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2. Kapitel
ОглавлениеMittwoch, 6. Juli 2005
Lasse Larsson bummelte die Heringsdorfer Friedensstraße entlang. Zurzeit hatte er etwas Luft. Die Aktenberge waren soweit abgearbeitet, dass Kriminalhauptkommissarin Inge Mohaupt mit ihrer Tochter in Urlaub fahren konnte. Nächste Woche würden die beiden an einen schönen Sonnenstrand nach Bulgarien fliegen. Larsson konnte das nicht verstehen. Für ihn gab es keinen besseren Strand mit viel Sonne, als den auf Usedom. Vor der Buchhandlung blieb er wie angewurzelt stehen. Die Gorki-Buchhandlung verkaufte auch Zeitungen. Er schaute auf das Bild, das ihn von einem der Blätter entgegenstarrte und auf die Bildunterschrift: »Das beweist auch diese Satellitenaufnahme des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde.« Die gesamte Ostsee war abgebildet. Man konnte deutlich die grünen Schlieren sehen, die die Quallenbedrohung deutlich machten.
»Wegen des warmen Wassers entstehen erste giftige Algen«, las Larsson weiter, »und aufgrund der anhaltenden Hitze dürfen die Wälder bei Warnstufe 4 auf Darß und Zingst nicht mehr betreten werden. Die für Usedom zuständige Landrätin Dr. Barbara Syrbe erwägt, diesem Schritt zu folgen. Ein riesiger Algenteppich, der inzwischen so groß ist wie Deutschland, hat auch Usedom erreicht! Droht Badeverbot in der Ostsee?«
Als Larsson aufschaute, sah er, wie eine Frau auf der anderen Straßenseite ihn interessiert beobachtete. Obwohl er ihr eine ganze Zeit den Rücken zudrehte, hatte er ihren Blick instinktiv gefühlt. Bevor er die Straße überquert hatte, war ihm die brünette Frau schon einmal aufgefallen. Sie mochte Mitte vierzig sein, sah gepflegt und ordentlich gekleidet aus. Was sie von anderen Leuten unterschied, war die etwas laute Sprechweise, die sie zu ihrem Begleiter pflegte. Sie schienen einen Meinungsunterschied auszutragen. Larsson hatte das nicht sonderlich interessiert. Aber nun stand die Frau auf der anderen Straßenseite und starrte ihn unvermittelt an.
Larsson ging einige Schritte weiter. Als er sich wieder nach der Frau umdrehte, sah er, dass sie über die Straße auf ihn zukam. Er blieb stehen und wartete. »Sie meinen nicht etwa mich?«, fragte Larsson und lächelte ihr entgegen.
»Ich habe eine Empfehlung von einem Freund erhalten, der mir sagte, dass sie ziemlich erfolgreich Fälle aufklären. Sie sind doch Kriminalhauptkommissar Larsson?«
»Ja, das bin ich. Sieht man mir das an?«
»Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«, fragte die Frau in dringlichem Ton, ohne auf seine scherzhafte Frage einzugehen.
Larsson taxierte sie noch einmal. Obwohl er nach wie vor den Eindruck hatte, dass sie zu laut auftrat, hatte sie nun sein ungeteiltes Interesse. »Wer bitte hat mich Ihnen empfohlen?«
»Der Direktor des Flughafens.«
»Hans-Jürgen Markmann?«
»Ja, wir kommen immer mit dem Flugzeug aus Köln. Einmal hatte ich ein Problem mit verloren gegangenem Gepäck und war völlig verzweifelt. Da hat er mir sehr geholfen. Wir hatten uns ein Haus gekauft, das unmittelbar am Flughafen lag. Es ist im vorigen Monat leider abgebrannt.«
Larsson dachte an die Brandserie, die Usedom seit einiger Zeit heimsuchte. »Die Brände werden von den Anklamer Kollegen bearbeitet. Damit haben wir in Heringsdorf nichts zu tun.« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass ihnen der Mann, der mit der Frau gekommen war, in einigem Abstand folgte. »Gehe ich recht in der Annahme, dass der Mann zu Ihnen gehört?«
»Ja.«
»Und warum reden Sie dann allein mit mir?«
»Weil er mir davon abgeraten hat, mit Ihnen zu sprechen.«
Sie gingen langsam in Richtung des Maritim Hotels Kaiserhof, das nun nur noch wenige Meter entfernt vor ihnen lag.
