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3. Kapitel
ОглавлениеMontag, 11. Juli 2005
Die Tagesarbeit hatte die Kommissare in der Außenstelle Heringsdorf wieder eingeholt. Routinefälle meist, die Larsson langweilten und ermüdeten.
An diesem Montag änderte sich das schlagartig. Gleich am Morgen hatten Angler einen grausigen Fund gemacht. Ein menschlicher Arm, der durch das Aufwirbeln des Wassers durch die Schiffsschraube an die Oberfläche gekommen war, wurde vom Eigner des Boots sichergestellt. Dieser hatte dann auch über die 110 in der Notrufzentrale in Anklam Bescheid gesagt. Die Notrufzentrale schickte sofort einen Streifenwagen. Die beiden Polizisten nahmen eine Reihe von Aussagen auf und informierten dann die Kriminalbereitschaft. Der Kriminaldauerdienst benachrichtigte, wie es allgemein üblich ist, die Staatsanwaltschaft und telefonierte kurz mit der Rechtsmedizin in Greifswald; parallel dazu wurde der Chef der Mordkommission im Haus benachrichtigt, und Kriminaloberrat Kruse beauftragte dann seinerseits die Kriminalaußenstelle Heringsdorf mit dem Fall.
»Wir haben eine neue Leiche«, sagte Kriminalkommissar Andresen, nachdem er bei Larsson angeklopft hatte und schließlich vor dem Schreibtisch seines Chefs stand. »Na ja, keine ganze Leiche, aber einen Teil davon, nämlich einen Arm.«
»Wo?«
»Querab Ostklüne im Usedomer See.«
»Dann lass uns eben hinfahren. Sagst du Karl Bescheid?« Larsson nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Er stand auf, verschloss sorgfältig die obere Schublade seines Schreibtischs und nahm sein Sakko, das über der Stuhllehne hing, während Andresen im Büro der Kommissare vorbei ging und Simons instruierte.
Sie fuhren bis Welzin, sahen die kleine Verbindung zum Wasser, fuhren aber weiter, bis nach Ostklüne, wo man den aufgetriebenen Arm aus dem Wasser gefischt hatte. Direkt am Ufer stand ein Funkwagen der Polizei, und wenige Meter im Wasser lag ein Cranchi Clipper 760, ein schnittiges Boot mit 280 PS. Die beiden Polizisten des Streifenwagens waren im Gespräch mit dem Bootseigner, als Larsson auf sie zufuhr.
»Hallo Herr Larsson«, begann der ältere Polizist das Gespräch. »Das ist Herr Magnus Dollinger, der sein Boot in der Marina in Balm liegen hat. Er und seine Begleiterin haben den Arm aus dem Wasser gefischt.«
Der Fund eines Leichenteils hatte sich bereits wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Gierige Voyeure suchten Lücken in der Absperrung, um an Informationen aus erster Hand zu kommen.
»Sie müssen die Neugierigen besser zurückhalten.« Larsson sah auf das am schmalen Schilfgürtel liegende Fragment eines Armes. Er ging näher und beugte sich herab. »Sieht aus wie ein Frauenarm«, sagte er. »Jedenfalls den Fingernägeln nach.« Dann drehte er sich zu den beiden Polizisten um. »Decken Sie bitte den Arm ab, es sind schon die Fliegen dran. Haben Sie einen Bestatter mit der Abholung des Arms beauftragt?«
Einer der Männer verneinte das, und Larsson beauftragte Andresen, einen Leichenwagen zu bestellen. Dann wählte er die Nummer der Einsatzleitung, schilderte kurz den Fall und forderte die Taucher an, um nach dem Resttorso suchen zu lassen. Als er sich umdrehte, sah er den alten T4 der Spurensicherung kommen.
»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«, begrüßte er Paul Maier, der diese Redensart Larssons kannte und der den Satz vollendete: »Der weite Weg, Graf Isolan … ich weiß, Lasse, aber es ist heute schon unser zweiter Einsatz.«
»Warum fahren Sie eigentlich mit dem wunderschönen Boot in diesem versotteten Wasser, Herr Dollinger?«, fragte Larsson über den Usedomer See blickend mit einem Lächeln.
»Es ist kein Wunder, dass der See bei dieser Wärme blüht. Wir vermuten hier noch einige abgesoffene, alte Schiffe tauchen hin und wieder danach.«
Larsson sah die Sauerstoffflaschen für die Tauchgeräte und zwei Angeln. »Ich wette«, sagte er, »dafür gibt es sicher auch einen Verein. Für was gibt es eigentlich in Deutschland keinen Verein?« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Maier den gefundenen Arm in Augenschein nahm und seine Arbeit begann.
Dollinger hob die Schultern und sagte: »Nicht der Verein ist das Wichtige, das Wichtige ist, dass wir ab und an etwas sicherstellen können, was der Nachwelt sonst verloren geht.«
»Wann genau haben Sie den Arm gefunden?«
»Wir waren sehr zeitig unterwegs. Ich denke, es war kurz nach sieben.«
»Wer außer Ihnen hat den Fund gesehen?«, fragte Andresen, der inzwischen den Abtransport des Armes zur Rechtsmedizin nach Greifswald organisiert hatte.
»Niemand. Wir beide waren allein. Um diese Zeit frühstücken die meisten noch«, sagte Dollinger.
»Um die Uhrzeit … noch ganz allein? Bei diesem Wetter?«, warf Andresen zweifelnd ein.
»Jedenfalls hier in dieser Ecke. Ich weiß nur, als wir den Arm herausfischten, dass eines der Fischerboote hinaus ins Stettiner Haff gefahren ist. Aber die haben sich nicht um uns gekümmert. Und wir haben uns auch nicht um andere gekümmert.«
Larsson schaute auf das junge Mädchen in ihrem äußerst knappen Bikini. Sie passt nicht ganz zum Alter des Mannes, dachte er, hütete sich aber, etwas zu sagen. Es wird zu allen Zeiten so gewesen, dachte er, dass die jungen Dinger sich einen Kerl suchen, von dem sie glauben, er könne ihre Nachzucht ernähren. Aber dann stellte er für sich fest, dass mit zunehmender Kapitalisierung die Auswahlkriterien härter geworden waren.
»Der See ist wohl nicht besonders tief«, sagte Larsson zu Dollinger.
»Ist er nicht«, bestätigte er. »Deshalb ist es auch so eine trübe Brühe. Man kann nur mit einem sehr flach gehenden Boot hier ungestraft fahren. Sonst hat man sich im Nu die Schraube abgeschert. Und das ist der ganze Spaß gar nicht wert!«
Larsson prüfte, was einer der Beamten des Streifenwagens aufgenommen hatte. »Haben Sie nicht Bedenken, einmal einer Leiche in dieser trüben Brühe zu begegnen«, fragte er Dollinger.
»Der Tod ist ein Teil des Lebens.« Dollinger lächelte überlegen. »In meiner Zeit als Oberst-Arzt bei der Bundeswehr ist mir so manche Leiche begegnet. Speziell im Auslandseinsatz.«
»Sie waren in Afghanistan?«, warf Andresen ein.
»Auch. Zuerst im Kosovo. Später auch in Afghanistan.«
»Das Leben ist ein ständiges Kommen und Gehen«, sagte Larsson lapidar.
»Du solltest dir etwas überziehen, Angela«, sagte Dollinger zu dem jungen Mädchen im Boot. »Sonst holst du dir noch einen Sonnenbrand.«
Noch während sie über die Möglichkeit diskutierten, in diesem See auf ein weiteres altes, hölzernes Wrack eines Boots aus der Wikingerzeit zu stoßen, kam ein Halbgruppenwagen der Polizei mit mehreren Insassen angefahren.
Langsam kommt die Ermittlungskette in Gang, dachte Larsson, während er dem Wagen entgegenging.
»Ich nehme an, einer von Ihnen ist Kriminalhauptkommissar Larsson«, sagte ein Mann mittleren Alters.
