Читать книгу Schatten über der Insel - George Tenner - Страница 2
Prolog
ОглавлениеLieper Winkel, Usedom, Anfang Juni 2005
Der Juni war relativ trocken gewesen. Schon musste das Landratsamt die ersten Waldbrandwarnungen der Stufe drei auf der Insel Usedom ausrufen, und es war zu befürchten, dass die Stufe vier in den nächsten zwei Tagen folgen würde.
Der junge Mann war in der anbrechenden Dunkelheit durch das Wäldchen gekommen, hatte sich im Schutz einer kleinen Baumgruppe niedergelassen und beobachtete seine Umgebung. Auf der angrenzenden Wiese grasten zwei Pferde. Eines hatte wohl eine leichte Bewegung am Waldrand bemerkt, hatte den Kopf gehoben und stand einen Augenblick wie erstarrt da, den Wind schnaubend durch die Nüstern ausstoßend. Dann konnte es den Mann, der mit seinem Hintergrund verschmolzen war, nicht mehr erkennen. Es senkte den Kopf und begann mit dem, was einem Pferd am wichtigsten erscheint, dem Fressen des bereits angedörrten Grases. Der junge Mann wiederum lauschte den Geräuschen der anbrechenden Nacht. Das Uhh … uhhh … u uu uuuuu … eines Waldkauzes ließ ihn ein wenig erschauern.
»No stillness out here – a dream. Here where the moon rules – a dream. I hate this wood. Where there is no danger«, flüsterte er, um sich zu beruhigen.
Als hätte sie auf den Ruf des Kauzes nur gewartet, antwortete eine Eule ugrrruuuu gruuuu gruuu uuuu.
Er stand auf und bewegte sich sehr langsam auf den Saum des Waldes zu. Dicht bei den zu einer großen, länglichen Miete aufgetürmten Rundballen Stroh aus dem letzten Jahr sah er ein Rudel Rotwild äsen. Vorsichtig und äußerst misstrauisch hatten die Tiere die Wiese betreten, und wenn eins ihn entdeckte, würde das ganze Rudel zurück in den Wald flüchten. Die Pferde würden sich möglicherweise anstecken lassen. Die Unruhe der Tiere selbst war es nicht, die der Mann fürchtete. Vielmehr könnte einer der Förster oder ein Jagdpächter unterwegs sein und durch den Tumult auf den Vorfall aufmerksam werden. Eine vorzeitige Entdeckung käme einer Katastrophe gleich.
Geduldig hatte er gewartet, bis die Dunkelheit vollständig hereingebrochen war. Aufmerksam achtete er auf jedes Geräusch. Vor geraumer Zeit hatte er das Knattern eines Motorrads vernommen, das von der Straße zu ihm herübergedrungen war. Es kam selten vor, dass sich zu nachtschlafender Zeit ein Motorrad zwischen Morgenitz und Krienke verirrte. Die Wiesen und das Wäldchen lagen zu abgelegen und die Straße war zu schlecht, um einen Anreiz zur Benutzung zu geben.
Er hatte genau darauf geachtet, ob der Motor des Zweirads in der Nähe abgestellt wurde. Aber mit Befriedigung hatte er festgestellt, dass die Maschine über Krienke hinaus in Richtung Rankwitz gefahren war. Der leichte Wind hatte die Geräusche herübergetragen. Langsam schob er sich aus seiner Deckung heraus.
Er bückte sich, um zwischen den beiden elektrischen Drähten hindurch zu kriechen. Dann ging er gebückt und sehr langsam auf die Strohmiete zu.
Er stand jetzt zwischen dem Waldsaum und der Strohmiete, an die er sich nach einem weiteren Schritt nahezu anpresste. Aus seiner Umhängetasche nahm er eine Bierflasche mit Schnappverschluss und goss Flüssigkeit auf ein Polster aus Watte, das er zwischen zwei übereinander getürmte Rundballen legte. Dann nahm er ein Teelicht aus der Tasche, löste es aus der Aluminiumhülle und zündete es an. Die Aluminiumhülle steckte er in seine Hosentasche, die Bierflasche in die Tasche.
Er deckte mit seinem Körper das Licht ab und achtete genau darauf, dass der Schein der Kerze vom Wald aus nicht zu sehen war. Sehr vorsichtig drapierte er die Watte um die Kerze herum. Dabei passte er auf, der Flamme nicht zu nahe zu kommen. Das Feuer durfte nicht zu früh ausbrechen.
Leise, wie er gekommen war, schlich er zurück und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes.
*
Als die Sirene durch den Ort hallte, war es kurz nach zwei Uhr in der Nacht. Seit er nach Hause gekommen war und sich in sein Zimmer und ins Bett geschlichen hatte, hatte er wach gelegen. Er glaubte schon, es würde nie passieren. Als die Sirene losheulte, war es wie eine innere Befreiung. Gespannt wartete er auf einen Anruf seines Freunds Justus Rieck. Sie hatten sich geschworen, beim nächsten Brand dabei zu sein. Deshalb hatten sie vereinbart, ihre Handys am Bett zu deponieren.