»Haben Sie Zeit auf einen Kaffee?«, fragte die Frau.
»Ja, ich würde allerdings gern wissen«, sagte Larsson, »wer mit mir so unbedingt sprechen will.«
Die Frau lächelte ihn an. »Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Inka Schröder.«
Sie gingen durch den Eingang in die Halle des Kaiserhofs. Die Tische im Foyer waren nur mäßig besetzt, sodass sie einen für sich allein hatten.
Kurze Zeit später kam ein Kellner an den Tisch.
»Nun, was für einen Kaffee möchten Sie, Frau Schröder«, fragte Larsson.
»Einen Cappuccino, bitte.«
Larsson gab die Bestellung auf. »Einen Cappuccino, bitte, und einen ganz normalen Kaffee.«
Der Direktor des Hotels ging durch das Foyer, sah zu Larsson herüber und nickte ihm grüßend zu. Die beiden Männer kannten und mochten sich.
»Sie hatten also ein Haus in der Nähe des Flughafens«, sagte Larsson, auf den Anfang ihres Gesprächs zurückkommend.
»In Zirchow, direkt am Haff. Eines dieser wunderschönen Reetdachhäuser. Wir haben es als Ferienhaus gekauft und für die Zeit, in der wir es nicht selbst bewohnten, zur Vermietung freigegeben.«
»Und das lohnt sich?«, fragte Larsson.
»Na ja. Wir hatten einen Teil der Kaufsumme finanziert. Und es reichte für die Zinsen und einen großen Teil der Abzahlung.«
Der Kellner kam und brachte den Kaffee.
Als er wieder weg war, sagte Larsson: »Diese Ferienhäuser kosten eine Menge Geld. Das kann sich nicht gleich jeder leisten.«
»Das Haus war versichert. Und wegen des Brandes will ich auch nicht mit Ihnen reden.«
»Wie ich schon sagte, für die Brandermittlung ist auch die Kriminalpolizei in Anklam zuständig«, betonte Larsson noch einmal.
»Damit hätte ich Sie auch nicht belästigt. Ich habe ein anderes Problem. Seit dem Brand ist meine Tochter Liisa verschwunden.«
Larsson dachte eine Sekunde nach. »Sie war nicht im Haus, als es brannte?«
»Nein, man sagte uns, im Haus waren zur Brandzeit allem Anschein nach keine Menschen.«
»Und das haben Ihnen die Ermittlungsbehörden gesagt?«
»Ja.«
»Wie hat man reagiert, als Sie sagten, dass Ihre Tochter seit dem Brand verschwunden ist?«
»Man hat gefragt, wie alt meine Tochter ist. Als ich sagte, dass sie gerade siebzehn geworden ist, hat man eine Vermisstenanzeige aufgenommen. Der Beamte meinte nur, dass Mädchen in diesem Alter sich des Öfteren selbstständig machen.«
»Hat Ihre Tochter einen Freund?«, fragte Larsson.