Larsson war nun an den Kleinbus herangetreten und sagte: »Ich bin Larsson, Lasse Larsson. Gehören Sie zu der Taucherstaffel, die ich angefordert habe?«
»Kurt Salomon, ich leite die Truppe«, stellte der Mann sich vor und gab Larsson die Hand. »Wir sind eigentlich nur die Vorhut. Vielleicht können wir schon ein wenig anfangen, denn das Taucherbasiskraftfahrzeug ist nicht ganz so schnell wie wir. Aber wir brauchen den Wagen, weil damit die gesamte Ausrüstung gebracht wird, einschließlich der Möglichkeit, die Flaschen nachzufüllen.« Und mit einem Blick auf den blühenden See sagte er: »Das wird mächtigen Spaß machen, in diesem Dreck zu tauchen.«
Nur wenig später tauchte der dunkelgraue Leichenwagen einer Wolgaster Beerdigungsfirma auf und quälte sich durch eine Traube neugieriger Menschen.
Larsson sagte zu den Beamten des Streifenwagens: »Sie müssen die Zufahrt besser sichern. Es kann nicht sein, dass unsere Leute bei ihrer Arbeit behindert werden.« Er wandte sich an die beiden Männer des Leichenwagens und wies sie an, sich mit Maier zu arrangieren. Eine Dreiviertelstunde später, nachdem die Spurensicherung den Arm freigegeben hatte, fuhren sie in die Rechtsmedizin nach Greifswald.
Der Fahrer des Halbgruppenwagens rangierte das Fahrzeug so, dass er dem nachfolgenden Wagen der Tauchergruppe nicht im Weg stehen würde. Die Männer waren ausgestiegen und besprachen sich, wie sie den See systematisch absuchen würden. Schließlich maß er zweieinhalb mal gut zwei Kilometer. Sie einigten sich darauf, zuerst den Zugang zum Stettiner Haff abzusuchen und dann in Quadrate aufgeteilt den Rest des Sees.
Salomon zeichnete mit einem Aststück das Aufteilungsgitter mit den Quadraten in den Sand.
Sie wurden aufgeschreckt, als sie das Brummen eines Lastwagens hörten. Ein grüner Mercedes mit Kofferaufbau und einem großen einachsigen Anhänger wurde sichtbar, das verspätete Fahrzeug der Tauchergruppe. Es dauerte eine halbe Stunde, dann war das Fahrzeug ausgeladen, und die Taucher konnten endlich ihre Arbeit beginnen. Während die ersten Männer ins Wasser stiegen, um den Zugang zum Haff abzusuchen, telefonierte Larsson mit dem Institut für Rechtsmedizin in Greifswald.
»Ich habe eine Frage und eine Bitte, liebe Frau Dr. Beckert. Ich brauche die DNA des Arms, der Ihnen gleich gebracht wird. Ich habe da eine Vermutung, und ich werde das Vergleichsmaterial dazu gleich beschaffen.«
»Du hast also eine Vermutung«, sagte Andresen, als Larsson die Verbindung unterbrochen hatte.
Larsson nickte, sagte aber nichts. Er suchte die Visitenkarte von Inka Schröder in seiner Tasche, fand sie und wählte ihre Nummer. Nach einigen Klingelzeichen nahm sie ab.
»Inka Schröder, guten Tag.«
»Larsson, guten Tag, Frau Schröder.«
»Wenn Sie anrufen, Kommissar, gibt es etwas Unerfreuliches zu berichten.«
»Das kann ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber ich brauche etwas, um die DNA Ihrer Tochter feststellen zu lassen und für …«
»Das bedeutet nichts Gutes«, wurde Larsson von der Frau mit nervöser Stimme unterbrochen.
»Frau Schröder, wir haben etwas gefunden, ja, und dazu brauchen wir einen Vergleich.«
»Mein Mädchen?« Sie schrie schon fast ins Telefon.
»Es wäre im Augenblick unverantwortlich, Ihnen das so zu bestätigen.«
»Warum wäre das unverantwortlich?«
Larsson schaute Andresen fragend an, aber der zuckte mit den Schultern, weil er wusste, dass er seinem Chef nicht helfen konnte.
»Weil es keine Leiche gibt. Jedenfalls noch nicht.« Als die Frau nichts antwortete, fuhr er fort: »Wir haben ein Leichenteil gefunden, genauer gesagt, einen Arm, von dem ich glaube, dass er zu einer Frau gehört. Aber auch das muss erst noch von der Rechtsmedizin bestätigt werden.«
Die Frau war erstaunlich ruhig, als sie sagte: »Ich werde Ihnen eine Haarbürste meiner Tochter schicken. Glauben Sie, dass das reicht?«
»Bestimmt.«
»Ich schicke es mit der nächsten Maschine, die von Köln nach Heringsdorf liegt. Und sollten Sie sie finden … sie hat ein Muttermal genau unterhalb des Nabels.« Die Stimme der Frau versagte.
»Ich danke Ihnen.«
Larsson zeigte ärgerlich auf die immer näher rückenden Menschen und sagte zur Besatzung des Funkwagens: »Wenn Sie es nicht allein schaffen, die Leute fernzuhalten, müssen Sie Verstärkung anfordern.« Er schaute einen Augenblick zu, wie die beiden Beamten sich damit abmühten, die jugendlichen Voyeure hinter ein Absperrband zu drängen, das sie gespannt hatten.
Dann drückte Larsson die Kurzwahl der Nummer des Flughafendirektors. »Kannst du mir sagen, Hans-Jürgen, wann die nächste Maschine aus Köln in Heringsdorf landet?«, fragte er Markmann, als dieser sich meldete.
»Gibt es für die Frage einen bestimmten Grund?«
»Du hast neulich eine Frau Schröder zu mir geschickt. Es gibt eine Entwicklung, die einen DNA-Vergleich notwendig macht. Frau Schröder wird eine Tüte für mich mit der nächsten Maschine mitschicken. Ruf mich bitte an, wenn diese Tüte eingetroffen ist.«
Markmann nannte Larsson die nächste Ankunft einer Maschine aus Köln und versprach ihm, ihn sofort zu informieren, wenn er das Paket bekam.
Gegen Mittag brannte die Sonne erbarmungslos auf das Land, und die Einsatzkräfte der Suchtrupps und der Spurensicherung, die ihr schutzlos ausgesetzt waren, wünschten sich einen schattigen Platz. Doch es gab keinen Schatten, wo sie den Torso suchten. Die Männer des Tauchertrupps hatten zwei große Schlauchboote aufgepumpt, mit dem die einzelnen Taucher an ihren Einsatzort gebracht wurden.
»Ich denke, wir können hier im Augenblick nichts ausrichten«, sagte Larsson. »Vielleicht sollten wir in den nächsten Ort fahren und versuchen, etwas zu trinken aufzutreiben.« Er ging hinüber zum Taucherbasisfahrzeug. Salomon war mit zwei Mitarbeitern ins Gespräch vertieft.
»Ich denke, wir werden hier im Augenblick nicht gebraucht«, sagte Larsson. »Wir wollen noch mal nach Usedom Stadt fahren und im Hafen fragen, ob irgendjemand etwas gesehen hat.« Er gab Salomon eine Karte mit seiner Handynummer. »Rufen Sie mich bitte an, wenn sie etwas finden.« Er deutete auf die Männer der Spurensicherung, die an ihrem Wagen standen und sich mit einem gekühlten Drink aus einer Kühlbox erfrischten. »Unsere Spurensicherung bleibt, bis Sie Ihren Einsatz beenden.«
Er war noch nicht am T4 der Spurensicherung angekommen, als er in der Nähe einen lauten Pfiff hörte. Larsson drehte sich um und sah, dass in einem etwa zweihundert Meter entfernten Schlauchboot Unruhe aufgekommen war. Handzeichen wurden von dem Mann im Boot in Richtung Einsatzwagen gegeben und Salomon antwortete darauf seinerseits ebenfalls mit ausholenden Gesten.