Der Lebensgefährte von Justus’ Mutter, Nico Horstmann, war bei der Feuerwehr in der Stadt Usedom tätig. Justus würde also merken, wenn er zu einem Einsatz gerufen wurde. Die Feuerwehr Usedom gehörte dem Kreisfeuerwehrverband Ostvorpommern an. Nico hatte versprochen, den beiden Jungen den Einstieg in die Kreisjugendfeuerwehr des Verbands zu öffnen.
Fieberhaft wartete er auf einen Anruf von Justus. Er bemühte sich, seine Ungeduld zu zähmen. Keinesfalls wollte er der Erste sein, der den Kontakt aufnahm. Sorgfältig vermied er es, aufzufallen. Ein übermäßig starkes Interesse musste zweifellos irgendwann einen Rückschluss auf seine Bemühungen geben. Zweimal hatte er schon sein Handy in der Hand gehabt. Jedes Mal siegte sein Verstand, und er legte es auf den Nachttisch zurück.
Endlich klingelte das Handy.
Justus war sehr aufgeregt, als er sagte: »Es brennt. Nico fährt gerade los. Er sagt, es sei hier ganz in der Nähe. Zwischen Krienke und Morgenitz, irgendwo auf einer Wiese im Wald.«
»Und?«
»Nico konnte nicht auf mich warten. Aber wenn es so nah ist, dann könnten wir mit dem Rad hinfahren.«
»Einverstanden. Holst du mich ab? Ich ziehe mich nur an, dann warte ich unten auf dich.« Über das Gesicht des jungen Mannes huschte ein Lächeln des Sieges.
Er sah Justus in die kleine Straße einbiegen, in der er wohnte. Das Licht des Rads leuchtete hell.
»Endlich können wir mal ein Feuer ganz aus der Nähe sehen, Jörn«, sagte Justus. »Ich bin schon ganz aufgeregt. Nico hätte uns mitnehmen können.«
»Ja, hätte er. Aber wenn es hier in der Nähe ist, sind wir doch mit den Rädern schnell dort. Und wir sind beweglich und können zu jeder Zeit fahren, wohin wir wollen.«
Die beiden machten sich auf und fuhren die wenigen Meter, bis links die kleine Straße nach Morgenitz abbog. Sie mussten nicht allzu weit fahren, als die ersten Fahrzeuge der Feuerwehr und auch Zivilautos von Mitarbeitern der Wehr, die eiligst über Telefon verständigt worden waren, am Straßenrand standen. Über der Wiese lag eine Rauchwolke, die vom Wald herkam. Sie bogen links in den kleinen Weg ein. Nur zweihundert Meter weiter sahen sie, wie die Flammen im Wald hochschlugen.
»Ihr könnt jetzt hier nicht weiterfahren«, herrschte sie der uniformierte Mann an, der den Zugang unter Kontrolle hatte.
Die beiden Jungen drehten um, fuhren einige Meter zurück und legten ihre Räder in den Straßengraben. Dann umgingen sie die Straße, um von der Seite an den Brandherd heranzukommen. Es sah gespenstisch aus, wie die Feuerwehrleute die Schläuche ausrollten. Kurze Befehle hallten zu ihnen herüber. Man war dabei, einen kleinen Zulauf zum Achterwasser zu legen. Der lag etwas über einhundertzwanzig Meter vom Brandherd entfernt, doch mit sechs Schläuchen ging das relativ zügig und war keine große Herausforderung.
Die beiden Jungen sahen mit großem Interesse zu, wie schnell die Männer die Schläuche durch den Wald verlegten. Während Justus die allgemeine Situation am Einsatzort interessierte, schaute Jörn wie gebannt auf die meterhohen Flammen. Die Faszination des gespenstischen Flackerns und die Hitze, die von dem brennenden Haufen ausgingen, fesselten ihn in ganz eigenartiger Weise. Wer ihm jetzt ins Gesicht sah, konnte die Gier in seinen Augen sehen. Er war im höchsten Maße gefangen von dieser gewaltigen bösen Gefahr, die von dem Feuer ausging. Inzwischen hatten die Flammen bereits den Wald erreicht.
Erst gegen fünf, als der frühe Morgen von Osten heraufzog, waren die Flammen soweit gelöscht, dass ein Teil der Mannschaft abziehen konnte. Dennoch blieb ein Zug der Usedomer Feuerwehr vor Ort, um einzelne kleine Brandnester zu ersticken. Auch die beiden Jungen machten sich auf den Rückweg. Vor dem Wohnhaus Jörn Spielmanns trennten sie sich, und Justus fuhr allein die wenigen Meter nach Hause. Die Rückfahrt von der Brandstelle war relativ ruhig verlaufen. Beide Jungen waren auf ihre Art mit dem Feuer beschäftigt.
Justus dachte darüber nach, wie nützlich es doch war, dass es Feuerwehren gab. Er würde mit Nico noch einmal reden, damit sie einen schnellen Zugang zur Kreisjugendfeuerwehr bekamen.
Jörn wiederum war besessen von dem Wunsch, bald wieder an so einem Feuer teilnehmen zu können. Und beim nächsten oder übernächsten Feuer würden sie vielleicht schon beim Löschen des Brands helfen dürfen und waren dann für die Bewohner echte Helden. Diese Vorstellung begeisterte ihn.