»Genau das hat Ihr Kollege Schubert auch gefragt.«
»Und, hatte sie?«
»Ja, aber der konnte nicht mit auf die Insel fliegen, weil er im Außenhandel arbeitet. Er ist zurzeit in den Staaten. Für Liisa ist das der erste Freund.«
»Und das wissen Sie sicher?«
»Ganz sicher«, sagte die Frau. »Wir haben vom Flughafen mit ihm in seinem Hotel in Boston telefoniert. Man hat uns auf sein Zimmer verbunden, und Liisa hat lange mit ihm gesprochen.«
»Ich kann ja in Anklam noch einmal nachfragen. Aber sonst kann ich leider nichts für Sie tun. Wo kann ich Sie denn erreichen?«
Die Frau nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und sagte: »Über meine Handynummer erreichen Sie mich zu jeder Zeit. Wir haben uns eine Ferienwohnung in der alten Schule in Neu-Sallenthin genommen.«
Larsson winkte dem Kellner und verlangte die Rechnung. Obwohl sich die Frau dagegen wehrte, bezahlte Larsson die beiden Tassen Kaffee. Dann gingen sie gemeinsam zum Ausgang. Vor der Tür trafen sie auf ihren Mann, der sich in der Zwischenzeit wohl irgendwie die Zeit vertrieben hatte.
»Der Kommissar kann auch nichts machen«, sagte die Frau zu ihm.
»Das habe ich dir ja gleich gesagt. Du hättest den Mann damit nicht belästigen sollen. Schließlich haben die ja ihre Vorschriften.«
Mit einem »Einen angenehmen Aufenthalt noch!«, drehte sich Larsson um und ging die wenigen Meter zur Kriminalaußenstelle in der Seestraße. Kurz bevor er den Eingang zum Polizeirevier erreicht hatte, meldete sich sein Handy. Es war der Direktor des Heringsdorfer Flughafens.
»Weshalb ich dich anrufe, Lasse, ich habe dich einer Bekannten empfohlen, deren Tochter verschwunden ist. Vielleicht kannst du ja irgendetwas für sie tun.«
»Die Frau hat bereits mit mir gesprochen. Aber ich sehe eigentlich gar keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Zuerst muss sie eine ordentliche Vermisstenanzeige aufgeben. Dann wird das von der zuständigen Fachabteilung in Anklam bearbeitet. Mehr kann ich dir gar nicht dazu sagen.« Larsson merkte, dass seine Antwort den Anrufer nicht richtig zufriedenstellte. Aber was sollte er machen? Nach einigen lapidaren belanglosen Sätzen über eine Flugvorführung des Clubs, die am Wochenende stattfinden sollte, beendeten sie das Gespräch.
In seinem Büro angekommen, wählte er die Telefonnummer Inge Mohaupts.
»Was machen die Urlaubsvorbereitungen«, fragte Larsson, nachdem sie sich gemeldet hatte.
»Sie laufen noch. Aber deshalb rufst du doch wohl nicht an«, lachte Inge.
Larsson fühlte sich ertappt. »Nein, nicht wirklich. Ist Schubert da?«
»Er ist beim Chef.«
»Ihr habt in eurer Abteilung den ersten Brand der Serie bearbeitet … Es geht um ein Haus in Zirchow.«
Inge Mohaupt holte sich die Informationen zu dem Fall auf den Bildschirm ihres Computers. »Ja. Wieso interessierst du dich dafür?«
»Dabei ist ein junges Mädchen verschwunden«, sagte Larsson lakonisch.