»Wir haben etwas gefunden«, rief Salomon Larsson zu.
»Meine Leute haben mir signalisiert, dass sie einen Torso gefunden haben.«
Wenig später hörten sie den Motor des Boots und sahen, wie es Fahrt aufnahm und schnell auf sie zukam. Der Anblick, der sich ihnen bot, war entsetzlich. Ein nackter weiblicher Torso, Arme und Kopf fehlten. Brüste und Schambereich waren herausgeschnitten und fehlten ebenfalls. Andresen musste sich abwenden, weil ihm übel wurde. Larsson sah das kleine Muttermal, auf das Inka Schröder ihn aufmerksam gemacht hatte, und war sich nun sicher, dass es das vermisste Mädchen war.
Andresen bestellte noch einmal telefonisch einen Leichenwagen zum See. Maiers Leute nahmen die Arbeit des Erkennungsdiensts wieder auf.
»Manchmal ist diese Arbeit kaum auszuhalten«, meinte Larsson nachdenklich zum Einsatzleiter der Taucher.
»Meine Männer wissen, dass sie keinen Menschen mehr retten können. Wenn es um Menschen geht, bergen Taucher in der Regel Tote. Das ist das Spezielle an ihrer Arbeit. Zudem sind die Männer schon lange dabei und haben viel Erfahrung gesammelt. Jeder einzelne von ihnen hat seine Strategien gefunden, damit umzugehen«, sagte Salomon lakonisch.
»Aber es geht hier um ein grausiges Verbrechen, die Frau wurde nicht nur ermordet, sondern auch zerstückelt. Kann man das wirklich einfach ausblenden?«, mischte Andresen sich ein, der immer noch ein wenig blass war. Auch er war schon lange bei der Kripo und hatte in dieser Zeit so manches gesehen.
»Bei solchen Einsätzen kann man keine Emotionen zulassen, sonst könnte man nicht arbeiten. Die Kollegen gehen da sehr rational vor. Das hat auch eine schützende Funktion«, konterte Salomon.
»Schwer wird es nur, wenn es sich zum Beispiel um Kinder oder Personen aus dem Bekanntenkreis handelt. Dann lassen sich Emotionen nicht mehr verdrängen. Aber bei solchen Einsätzen wie hier gehört es absolut dazu, sich emotional abzugrenzen und kein Verhältnis zu der geborgenen Person aufzubauen, sonst kann man das auf Dauer nicht aushalten.«
»Sollen wir die Suche fortsetzen?«, fragte der Leiter der Tauchertruppe.
»Warten Sie einen Augenblick«, antwortete Larsson. Er rief seine Dienststelle in Anklam an und ließ sich mit der Leitstelle verbinden. Er schilderte kurz den Vorgang und fragte, ob man den See weiter absuchen solle. Nach einem kurzen Wortwechsel erhielt er den Bescheid, die Suche einzustellen. Das befriedigte Larsson nicht, und er ließ sich mit Kriminaloberrat Kruse verbinden. Er schilderte ihm den Zustand der aufgefundenen Körperteile und empfahl, die Suche fortzusetzen, denn er war nicht der Meinung, auf den weiteren Einsatz der Taucher schon verzichten zu können. Nach dem Gespräch gab er an Salomon weiter, dass sie noch warten sollten, bis sie Bescheid bekämen, ob sie weitermachen sollten. Er bedankte sich für die bisherige Arbeit der Truppe und verabschiedete sich.
»Du bleibst bitte, bis der Torso abgeholt wurde, und lässt dich von einem Streifenwagen nach Heringsdorf bringen«, sagte er zu Rolf Andresen.
Er ging zu Maier von der Spurensicherung, der mit seinen Leuten seine Utensilien gerade zusammenpackte. »Und?«
»Bisher nicht der leiseste Anhaltspunkt, Lasse. Das Wasser hat alles vernichtet. Nur die Hämatome am Hals lassen darauf schließen, dass die Frau erwürgt worden sein könnte.«
Larsson bedankte sich. Dann fuhr er zum Büro zurück.
Dort angekommen, stellte er fest, dass er das Fenster am Morgen offengelassen und die Jalousien nicht heruntergelassen hatte. Es war brütend heiß in dem Raum. Wütend auf sich selbst holte er das jetzt nach und öffnete die Bürotür, so weit es ging. Dann ging er hinüber ins Büro der Kommissare, wo Simons gerade telefonierte.
»Es wurde gerade wieder ein Mädchen vermisst gemeldet«, sagte Simons, als er das Gespräch beendet hatte.
»Wo?«
»In Ahlbeck. Das Mädchen ist seit Freitag überfällig. Die Frau war heute Morgen in der Wache und hat die Anzeige dort aufgegeben.«
Ohne direkt darauf einzugehen, sagte Larsson: »Überprüfe bitte mal, wie viele junge Mädchen auf der Insel offiziell vermisst werden.«
»In welcher Zeit?«
»Im letzten halben Jahr.«
Simons rief im Polizeicomputer die Vermisstenliste auf und Larsson dachte darüber nach, ob es ein Zufall war, dass gerade jetzt ein weiteres Mädchen abging.
»Wir haben derzeit vier weibliche Vermisste, inklusive Liisa Schröder«, stellte Simons fest.
»In welcher Zeit?«
»Du sagtest, im letzten halben Jahr. Aber genau gesehen sind drei der jungen Mädchen erst in den letzten Wochen verschwunden.«
»Seit es die Brände im Süden der Insel gibt?«, fragte Larsson.
»Ja.«
»Genau das habe ich befürchtet«, sagte Larsson.
»Wenn du mich fragst, die Brände haben etwas mit dem Verschwinden der Mädchen zu tun«, sagte Simons.
»Vielleicht.«
»Dann wären die Brände von ein und demselben Täter gelegt worden«, stellte Simons fest. »Und wenn das für die Brände zutrifft, dann müsste es zwangsläufig auch für die verschwundenen Mädchen zutreffen. Du weißt, was du damit sagst, Lasse.«
»Ich sagte vielleicht. Möglicherweise ist das so. Behalte es einfach noch für dich, Karl. Ich muss noch einiges nachprüfen, bevor ich mich festlegen kann. Ruf die Frau an, sage ihr, dass wir in einer halben Stunde kommen, um mit ihr zu reden.« An der Tür drehte er sich Larsson noch einmal um. »Und wann ist das vierte Mädchen verschwunden?«
»Lange Zeit vor dem ersten Brand. Im Frühjahr.«
Larsson ging wieder über den Flur zu seinem Büro. Obwohl die Tür offen gestanden hatte, war es immer noch unerträglich heiß. Er hängte sein Sakko über den Stuhl, schloss die obere Schublade seines Schreibtischs auf und nahm seine Aufzeichnungen und die Kopie des Bekennerbriefs heraus. Sorgsam las er noch einmal die Nachricht: Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi! Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen. Es war keine rechte Gesinnung daraus abzuleiten, obwohl er das durchaus für möglich hielt. Dennoch fragte er sich, ob deutschnationale Kader ihre Warnungen in italienischer Sprache schreiben würden. Wohl kaum. Nun war es nötig, das soziale Umfeld der verschwundenen Mädchen zu analysieren. Wer, wie, was, wo, wann, warum – das waren die sechs Standardfragen und nun käme die siebente dazu: mit wem?
Doch dann schweiften seine Gedanken ab, und er begann im Polizeicomputer nach den letzten größeren Bränden zu recherchieren. Die letzte große Brandserie auf der Insel lag erst zwei Jahre zurück. Damals hatten drei Jugendliche über Monate hinweg insgesamt vierzehn Mal Feuer gelegt. Und zuvor hatte das Landgericht Stralsund 1993 einen siebenundzwanzigjährigen Mann aus Heringsdorf zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil der ebenfalls über Monate hinweg auf Usedom vierzehn Brände gelegt und dabei einen Schaden von 1,2 Millionen Mark verursacht hatte.
