mehr zu machen. Was für eine Erniedrigung und Schmach! Und Oscar fuhr mit dem Taxi nach Hause!

Wenn man meine erste Automobilerfahrung als wenig glücklich beschreiben will, so war ich mit den Verhältnissen bei der EMI noch unzufriedener. Das erste Problem bestand in der Vergütung, besser gesagt, der unzureichenden Vergütung. Nach drei Jahren war mein Lohn auf läppische 13 £, 9 Schilling und 3 Pence gestiegen, wovon mir nach den Abzügen noch 12 £, 6 Schilling und 8 Pence blieben. Die EMI hatte schon immer schlecht gezahlt, da sie glaubten, dass ein attraktiver Job eine angemessene Kompensation sei. Sogar Oscar wurde niemals angemessen entlohnt. Nach 50 Dienstjahren, während deren er ihnen sogar verschiedene Erfindungen vermacht hatte, erhielt er als Abschiedsgeschenk eine Ausgabe der Encyclopaedia Britannica. Das blieb ihm also nach all den Jahren.

Als mir Frank Lee von Decca 1954 einen Job mit einem Jahreseinkommen von 1.200 £ anbot, war ich darauf erpicht, augenblicklich zuzuschlagen. Meine erste Tochter Alexis (Kosename: Bundy) war im vorhergehenden Jahr zur Welt gekommen, und meine wirtschaftliche Lage war mehr als dramatisch. Nach Abzug der laufenden Kosten plagten mich ständige Bargeldprobleme. Ich ging also zu C.H. Thomas, dem ersten Manager von EMI Records, und sagte: „Mir hat die Arbeit viel Freude bereitet, vielen Dank auch, aber der Lohn ist nicht gut genug. Ich habe eine neue Anstellung angenommen.“

Nun, ich sagte das frei heraus und dachte überhaupt nicht daran, damit den Grundstein für ein regelrechtes Gefeilsche zu legen. Für mich war das kein Trick, um an mehr Lohn zu gelangen. Damals dominierte eine eindeutig moralische Grundhaltung mein Verhalten, und ich hätte Skrupel gehabt, so zu taktieren, was vom heutigen Standpunkt aus gesehen schon ziemlich naiv war.

Doch der weltgewandte Thomas fasste es anders auf.

„Meinen Sie nicht, dass Sie sich recht unfair verhalten?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich kann es nicht zulassen, unsere Firma in eine Art Konkurrenzsituation zu bringen.“

„Ich glaube, dass das nicht nötig ist“, antwortete ich und legte dabei meine Naivität offen. „Wollten Sie mir mehr bezahlen, hätten Sie das sicherlich schon gemacht.“

„Tja, ich möchte Sie nicht verlieren und biete Ihnen hiermit die gleiche Summe an.“

Soweit ich mich erinnern kann, waren es letzten Endes 1.100 £, also eine geringere Summe, doch Thomas versicherte mir, dass ich nach Oscars Ausscheiden aus dem Arbeitsleben Parlophone übernehmen dürfe, wenn es nach ihm gehe. Ich glaube, dass diese Perspektive den Ausschlag zum Bleiben gab, denn es war nicht sicher, was nach Oscars Pensionierung geschehen würde. Ich hatte Thomas erklärt, kein alter Knochen werden zu wollen, kein unbedeutendes Zahnrädchen im Getriebe. Ich wollte noch in meiner Jugend etwas erreichen! Und so nahm ich sein Angebot an und musste Frank Lee von Decca anrufen und absagen, der ziemlich verärgert reagierte, was mich nicht überraschte.

Obwohl ich der EMI die Treue hielt, gab es noch einige Gründe, derentwegen ich mich unwohl fühlte. Mein Tagebuch verweist auf eine Notiz für ein Memo, dass ich dem Management schicken wollte. Der Eintrag lautet: „Als ersten konkreten Fall muss ich die Problematik mit Ron Goodwin ansprechen, dem Künstler, der im letzten Jahr für den höchsten Umsatz gesorgt hat. Er ist speziell wegen der Ausbeute verbittert, denn von den zuletzt veröffentlichten drei Platten – insgesamt hat er bislang sechs Tonträger produziert – wurde nur eine im Rundfunk gespielt. Dieser Faktor, im Zusammenhang mit der unglücklichen Präsentation von Parlophone in den USA, die britische Interpreten als weitaus schlimmer empfinden als überhaupt keine Präsentation, bewegte Ron dazu, die Unterschrift unter die optionale Klausel bezüglich einer längeren Kooperation in seinem Vertrag zu verweigern, der im November auslief. Der Verlust eines solchen Künstlers ist katastrophal.“