»Liisa Schröder. Der Fall ist abgeschlossen, Lasse.«
»Ich weiß. Die Mutter hat heute mit mir gesprochen. Sie ist aber immer noch auf der Suche nach ihrer Tochter.«
»Eine Ausreißerin, wahrscheinlich eine Ausreißerin, wie viele Mädchen in diesem Alter.«
»Daran glaubt die Mutter nicht.«
»Sie ist vielleicht mit irgendeinem Jungen durchgebrannt. Ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass das vorkommt.«
»Nein, sie hat einen Freund, der gerade in Amerika ist, und sie ist sehr verliebt, sagte die Mutter. Sie würde keinesfalls mit irgendeinem Jungen durchbrennen.«
Inge Mohaupt überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Du weißt, dass wir ohne die Genehmigung des Chefs die Ermittlungen nicht wieder aufnehmen können, wenn sie bereits abgeschlossen sind.«
»Wer sagt dir, dass ich irgendetwas aufnehmen will. Ich würde mir nur allzu gern mal den Bericht anschauen. Kannst du ihn mir mailen?«
»Ich müsste Schubert erst fragen. Er war der Leiter der Ermittlung.«
Larsson lachte gequält auf. »Du weißt, wie er zu mir steht.«
»Das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit«, stellte Inge Mohaupt fest. »Vielleicht fragst du ihn ja selbst.«
»Vergiss es, Inge. Danke für deine Hilfe.« Larsson legte den Hörer auf. Dass Frauen sich immer so unkooperativ verhalten müssen, dachte er ärgerlich.
Dann durchdachte er noch einmal das Gespräch mit dieser Inka Schröder. Sie machte nicht den Eindruck einer Mutter, die sich grundlos über das Verschwinden ihrer Tochter aufregt. Und der Mann, mit dem sie da war? Larsson hatte nicht gefragt, ob es sich um den Vater des Mädchens handelte, aber er nahm an, dass er der Ehemann oder der Liebhaber war. Schön, er hatte keinen Auftrag, zu ermitteln. Allein auf den Wunsch der Frau hin, ohne jeglichen Tatverdacht, konnte er kaum ermitteln.
Gerade als er den Hörer des Telefons aufgenommen hatte, um Inka Schröder anzurufen, bemerkte er den Eingang einer E-Mail. Sie kam von Inge Mohaupt. Inge hatte ihm die komplette Ermittlungsakte im Fall des Hausbrands zugeschickt. So sehr er sich auch bemühte, eine Fahndungslücke in den Unterlagen zu finden, musste er sich bald eingestehen, dass Schubert ordentlich gearbeitet hatte. Was die Anzeige der Frau wegen des Verschwindens ihrer Tochter betraf, so hätte er selbst auch nicht anders gehandelt. Larsson fischte die Visitenkarte von Inka Schröder aus seiner Tasche und begann die Nummer zu wählen. Bevor er die letzte Zahl eingab, legte er wieder auf. Dafür aber wählte er die Nummer Inge Mohnhaupts.
»Bist du allein?«, fragte er, als sie den Hörer abnahm. »An Schuberts Untersuchung ist nichts auszusetzen. Aber dennoch«, er lachte, und sie hörte sein Lachen mit dem besonderen Unterton, den sie kannte, wenn er einen Fehler entdeckt hatte, »ihr habt einen Schreibfehler in der Akte, der sich dauernd wiederholt.«
Inge Mohnhaupt wusste sofort, worauf Larsson hinauswollte.
»Du meinst Liisa?«
»Ihr habt sie mit zwei i geschrieben. Liisa, das habe ich so noch nie gehört.«
»Tja, mein lieber Lasse, einmal ist immer das erste Mal. Der Name ist richtig, denn ihr Vater ist ein Finne und dort schreibt man den Namen so.«
»Aus Finnland?« Sie hörte seine leichte Verärgerung darüber, dass er das nicht selbst erkannt hatte.
»Na ja, Holopainen wollte sie nach der Trennung ihrer Eltern nicht heißen …«
Er ging ins Büro der Kommissare. Andresen und Simons unterhielten sich über einen Sexskandal, an deren Aufdeckung sie beteiligt waren. Ein vierundvierzigjähriger Mann befand auf einem Campingplatz in Zempin und wollte über ein ungesichertes W-LAN-Netz ins Internet. Dort geriet der Urlauber durch Zufall auf die Festplatte des Notebooks eines anderen Urlaubers. Er fand kinderpornografisches Material. Es waren acht bis vierzehnjährige Jugendliche beider Geschlechter zu sehen. Weil Larsson zu einer Dienstbesprechung in Schwerin war, hatte Andresen den Einsatz geleitet. Sie konnten einen Mann aus Bayern festnehmen und seinen Rechner beschlagnahmen. Beim Verhör musste der Mann zugegeben, mehr als fünfzig kinderpornografische Dateien zu besitzen. Sie wurden eingezogen und eine Wohnungsdurchsuchung in seinem Heimatort veranlasst.