Simons kam herein. »Wir können jetzt zu Frau Koch nach Ahlbeck fahren«, sagte er. »Sie war sehr aufgeregt.«
»Wärst du nicht aufgeregt, wenn dein Kind verschwinden würde?«, fragte Larsson. Wie immer, wenn er ging, packte er seine Aufzeichnungen in die oberste Schublade seines Schreibtischs und verschloss diese. Dann gingen die beiden Männer hinunter in den Hof der Dienststelle und stiegen in ihren Wagen.
In Ahlbeck fuhren sie langsam die Seestraße entlang. Sie überquerten die Kaiserstraße. Links lag das Hotel Meereswelle.
»Zu welcher Hausnummer müssen wir?«, fragte Larsson.
»Dreizehn.«
»Das Hotel hat die Nummer elf.«
Vor der Staatsbuchhandlung Krüger hielt Simons an. »Das hier ist die Neunzehn«, sagte er. »Da kenne sich einer aus.«
»Fahr da rüber … direkt an der Ecke Goethestraße, siehst du, dort ist die Dreizehn.«
Simons parkte den Dienstwagen direkt vor dem Haus, obwohl es eigentlich nicht erlaubt war.
Larsson las das Klingelschild. »Hainsfeld. Wir haben auf der Wache einen Hainsfeld …«, stellte er fest.
»Ich weiß nur, dass er hier in Ahlbeck wohnt«, sagte Simons.
Über dem Namen des Kollegen fand Larsson den Namen Koch und drückte auf den Klingelknopf. Wenig später standen die beiden Kommissare vor dem Eingang der Wohnung und wurden bereitwillig hereingelassen.
»Ich weiß nicht, was sich das Mädchen denkt«, sagte die Frau aufgeregt, während sie die beiden Männer im Wohnzimmer einen Platz anbot.
Larsson taxierte Sibylle Koch, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er bei einem ersten Gespräch das Umfeld einer möglichen Straftat einschätzen musste. Sie war eine Frau Anfang vierzig. Sie machte einen soliden Eindruck, ebenso die Wohnung, alles gutbürgerlich und gepflegt.
»Hatten Sie schon mal Schwierigkeiten damit, dass Ihre Tochter unangemeldet fernblieb?«, fragte Larsson.
»Noch nie. Chantal ist das, was man eine Traumtochter nennt. Freundlich, aufmerksam und eher eine gute Freundin als eine Tochter.«
»Das ist eine etwas eigenwillige Interpretation«, stellte Larsson fest. »Eher eine gute Freundin als eine Tochter?«
»Natürlich ist sie in erster Linie eine gute Tochter. Aber weil sie so wenig Probleme macht, beziehungsweise überhaupt keine, und ich alles mit ihr besprechen kann, ist sie eben auch eine sehr gute Freundin.«
»Sie ist also noch nie nachts weggeblieben?«
»Doch. Aber das war abgesprochen. Sie blieb dann bei den Bachs über Nacht.«
»Und der Vater von Chantal?«, ließ Simon sich vernehmen.
»Sie hat keinen Vater mehr. Mein Mann ist vor zwei Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Wir beide leben allein. Chantal hat noch eine Großmutter, die Mutter ihres Vaters, Oma Friederike, die in einem kleinen Ort in Thüringen wohnt. Aber da ist sie nur einmal im Jahr hingefahren, immer in den großen Ferien für eine Woche. Und an Weihnachten war Oma Friederike jedes Jahr bei uns.«
»Wir würden uns gern das Zimmer von Chantal ansehen«, sagte Simons.
»Sie können gern allein hinein gehen. Im Gang, die letzte Tür rechts«, sagte die Frau und schaute Simons dabei an. »Chantal hat das einzige Zimmer, von dem man auf die Seebrücke sehen kann.«
Larsson nickte Simons zu, der stand auf und ging zum Zimmer des Mädchens.
»Bei den Bachs hat Ihre Tochter übernachtet?«, knüpfte Larsson das Gespräch wieder an.
»Ja. Manchmal rief sie nur kurz an und sagte mir, dass sie dortbleiben wollte.«
»Auch am letzten Freitag?«
»Ja. Gleich morgens rief sie mich aus der Schule von ihrem Handy an. Und ich hatte natürlich nichts dagegen.«
»War das so üblich?«
»Seit kurzer Zeit schon.«
»Und das hat Sie nicht beunruhigt?«
»Nein.«
»Und deshalb haben Sie sie erst heute als vermisst gemeldet?«
»Genau. Sie rief zwischendurch nicht an, wie sie es sonst getan hat.«
»Ich brauche eine Aufstellung von Chantals Freunden, von allen, mit denen sie Kontakt hatte. Das betrifft die Schule, aber das betrifft auch zum Beispiel ihre beste Freundin«, sagte Larsson.
»Gleich?«
Larsson nickte. »Wir wollen sofort beginnen, alle ihre Freunde zu befragen.«
Sibylle Koch stand auf, ging zu dem kleinen Schrank neben dem Fenster zur Straße und entnahm ihm einen kleinen Block, der von einem Einkaufscenter als Werbung verteilt worden war, um die Kunden daran zu erinnern, wo man seinen Einkauf erledigen soll, und einen Kugelschreiber. Sie kam zurück zum Tisch und fing an, Namen aufzuschreiben. »Ihre beste Freundin war bisher Pauline Bach.«
Während sie den Namen aufschrieb, fragte Larsson: »Wieso war?«
»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht genau, weil Chantal nicht so recht mit der Sprache herauskommen wollte. Ich könnte mir aber vorstellen, es ging um einen Jungen.«
»Das geht es in diesem Alter immer.«
»Die Pubertät ist wohl bei jedem Menschen ein schwieriges Alter«, stellte die Frau fest. »In der Beziehung war meine Tochter wie alle anderen auch.«
»Hatte sie schon Kontakte zu Jungs?«
»Wenn Sie meinen, ob sie mit Jungen befreundet war, kann ich das bestätigen. Wenn Sie mich aber fragen, ob es sich um sexuelle Kontakte handelte, muss ich das verneinen.«
»Das sind Sie sich sicher?«, fragte Larsson.
Die Frau hob die Schultern und machte ein bedenkliches Gesicht. »Chantal und ich hatten eigentlich keine Geheimnisse. Wir erzählten uns immer alles. Aber wenn ich es genau bedenke, habe ich meiner Mutter auch nicht immer alles erzählt.«
»Haben Sie die Telefonnummer von Pauline Bach?«
Die Frau nickte.
»Schreiben Sie sie bitte dazu. Und den Namen des Jungen, um den es ging, würde ich Sie auch bitten, aufzuschreiben.«
Die Frau nahm den Kopf hoch und sagte: »Den Namen des Jungen hat Chantal als ihr Geheimnis gehütet.«
»Na ja, bestimmt weiß ja Pauline Bach, wie der Bursche heißt.«
Simons kam aus Chantals Zimmer zurück. Als Larsson ihn fragend ansah, schüttelte er den Kopf. »Nichts zu finden, was auf das Verschwinden des Mädchens hinweisen könnte. Aber sie hat einen Laptop, und den würden wir gerne mitnehmen.«
»Ich habe nichts dagegen. Nehmen Sie ihn mit.«
»Auf welche Schule geht Ihre Tochter?«, fragte Larsson, während Simons den Laptop holte.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte die Frau.
»Nein danke, so lange wollen wir gar nicht bleiben.«
»Auf das Maxim-Gorki-Gymnasium in Heringsdorf.«
»Das ist im Gothener Landweg«, warf Simons ein, der mit dem Laptop unterm Arm in der Tür stand. »Gleich um die Ecke unserer Dienststelle.«
Larsson wandte sich an die Frau. »Geht Pauline Bach auf dieselbe Schule?«
»Sie sind in einer Klasse. Die Mädels sitzen sogar zusammen.«
Sibylle Koch hatte die Liste fertig und reichte sie Larsson. Es waren nur vier Namen, die auf der Liste standen.