Der Fall verärgerte mich auch, da Ron ein guter Freund geworden war, zu dem ich eine so enge Beziehung hatte, dass er später bei meiner Hochzeit mit Judy Trauzeuge wurde. Ron war ein aufstrebender Arrangeur, den mir Dick James 1953 vorstellte, also ein Jahr, nachdem ich begonnen hatte, ihn aufzunehmen. Dick sang genau wie Eve Boswell in einer Band und zählte zu den ersten Künstlern, die eher zu meinem Stamm gehörten und nicht zu Oscars. Ich produzierte mit ihm einige erfolgreiche Platten, wie zum Beispiel „Robin Hood“. Da er jedoch Familie hatte, stand er dem Tourleben durch die Provinz ablehnend gegenüber. Schließlich gab er die Auftritte in den Music Halls auf und wurde Verlagsvertreter bei Sidney Bron, dem Vater von Eleanor. Doch 1953 sang er noch und schlug Ron Goodwin (nun einer unser besten Filmkomponisten) als Arrangeur seiner Platten vor.

Ähnlich ärgerte mich die Behandlung eines weiteren Freundes, nämlich Kenneth McKellars. Der Tagebucheintrag lautet: „Wir haben die Dienste eines brillanten, jungen Tenors aus Schottland verloren, den wir vor zwei Jahre aufnahmen. Ich bin mir sicher, dass er mit einer adäquaten Unterstützung einen vergleichbaren Erfolg wie den von Robert Wilson errungen hätte. Ich bin mir auch sicher, dass die Firma schon bald seinen Weggang bedauern wird. Er hat sich für Decca entschieden, da sie sich enthusiastischer bei der Förderung und Publicity zeigen. In seiner Erklärung beschwerte er sich: ‚HMV oder Columbia sind sicherlich keine schlechten Labels, doch man sieht niemals Produkte von Parlophone in den führenden Schallplattengeschäften.‘ Obwohl wir solch eine Anschuldigung nach außen hin bestreiten, bin ich der festen Überzeugung, dass sie stimmt.“

Der Eintrag der Notiz stammte vom Ende 1954, doch ich hatte Kenneth schon 1947 kennengelernt, während er noch Forstwirtschaft an der Universität zu Aberdeen studierte, wo meine erste Frau im Chor sang. Während meines Studiums an der Guildhall durchlief er eine Ausbildung am Royal College of Music in London. Er besuchte uns oft in Acton und half beim Bau eines Kamins.

Nach dem Einstig bei Parlophone überredete ich ihn zu einer Probeaufnahme in den Abbey Road Studios. Kenneth hatte eine sehr schöne Stimme, und ich nahm von 1951 bis 1955 acht Titel mit ihm auf. Leider entwickelte sich keiner der Songs zu einem Hit, was ich teils auf die mangelnde Unterstützung zurückführe und möglicherweise auch auf die enge Beziehung zwischen Oscar und Robert Wilson. Für Oscar nahm Wilson immer noch die Rolle eines Königs ein, dem kein Konkurrent an die Seite gestellt werden durfte. Da Parlophone in Schottland praktisch eine Monopolstellung einnahm, war er gleichzeitig die Stimme des Landes, ein Status, in dem ihn Kenneth nach einigen Jahren ablösen sollte. Oscar stand kurz vor der Rente, und wenn ich seine Stellung bekäme, würde ich alles dafür geben, Kenneth unter meine Fittiche zu nehmen. Ich sagte ihm: „Ich bereite schon mal einen Vertrag für dich vor. Wir werden den Durchbruch schaffen! Ich hoffe, ich darf bei der Umsetzung meiner Pläne auf dich als Schlüsselfigur zurückgreifen.“

Sie können sich sicherlich die Enttäuschung vorstellen, als er mir von dem unausschlagbaren Angebot von Decca berichtete und seiner Absicht, die Zusammenarbeit mit Parlophone zu beenden. Auch eine Erhöhung unseres Angebots hätte ihn nicht umstimmen könne, da seine Entscheidung feststand. Decca, ein gutes und marktbestimmendes Label, hatte ihm ein anständiges Angebot gemacht. Parlophone wirkte im Vergleich dazu wie eine Sandkastenfirma, stand kurz vor einem Wechsel in der Führung und sollte in der Zukunft von einem Mann geleitet werden, der im Grunde genommen nur ein frisch von der Hochschule kommender Musikstudent mit einem Quäntchen Erfahrung war. Ich durfte ihm nicht böse sein.

Im Frühjahr 1955 hatte Oscar das Rentenalter erreicht und verschwand (mit seiner Enzyklopädie). Sir Joseph Lockwood bestätigte offiziell meine Ernennung zum Leiter von Parlophone, eine durchaus abenteuerliche Entscheidung, denn ich war ein Grünschnabel mit nur wenig Erfahrung im Musikgeschäft. Doch mir eröffnete sich eine große Chance. Ich war der Boss eines Plattenlabels und auf mich allein gestellt!

3 engl. Arse (vulg): Arsch

4 Anmerkung des Lektors: Heute = Anfang der 1980er Jahre.

Es begann in der Abbey Road

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