»Ich bin mal für eine halbe Stunde außer Haus«, sagte Larsson. »Ihr könnt mich übers Handy erreichen. Wer hat den Autoschlüssel?«
Simons nahm den Schlüssel aus seiner Schreibtischschublade und hielt ihn Larsson hin. »Fahr bitte vorsichtig, wir brauchen den Wagen noch.« Dabei kniff er ein Auge zu.
Larsson wandte sich ab. Er winkte seinen Männern noch einmal zu, verließ das Büro und ging hinunter zum Dienstwagen. Im Frühjahr hatte man eine Reihe neuer Dienstfahrzeuge angeschafft. Im Gegensatz zu früher leaste die Polizei die Fahrzeuge nun und erneuerte sie bei Bedarf. Das war ein wesentlicher Vorteil, der sich nun auch für seine Ermittlungsgruppe auszahlte. Langsam fuhr er vom Hof, bog rechts in den Setheweg ein, um nach wenigen Hundert Metern auf die Neuhoferstraße einzubiegen. Zehn Minuten später hielt er vor der alten Schule in Neu Sallenthin. Vor dem Eingang des Hauses stand eine hölzerne Sitzgruppe, auf der sich ein älteres Ehepaar niedergelassen hatte.
Larsson stieg aus dem Wagen und ging auf das Haus zu. »Guten Tag. Mein Name ist Larsson, ich suche eine Frau Schröder. Können Sie mir weiterhelfen?«
»Wenn Sie am Haus hier vorbeigehen und über die Wiese, dann sehen Sie unten den Steg am großen Krebs-See. Da wollte sie hingehen. Wir haben dort ein Boot liegen.«
Larsson ging am Haus vorbei zwei Stufen hoch und sah vor sich eine lange, abschüssige Wiese bis zum See hinunter. Auf der linken Seite, etwas weiter unten, standen mehrere Gartenstühle unter einer großen Eiche. In einem davon saß Inka Schröder und las ein Buch. Sie schien ihn nicht kommen zu hören, denn sie sah nicht auf, als er näherkam.
»Entschuldigen Sie, Frau Schröder, darf ich mit Ihnen noch einmal kurz sprechen?«, sprach er sie an.
Die Frau hob den Blick und klappte das Buch zu. Larsson konnte sehen, dass es Max Frischs Roman »Montauk« war.
»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, wollte sie wissen.
»Nein.«
»Und dann kommen Sie bis hierher?«
»Ich habe mir die Unterlagen von der Brandermittlung kommen lassen«, begann Larsson, während er sich auf einen der Stühle am Tisch setzte. »Nur so viel dazu: Die Polizei hat bisher formal ordentlich gearbeitet. Anders hätte ich auch nicht verfahren können, wenn Sie zuerst zu mir gekommen wären. Bei dem Brand ist ein Brandbeschleuniger benutzt worden. Die Analyse hat ergeben, dass es Benzin war.«
»Und meine Tochter?«
»Eine Leiche wurde ja in dem Haus nicht gefunden. Das hatte man Ihnen doch schon gesagt. Also ist das eine zweite Baustelle«, stellte Larsson fest. »Sie müssten jetzt noch einmal telefonisch nachfassen, damit eine Fahndung nach Ihrer Tochter herausgegeben wird.«
»Können Sie das nicht für mich erledigen?«, fragte die Frau.