»Ich gehe davon aus, dass Ihre Tochter ein eigenes Handy hat«, sagte Larsson.
Die Frau bejahte das, und Larsson schrieb die Nummer mit auf die Liste.
»Sie ist zwar überall beliebt, meine Chantal, aber sie sucht sich ihren Umgang sehr genau aus«, sagte Sibylle Koch, als sie Larsson fragendes Gesicht sah.
»Ihr erster Satz, als wir hereinkamen, war: Ich weiß nicht, was das Mädchen sich dabei denkt! Halten Sie es für möglich, dass sie durchgebrannt ist?«, fragte Larsson und schaute Sibylle Koch durchdringend an.
»Möglich, möglich … Eigentlich halte ich es für unmöglich, aber wer kann das schon zu hundert Prozent beantworten.«
»Wir werden in der Schule anfangen«, sagte Larsson, »und mit Fräulein Bach reden. Ich brauchte noch ein Foto Ihrer Tochter.«
Die beiden Kommissare verabschiedeten sich.
Als sie aus dem Haus traten, stand vor ihrem Dienstwagen ein Streifenwagen. Sie kannten die beiden Polizisten aus dem Kommissariat in Heringsdorf und konnten mit einigen Worten den Ärger wegen des Falschparkens abwenden.
»Was hast du für ein Gefühl bei Frau Koch?«, fragte Larsson.
Simons gab Gas und winkte den Streifenpolizisten noch einmal zu. »Wie meinst du das, Lasse?«
»So wie ich es sage.«
»Sie macht einen ordentlichen Eindruck, so wie die ganze Wohnung.«
»So meine ich das nicht.«
Simons kannte Larsson zu genau, um an seiner Stimme nicht herauszuhören, dass ihn die Antwort nicht befriedigte. Noch ehe er eine neue Antwort formulieren konnte, sagte Larsson: »Sie war konträr in ihrem Verhalten. Als wir kamen, begrüßte sie uns mit einem Vorwurf ihrer Tochter gegenüber. Als wir im Wohnzimmer saßen, stellte sie ihre Tochter als ihre beste Freundin vor, die vor einander keine Geheimnisse haben. Und als wir gingen, war sie sich gar nicht mehr so ganz sicher, dass sie nicht doch irgendein Geheimnis umgibt.«
»Ich habe zwar keine Kinder«, sagte Simons. »Aber wenn ich bedenke, was ich meiner Mutter tatsächlich gesagt habe«, er lachte auf, »und das im Verhältnis zur Wahrheit sehe, glühen mir noch heute die Ohren.«
Sie waren im Gothener Landweg angekommen und parkten neben einer Reihe von Autos, die wahrscheinlich den Lehrern gehörten. Vor ihnen lag das Maxim-Gorki-Gymnasium ein lang gestrecktes, in T-Form erstelltes Gebäude. Auf dem Schulhof war keine Menschenseele zu sehen. Es war Unterrichtszeit. Sie gingen zum Büro des Direktors und wurden von seiner Sekretärin empfangen. Die Männer wiesen sich aus und verlangten, den Direktor zu sprechen.
»In welcher Angelegenheit?«, fragte die junge Frau.
»Das werden wir selbst vortragen«, sagte Larsson bestimmend.
Die Frau ging zur Verbindungstür, klopfte und verschwand kurz im angrenzenden Raum. Dann kam sie zurück, lächelte süffisant und sagte: »Direktor Scharschmidt lässt bitten.«
»Kriminalpolizei? Sie kommen wegen welcher Angelegenheit?«, fragte Scharschmidt und zeigte auf eine Sitzgruppe.
»Wir untersuchen das Verschwinden Ihrer Schülerin Chantal Koch«, sagte Larsson lapidar.
»Das Verschwinden von Chantal Koch? Davon weiß ich noch gar nichts.« Sein Erstaunen war ehrlich. »Aber wenn eine Schülerin verschwindet, ist das immer eine Negativreklame für unsere Schule. Hoffentlich ist ihr nichts passiert.« Er öffnete die Tür zum Sekretariat und sagte: »Schauen Sie bitte, wer der Klassenlehrer von Chantal Koch ist.« Er wartete, bis die Sekretärin im Computer nachgeschaut hatte.
»Frau Admannshagen …«
»Ist sie jetzt in der Klasse?«
»Ja.«
Scharschmidt schloss die Tür. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte: »Es sind noch sieben Minuten bis zur großen Pause, dann können wir mit Frau Admannshagen sprechen.«
»Können Sie veranlassen, dass die Klassenlehrerin die Schülerin Pauline Bach mitbringt?«
»Pauline Bach …«, sagte er lang gedehnt. Er ging zur Tür zurück und wies seine Sekretärin an, zum Beginn der Pause die Lehrerin und die Schülerin Pauline Bach in sein Büro zu bringen.
»Sie haben sicher ab und zu Abgänge von Schülern oder Schülerinnen«, sagte Simons.
»Das kommt schon vor, dass Jugendliche für einige Zeit verschwinden, weil sie von zu Hause weggelaufen sind oder weil sie untertauchen, um nicht an der einen oder anderen Prüfungsarbeit teilnehmen zu müssen.«
»Aber sie tauchen immer wieder auf?«, fragte Simons.
»In der Regel schon.«
»In der Regel? Hatten Sie schon mal einen Abgang eines Schülers, der nicht wieder aufgetaucht ist?«, fragte Larsson.
»Nein. Bei uns ist das nicht vorgekommen. Aber es gibt sicher Schulen, denen das nicht erspart geblieben ist.«
Vor der Tür wurden Schritte laut. Es wurde geklopft, und die Lehrerin kam in Begleitung eines Mädchens zur Tür herein.
»Ich habe gehört, die Schülerin Chantal Koch ist nicht in der Schule«, stellte der Direktor mit vorwurfsvoller Stimme fest.
»Seit Freitag fehlt Chantal«, sagte die Lehrerin, »aber das war noch kein Grund, beunruhigt zu sein. Ich hatte ohnehin vor, Frau Koch nach dem Unterricht anzurufen und zu fragen, warum Chantal unentschuldigt fehlt.«
Scharschmidt wandte sich zu dem Mädchen. »Pauline, was weißt du vom Verschwinden Chantals?«
Noch bevor das Mädchen antworten konnte, sagte die Lehrerin: »Das ist nicht Pauline. Das ist Rosalie Heber.« Als der Direktor sie fragend anschaute, erklärte sie: »Pauline ist nach der ersten Stunde gegangen. Rosalie hat mitbekommen, dass sie ein Telefonat auf dem Handy entgegennahm und dann aufgeregt die Schule verlassen hat.«
»Hast du mitbekommen, über was sie gesprochen hat?«, fragte Scharschmidt.
»Nein. Das Gespräch war in der Pause, und da es relativ laut war, hat sich Pauline in eine Ecke verzogen, sodass ich nicht mitbekommen konnte, worüber sie sprach.«
»Du kannst jetzt gehen«, sagte der Direktor.
»Eine Frage noch«, sagte Larsson, und Rosalie drehte sich noch einmal um. »Du hast doch die Handynummer von Pauline.«
Das Mädchen nahm ihr Handy aus der Tasche, wählte die Nummer Pauline Bachs aufs Display und sagte sie an. Larsson verglich die Nummer mit der, die er von Frau Koch bekommen hatte. Er tat das grundsätzlich, um auszuschließen, dass ihm eine eventuelle Zweitnummer entgehen würde. Dann war das Mädchen entlassen und verließ das Zimmer.
»Die Mädchen sind jetzt voll in der Pubertät«, sagte die Lehrerin. »Sie sind schwierig, und es ist nahezu unmöglich, an sie heranzukommen. Noch im Vorjahr war das anders. Aber das hat sich grundlegend geändert.«
»Wann haben Sie Chantal Koch das letzte Mal gesehen?«, fragte Larsson.
»Am Donnerstag war sie ganz normal zum Unterricht hier«, sagte die Klassenlehrerin.