»Nein, in diesem Fall müssen Sie das selbst machen. Ich bin nicht offiziell hier, aber da Sie mich angesprochen haben, möchte ich mir ein Bild von Ihrer Tochter machen.«
»Warum? Wenn Sie ja doch nichts unternehmen können.«
»Ich kann zumindest einmal mit dem für diese Ermittlung zuständigen Beamten sprechen. Aber erst wenn Sie die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, wird eine Bearbeitung in der dafür zuständigen Fachabteilung stattfinden. Das ist das offizielle Prozedere und das gilt auch für mich.«
Inka Schröder lud Larsson mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. »Und wie sieht das offizielle Prozedere in der Praxis aus?«, fragte sie.
»Ihre Tochter geht in die Fahndung. Haben Sie, als Sie mit den Kollegen sprachen, ein Foto Ihrer Tochter abgegeben?«
»Nein.«
»Können Sie auf die Schnelle eins besorgen?«
»Natürlich. Wir haben eine ganze Serie Fotos auf dem Laptop.«
»Dann sollten Sie die Erneuerung Ihrer Vermisstenanzeige mittels einer SMS nach Anklam schicken. Da können Sie gleich ein Bild anhängen. Mit Bild sind die Chancen besser, Ihre Tochter zu finden.« Larsson erklärte ihr in wenigen Sätzen die Arbeit der Kollegen bei der Suche nach einer vermissten Person. Man würde alle Kontakte nutzen, die ins Rotlichtmilieu gehen, um zu sehen, ob dem Mädchen etwas in dieser Art zugestoßen war. Aber es gab auch andere Kontakte, die man nutzen konnte. Vor allem war es nötig, das Umfeld des Mädchens zu beleuchten. Mit wem hatte sie Kontakt, zu Hause am Rhein und auch hier auf der Insel. Aber das würden die Kollegen erst machen, wenn eine ordnungsgemäße Anzeige bei ihnen vorlag.
»Das Entscheidende dabei«, sagte Larsson, »sind die Details. Wenn man die übersieht, ist man verloren, und wenn man sie nicht versteht zu interpretieren, wird man auch nichts finden.«
Die Frau erkannte, dass Larsson recht hatte. Es gab nichts, was es in dieser Welt nicht gab. Und einem jungen Mädchen konnte alles passieren.
»An wen soll ich die SMS schicken?«
»Sie haben mit Hauptkommissar Schubert gesprochen?«
»Ja.«
»Dann sollten Sie ihm diese schriftliche Vermisstenanzeige direkt schicken. Er wird das dann an die Abteilung Personenfahndung weitergeben.«
Inka Schröder bedankte sich für sein Kommen und das Gespräch.
Larsson stand auf und gab ihr die Hand. »Ich möchte noch eine persönliche Frage stellen.«
Die Frau sah ihn irritiert an. »Bitte?«
»Der Mann in Ihrer Begleitung, ist das der Vater Ihrer Tochter?«
»Er ist mein Lebenspartner. Und nein, Martin Horowitz ist nicht der Vater meiner Tochter. Ich lebe von meinem Mann getrennt. Jeder geht seine eigenen Wege.«
»Was für ein Verhältnis hat Ihre Tochter zu Ihrem Lebenspartner?«
»Sie hat ihn mehr oder weniger akzeptiert.«
»Und er? Was für ein Verhältnis hat Ihr Lebenspartner zu Ihrer Tochter?«
Die Frau lachte auf. »Sie glauben nicht etwa daran, dass Martin etwas damit zu tun haben könnte?«
»Es geht nicht darum, was ich glaube. Bei Ermittlungen zählen immer nur die Fakten. Und da wird das gesamte Umfeld von Ihrer Tochter, von Ihnen, von Ihrem Lebenspartner und ganz sicher auch von Ihrem Mann überprüft.«
»Da liegen Sie sicher ganz falsch. Wir sind eine glückliche Familie. Auch wenn mein Mann aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist. Wir haben uns eingerichtet. Meine Tochter lebt in der Hauptzeit bei uns, und hin und wieder fährt sie mit ihrem Vater mit seiner Jacht den Rhein entlang. Und es hat deswegen noch nie Krach gegeben.«
»Sie haben gesagt, dass Sie nicht glauben, Ihre Tochter sei weggelaufen. Fast hoffe ich aber für Sie, dass es so ist …«, schloss Larsson das Gespräch.
Larsson ging zurück zu seinem Wagen. Vor dem Eingang der alten Schule saßen noch die beiden älteren Leute. Er winkte ihnen zu und der Mann winkte zurück. Rückwärts ließ er den Wagen aus der Einfahrt gleiten und fuhr den Berg hinunter durchs Dorf Neu Sallenthin. Er wählte die Handynummer Inge Mohaupts.
»Ich habe noch eine Frage, Inge« sagte er.
»Im Augenblick habe ich keine Zeit für dich, Mutter«, antwortete Inge Mohaupt. »Ich rufe dich später zurück.«
Larsson verstand, dass sie im Augenblick nicht allein im Büro war. Wahrscheinlich saß ihr gerade Schubert genau gegenüber, und es war schlau von ihr, das Gespräch auf diese Weise zu beenden.
*
Kurz vor zwei meldete sich Inge wieder.
»Ich war vorhin nicht allein, Lasse.«
»Ich weiß.«
»Es war nicht nur Schubert, auch der Kriminaloberrat war hier im Raum.«
»Verstehe.«
»Es gibt einen Bekennerbrief zu den Bränden.«
Larsson stieß einen leichten Pfiff aus. »Einen Bekennerbrief. Und was gedenkt Schubert damit anzufangen?«
»Das ist es, was mich aufregt. Er weiß es nicht. Schubert überlegt, ob er ihn veröffentlichen soll.«
»Aber doch wohl nicht zu diesem Zeitpunkt, immerhin wird auch noch ein Mädchen vermisst«, warf Larsson ein.
»Ich habe ihm das auch gesagt.«
»Was steht in diesem Brief?«
»Das ist ja das Kuriose. Er ist in Italienisch verfasst.«
»Und? Habt ihr schon die Übersetzung?«
»Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi! Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen«, sagte Inge Mohaupt.
»Kannst du mir das jetzt mailen?«
»Ich schicke es dir gleich rüber.«
»Sieh zu, dass Schubert erst einmal in dieser Frage gar nichts unternimmt.«
»Hast du eine Idee?«
»Ich denke schon. Aber schick es her.«
Sie beendeten das Gespräch, als Schubert, der scheinbar im Haus unterwegs gewesen war, wieder zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte und Inge auflegen musste.
Kurze Zeit später war die E-Mail mit der Kopie des Briefs eingetroffen. Larsson druckte die Nachricht aus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch. Er las es wieder und wieder: Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi! Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen.
Larsson versuchte, ein erstes Täterprofil aus dem kurzen Text zu erstellen, und die erste Einsicht war schnell gewonnen: Es war eindeutig keine Beziehungsangelegenheit. Als Tatmotiv schied also verletzte Eitelkeit und Eifersucht aus. Es war eine Warnung für all diejenigen, die keine Einheimischen waren, aber hier Häuser als Geldanlage aufkauften und dann nur selten nutzten.
Aufgrund der Schrift schätzte er das Alter des Schreibers zwischen sechzehn und zwanzig. Höchstwahrscheinlich entstammte der Verfasser der Mittelschicht und verfügte über eine angemessene Bildung. Darauf ließ jedenfalls die Wortwahl schließen. Er legte das Papier in die obere Schublade seines Schreibtischs und verschloss sie sorgfältig. Nichts ist interessanter, dachte er, als dem Code des Bösen zu folgen und aus diesem erfolgreich Schlüsse ziehen zu können. Neuerdings interessierte sich Lasse sehr für Profiling. Aber das behielt er erst einmal für sich.