»Das heißt also, Frau Admannshagen, dass Sie noch gar nicht in der Lage gewesen wären, irgendetwas zu unternehmen. Sie hätten völlig pflichtbewusst gehandelt, wenn Sie nach dem Unterricht Kontakt mit Frau Koch aufgenommen hätten«, stellte Direktor Scharschmidt fest.
»Ich brauche die Adresse von der Schülerin Bach«, sagte Larsson.
»Die kann Ihnen meine Sekretärin heraussuchen.«
Larsson drehte sich der Lehrerin zu und fragte: »Was für einen familiären Hintergrund gibt es zu Pauline Bach?«
»Das ist eine ganz normale bürgerliche Familie. Pauline hat noch einen Bruder, der ein Jahr jünger ist und auch unsere Schule besucht.«
»Und die finanziellen Verhältnisse?«
»Der Vater ist Ingenieur und soviel ich weiß, arbeitet er auf der Neptunwerft in Rostock«, sagte die Klassenlehrerin.
»Dann dürften sie finanziell keine Sorgen haben«, warf Simons ein.
»Finanziell sicher nicht. Das Problem ist nur, dass der Mann nicht jeden Tag von Ahlbeck nach Rostock fahren kann. Also ist er nur am Wochenende zu Hause.«
»Diese Wochenendehen«, sagte Larsson, »stellen schon ein großes Problem im Zusammenleben einer Familie dar.«
»So wie ich es mitbekommen habe, hält die Familie wohl zusammen. Obwohl man schon überlegt hatte, ganz nach Rostock zu ziehen.«
Larsson hob die Schulter. »Und?«
»Die Familie hat hier ein Haus, und weil das ein Erbstück ist, will man sich davon auch nicht trennen.«
»Das eine ist, was man will«, sagte er, »das andere ist, was man kann.«
»Das Haus liegt in Ulrichshorst.«
Larsson machte Anstalten zu gehen, und der Direktor brachte die Kommissare zur Tür.
»Suchen Sie die Adresse von der Schülerin Pauline Bach heraus«, wies er die Sekretärin an. »Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«
»Ich denke, wir haben alles«, sagte Larsson.
Die Sekretärin schrieb die Adresse auf einen Zettel und reichte ihn Larsson. Der bedankte sich, und Simons lächelte der Frau noch einmal zu, während sie das Zimmer verließen.
»Zwei Schulmädchen kämpfen um einen Jungen. Das ist ein ganz normaler Vorgang«, sagte Simons, während er den Wagen anziehen ließ. »Oder bist du anderer Meinung, Lasse?«
Larsson lächelte. »Die erste zaghafte Liebe, Karl, endet meist ein wenig schmerzhaft.«
»Auch ich erinnere mich an solche Begebenheiten.«
»Ich dachte, du wärst der Hahn im Korb gewesen.«
»Mit der Zahnspange, die man mir verpasst hatte, war ich alles andere als ein besonderes Lustobjekt«, sagte Simons.
»Willst du damit sagen, dass du keine abgekriegt hast?«, fragte Larsson.
»Das ist gar nicht die Frage, Lasse.«
»Sondern?«
»Ob ich die bekommen habe, die ich wollte.«
Larsson grinste breit, als er sagte: »Du bist doch so gut im Rennen, dass ich mich manchmal schon frage, wie du das überhaupt machst?«
»Der Mensch entwickelt sich. Die Zahnspange ist weg, und damit der Weg für alle Eventualitäten offen.«
»Und in der Schule?«
»Wir waren zu sechst, drei Mädchen und drei Jungen. Und da alle drei Jungs das gleiche Mädchen wollten, musste gelost werden.«
»Willst du damit sagen, dass ihr die Mädchen verlost habt?«, fragte Larsson lachend.
»Genau. Habt ihr so etwas nie gemacht?«
»Nicht dass ich mich erinnern könnte. Und die Mädchen? Wussten die davon?«
»Natürlich«, sagte Simons. »Sie haben das genossen! Jedenfalls die Gutaussehenden.«
Sie mussten einen Augenblick stehen bleiben, weil die Schranken der Usedomer Bäder Bahn geschlossen waren. Langsam schob sich der blau-weiße Zug, der von Wolgast gekommen war, über die Gleise.
»Die Mädchen freuten sich höllisch, als ich das hässlichste Mädchen abbekam und mich wie ein Aal wand, um nicht mit ihr in Verbindung gebracht zu werden.«
Larsson griente. »War sie denn wirklich so hässlich?«
»Sie hatte basedowsche Augen. Das war nicht gerade ein Zeichen besonderer Schönheit.«
Larsson ließ den Satz auf sich einwirken, bevor er antwortete: »Nein, das war es sicher nicht.«
»Es wäre bestimmt ein gutes Zeichen gewesen, wenn ich dem Spiel nachgegeben hätte«, sagte Simons, »aber in diesem Alter ist man eher grausam.«
Sie waren in dem Haus in Ulrichshorst angekommen. Pauline Bachs Mutter öffnete die Tür, und Larsson wies sich aus.
»Kriminalpolizei? Ist etwas mit Pauline?«
»Wir würden gern mit Ihrer Tochter sprechen, jetzt.«
»Aber um diese Zeit ist sie in der Schule.«
»Da sollte sie sein«, warf Simons ein, der inzwischen herangekommen war.
»Ihre Tochter«, sagte Larsson, »hat die Schule nach einem Telefonat nach der ersten Stunde verlassen. Ich dachte, sie hier zu finden.«
»Nein, hier ist sie nicht. Aber sie ist seit einigen Tagen wie ausgewechselt.«
»Das heißt was?«, fragte Simons.
»Dass sie an alles andere denkt als an die Schule.«
»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Larsson.
Die Frau führte die Kommissare in das Wohnzimmer und bot ihnen Platz an.
»Worauf führen Sie das zurück?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Die Mädchen in diesem Alter fangen an, sich zu verlieben.«
»Und Pauline ist jetzt verliebt?«, fragte Simons.
»Sie ist in der Pubertät, und das ist die einzige ganz schwierige Phase im Leben eines Mädchens.«
»Haben Sie mit ihr darüber gesprochen?«, fragte Larsson und dachte daran, dass alle Mütter wohl den gleichen Standardsatz benutzten, wenn es um das Erwachsenwerden ihrer Töchter ging.
»Ja. Und diesmal hat mein Mann auch mit ihr gesprochen.«
»An diesem Wochenende?«, fragte Larsson.
»Gestern haben wir mit ihr gesprochen. Nachdem ich mitbekommen habe, dass sie sich vor einigen Tagen mit ihrer besten Freundin Chantal wegen eines Jungen gestritten hatte. Leider ist mein Mann zu seiner Arbeitsstelle nach Rostock zurückgefahren. Es wäre besser gewesen, wir hätten sie noch einmal ins Gebet genommen. Sie hat gestern aber einfach zugemacht, es war kein Herankommen.«
»Haben Sie mitbekommen, wie der junge Mann heißt?«
»Nein.«
»Und das macht Ihnen Sorgen?«, fragte Larsson lapidar.
»Ja, ganz erhebliche.«
»Wieso?«
»Weil sie sagte, sie will mit Chantal nichts mehr zu tun haben.«
»Wann hat sie das gesagt?«
»Gestern.«
»Chantal ist seit Freitag verschwunden. Wussten Sie das?«, fragte Larsson.
»Nein.«
»Chantals Mutter glaubt, sie habe am Wochenende hier geschlafen«, warf Larsson ein.
»Hat sie nicht!«
»Und Pauline hat auch nichts davon gesagt, dass Chantal verschwunden ist?«, warf Simons ein.
»Nein.«
»Aber nach meinen Erkenntnissen«, sagte Larsson, »hat es Pauline gewusst, denn Chantal fehlte schon am Freitag in der Schule.«
Die Frau schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber warum hat sie nichts davon gesagt?«
»Ja, das gibt wirklich zu denken«, stellte Simons fest.
»Sie glauben also, dass Pauline wusste, dass Chantal verschwunden ist und es absichtlich nicht gesagt hat?«, fragte die Frau.
Larsson dachte einige Sekunden nach. »Nun, das wollen wir zu diesem Zeitpunkt nicht überbewerten. Pubertierende Kinder reagieren ganz unterschiedlich. Vielleicht hat sie schon gewusst, warum Chantal verschwunden ist. Möglicherweise hat sie sich das auch nur gedacht. Aber das ist noch lange kein Grund, dass Pauline zwangsläufig etwas damit zu tun hat.«
»Nein, das ist es sicher nicht. Bestimmt sogar nicht!«
»Wie würden Sie Ihre Tochter einschätzen?«, fragte Larsson. »Als eine loyale Freundin Chantal gegenüber?«
»Ich denke schon. Sie waren so etwas wie beste Freundinnen.«
»Das sind sie so lange, bis der Konkurrenzkampf um einen Jungen ausbricht«, warf Simons ein.
»Kann sein, muss aber nicht«, sagte Larsson, als die Frau schwieg.
»Ich werde jetzt bei all ihren Freunden herumtelefonieren, die ich von ihr kenne«, sagte die Frau.
»Gut«, sagte Larsson. »Tun Sie das. Aber versuchen Sie bitte jetzt, Ihre Tochter übers Handy zu erreichen. Ich möchte dringend mit ihr sprechen.«
Die Frau stand auf und holte von der Telefonablage im Flur ihr Handy. Dann klickte sie die Kurznummer Paulines an. Sie horchte einen Augenblick auf die Ruftöne, dann sagte sie: »Pauline geht nicht an ihr Handy.«
»Das kann ganz verschiedene Ursachen haben«, warf Simons wieder ein.
»Ich würde Sie bitten, mich sofort zu verständigen, wenn Ihre Tochter nach Hause kommt, Frau Bach. Ich muss dringend mit ihr sprechen«, sagte Larsson, stand auf und gab ihr eine Visitenkarte. »Hat Ihre Tochter einen Laptop?«
»Nein. Sie benutzt unseren stationären Computer, aber das ganz selten. Was wir nicht lesen sollen, wickelt sie ausschließlich mit ihrem Smartphone ab.«
»Ich brauche noch ein Foto Ihrer Tochter.«
Die Frau nahm ein Passbild ihrer Tochter aus ihrem Portemonnaie, gab es Larsson. Dann brachte sie die beiden Kommissare noch zur Tür und schaute ihnen nach, bis sie abfuhren.
Larsson gab die beiden Handynummern der jungen Mädchen zur Zentrale nach Anklam und bat darum, schnellstmöglich die Handys zu orten, da Gefahr im Verzug sei. Vor dem Hotel Pirol in Korswandt musste Simons hart bremsen, da eine schwarze Katze seelenruhig über die Straße lief und er es vermeiden wollte, sie zu überfahren.
»Katze von links nach rechts«, sagte Larsson, »was schlechtʼs, und auch noch eine schwarze.«
Die Katze machte einen riesigen Satz, und rettete so ihr Leben.
»Du wirst es nicht glauben, Lasse, aber ich überfahre so ein Tier nicht gern.«
Vor dem Hotel Idyll am Wolgastsee lud eine Familie gerade ihren Kombi aus. Ein kleines Mädchen hatte sich am Kinderwagen zu schaffen gemacht, und dieser rollte nun langsam in Richtung Fahrbahn. Wieder bremste Simons scharf. »Ich glaube, du solltest jetzt weiterfahren«, sagte er zu Larsson.
»Bist du abergläubisch?«
»Du nicht?«
Larsson hob die Schultern. Er sah, dass die Eltern des Kinds mit dem kleinen Mädchen schimpften, obwohl sie sicher die Schuld für den Beinaheunfall eher bei sich suchen mussten.
»Fahr schon weiter«, sagte Larsson.
Als sie von Korswandt durch den Wald in Richtung Ahlbeck fuhren, fiel Larsson ein, dass er die Rechtsmedizinerin noch nicht vom Fund des weiblichen Torsos unterrichtet hatte, und er wählte die Nummer des Instituts für Rechtsmedizin in Greifswald. Die Sekretärin verband ihn mit Frau Dr. Beckert. In wenigen Sätzen schilderte er, wie der Torso aufgefunden wurde, und deutete an, den Namen des Opfers aufgrund des Muttermals zu kennen.
»Vergleichsmaterial zum Abgleich der DNA ist bereits per Flugzeug von Köln nach Heringsdorf unterwegs. Sobald es eingetroffen ist, werde ich es Ihnen bringen lassen. Haben wir noch eine Chance, irgendwelche Fremd-DNA festzustellen?«
»Wenn sie unmittelbar vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte und kein Kondom verwendet wurde, besteht die Möglichkeit.«
»Die Leiche hat wahrscheinlich einundzwanzig Tage im Wasser gelegen«, wand Larsson ein.
»Die Chance besteht«, sagte die Rechtsmedizinerin. »Aber es ist wie immer, abschließend kann ich Ihnen das wirklich nur nach der Obduktion sagen. Werden Sie bei der Obduktion dabei sein?«
»Wenn Sie mir sagen können, wann Sie die Obduktion vornehmen, werde ich versuchen, es einzurichten. Ansonsten schicke ich einen Mann aus meiner Abteilung zu Ihnen.«
Als Larsson das Gespräch beendete, bogen sie gerade in die Seestraße ein und hatten nur noch wenige Meter bis zu ihrer Dienststelle.
»Nehmen wir mal an, du kannst aus irgendeinem Grund nicht zu dieser Obduktion fahren«, sagte Simons, »wen von unserer Gruppe würdest du denn dann nach Greifswald schicken?«
Larsson wusste genau, worauf Simons hinauswollte. »Ich hatte dabei an dich gedacht, Karl.«
»Nein, nein, Lasse. Nur Leute, die bei der Mordkommission arbeiten, sind zu einer Teilnahme einer Leichenöffnung verpflichtet. Ich arbeite nicht bei einer Mordkommission.«
»Dann werde ich dich in Zukunft, wenn wir solche Fälle zugeteilt kriegen, nicht mehr an dieser Arbeit beteiligen können.«
Sie schwiegen einen Augenblick. Simons fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Larsson wusste das, und er dachte daran, wie er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal den Obduktionsraum der Charité in Berlin betreten hatte. Dieser bräunlich geflieste Raum, mit seinen großen aus Edelstahl und Kunststein kombinierten Sezierwannen, hatte ihm großes Unbehagen bereitet. Und die Brandleiche damals strömte einen widerwärtigen Geruch aus, weswegen sein Magen so rebellierte, dass er sich übergeben musste. Er hatte vier Anläufe gebraucht, um seine Empfindungen soweit in den Griff zu kriegen, nunmehr unbeschadet an einer Leichenöffnung teilnehmen zu können.
»Es könnte ja sein«, sagte er, »dass du weiter aufsteigen und eines Tages Leiter einer Mordkommission werden willst, Karl. Deshalb rate ich dir, jede Möglichkeit wahrzunehmen, rechtzeitig für diesen Einsatz zu üben.«
Kurz hinter der Bahnschranke zur Ortseinfahrt Ahlbeck hielten sie an einer Imbissbude und ließen sich eine Rostbratwurst geben, die sie hastig in sich hineinstopften. Larsson hasste derartige Zeremonien. Aber letztlich musste er sich dem Hunger geschlagen geben.
Wenig später bogen sie in den Setheweg und zwanzig Meter weiter auf den Hof der Dienststelle ein.
»Monika ist scheinbar nicht mehr da«, stellte Larsson fest.
»Sie hat halt pünktlich Feierabend gemacht«, antwortete Simons.
Larsson sagte nichts, aber er ärgerte sich darüber, dass ihn Monika nicht angerufen und Bescheid gesagt hatte. Simons spürte das und hielt es für angebracht, jetzt nichts zu sagen.
Oben im Büro trafen sie auf Andresen. Er war vor einer halben Stunde zurückgekommen und erwartete ungeduldig die Ankunft Larssons.
»Die Tauchergruppe bleibt noch einen Tag da«, sagte Andresen. »Die Anweisung kam aus Anklam schon kurz, nachdem du weg warst.«
»Hat sich noch irgendetwas aus den Befragungen ergeben?«
»Nicht wirklich. Niemand hat gesehen, wie irgendjemand ein Paket im See versenkt hat.«
»In dieser Jahreszeit wäre es auch sicher zu auffällig, so etwas zu machen. Jedenfalls nicht am Tage, denn da gibt es genügend neugierige Augen, die beispielsweise ein Boot beobachten, wenn sie die leiseste Ungewöhnlichkeit bei so einem Fahrzeug feststellen würden.«
»Du meinst, die Leiche wurde nachts abgelegt?«, fragte Andresen.
»Selbst das würde eine große Gefahr in sich bergen. In dieser Jahreszeit treiben sich immer nachts Pärchen herum, und es wäre unmöglich, mit einem Boot ungesehen und ungehört zu bleiben.«
»Also gehst du davon aus, dass die Leichenteile über Land transportiert worden sind«, warf Simons ein.
»Selbst das wäre sehr gefährlich«, sagte Larsson, »ist aber eigentlich die einzig logische Schlussfolgerung.«
»Aber wie? Zu Fuß?« Andresen schüttelte den Kopf. »Vielleicht mit einem Fahrrad?«
»Mitten in der Nacht? Da würde man die Lampe des Rads weit leuchten sehen«, ließ Simons sich vernehmen.
»Die Nächte sind kurz, und sie sind selten ganz dunkel«, sagte Larsson. »Wir könnten natürlich feststellen lassen, an welchen Tagen und zu welcher Nachtzeit es völlig dunkel war, aber dazu brauchen wir erst einmal den genauen Zeitpunkt des Todes der Person. Nur dann können wir das so weit eingrenzen.«
Noch bevor einer der beiden Kommissare etwas zu Larsson sagen konnte, machte sich dessen Handy bemerkbar, und er hob die Hand, um etwaige Gespräche zu unterbinden. »Ich danke Ihnen für die schnelle Arbeit, Kollegin«, sagte Larsson. Dann steckte er das Handy in seine Tasche zurück.
»Das Handy von Chantal Koch ist nicht zu orten. Wir müssen also davon ausgehen, dass die SIM-Karte entfernt worden ist.«
»Das erleichtert unsere Arbeit natürlich nicht«, sagte Simons lakonisch.
»Aber das Smartphone von Pauline Bach hat sich heute Morgen bei einem Sendemast auf dem Lieper Winkel eingeloggt. Dann brach die Verbindung ab, und scheinbar wurde auch diese SIM-Karte entfernt«, sagte Larsson.
»Sollten wir dann nicht hinfahren?«, fragte Simons.
»Heute Morgen, Karl. Glaubst du wirklich, dass, vorausgesetzt wir haben es mit einer Entführung zu tun, der Mann jetzt noch am Lieper Winkel zu finden ist?«
»Und wenn er dort wohnt?«
»Du denkst an die Brände, Karl«, sagte Larsson nachdenklich.
»Karls Überlegung ist doch gar nicht so ganz falsch«, warf Andresen ein.
»Die Tatsache, dass das Smartphone von Pauline Bach nur kurz zu orten war, lässt darauf schließen, dass der Entführer sich dort mit ihr getroffen und bei irgendeiner Gelegenheit sich in den Besitz des Handys gebracht hat, um es entweder zu zerstören oder die SIM-Karte zu entfernen«, sagte Larsson.
»Das ist eine gewagte Schlussfolgerung, die möglicherweise überhaupt keinen Bestand hat«, beharrte Andresen.
»Ja, Rolf, möglicherweise ist das so. Aber um den gesamten Lieper Winkel umzukrempeln, brauchen wir eine ganze Armee. Deshalb werden wir etwas ganz anderes machen.« Larsson schob sich vom Schreibtisch ab und ging die wenigen Schritte zum Fenster. In diesem Augenblick klingelte sein Handy. Er meldete sich und antwortete dann, dass er pünktlich vor Ort sei. Es folgte eine Weile nachdenklichen Schweigens.
»Morgen früh um neun wird der gefundene Torso obduziert. Es wäre eine gute Gelegenheit für dich, Karl, endlich mal dabei zu sein.«
Simons wurde blass. »Das kannst du mir nicht antun, Lasse. Du weißt, was ich dir gesagt habe.«
Larsson ging nicht auf Simons Lamentieren ein. »Wir fahren also beide morgen nach Greifswald. Es wird etwa bis Mittag dauern.«
Larsson erwartete neuen Widerspruch, aber der blieb aus. »Ich habe da allerdings einen Einfall, Karl …« Alle warteten gespannt, was nun von Larsson kommen würde. Aber der genoss es, Simons ein wenig zappeln zu lassen. »Es gäbe eine Möglichkeit, wie du morgen noch einmal deine Teilnahme bei einer Obduktion, und diese Leiche ohne Kopf ist bestimmt nicht ganz einfach zu verdauen, verschieben könntest.«
Die Tür ging auf, und Monika kam herein.
»Ich dachte, du wärst schon nach Hause gefahren«, sagte Larsson. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Ich könnte mir vorstellen, Karl, dass wir bezüglich der Brände und damit vielleicht sogar hinsichtlich des Mords und des Verschwindens von Pauline Bach der Sache näherkämen, wenn wir undercover ermittelten.«
»Du würdest für so eine Aktion doch sicher die Zustimmung des Kriminalrats einholen«, ließ Andresen sich vernehmen.
»Das habe ich versucht, aber er ist zurzeit in Schwerin und nicht erreichbar. Und hier ist Gefahr im Verzug, und deshalb habe ich den ganz kleinen Dienstweg gewählt … Ich habe selbst entschieden, dass wir das machen.«
Andresen antwortete nicht. Larsson hat vollkommen recht, dachte er. Wenn wir überhaupt etwas erreichen wollen, dann geht es eigentlich nur mit Eigeninitiative. »An wen hast du gedacht? Ich scheide da wohl aus, denn mich kennt man durch die Segelei auf dem Lieper Winkel sehr gut. Wir liegen oft mit unserem Boot in Warthe oder den anderen kleinen Häfen.«
Larsson lächelte. »An dich, Rolf, habe ich auch gar nicht gedacht. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten, nein, drei. Inge, aber die fällt aus, weil sie Urlaub hat und ins Ausland fliegt. Eine zweite Möglichkeit wäre«, und er schaute Monika intensiv an, »wäre Monika. Aber da sie nicht zu uns gehört, sondern von der Schutzpolizei nur ausgeliehen ist, müsste ich eine Genehmigung ihres Vorgesetzten einholen, und genau das werde ich nicht tun. Also fällt auch sie aus.« Er schaute Simons durchdringend an. »Da ich nicht wegkann, Karl, und auch durch die Bilder in der Zeitung nicht unerkannt bleiben werde, kommst nur du infrage. Aber zwingen möchte ich dich dazu natürlich nicht.«
»Und ab wann wäre das?«, fragte Simons.
»Ab sofort, Karl.«
»Dann könnte ich aber morgen gar nicht mit in die Rechtsmedizin fahren …«
»Das ist zwar sehr traurig, Karl, ich bedauere das sehr. Aber die Arbeit auf dem Lieper Winkel geht vor.«
Simons klang erleichtert, als er sagte: »Du kannst auf mich zählen, Lasse, ich bin dein Mann!«
Larsson nahm einen Zettel aus der Tasche und gab ihn Simons. »Es ist das Landhotel Lieper Winkel in der Dorfstraße 11 in Rankwitz, und die Telefonnummer ist auch dabei«, sagte er. »Und du musst deinen Wagen nehmen, denn ich brauche den Passat für die Fahrt nach Greifswald.«