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1. Kapitel

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Montag, 20. Juni 2005


Direkt südöstlich des Flughafens lag die Kliffküste des Stettiner Haffs; hier waren in den letzten Jahren einige Reihen von reetgedeckten Häusern entstanden, die als Ferienobjekte für Anleger vermarktet wurden.

Die Dunkelheit war hereingebrochen. Die Lichter in den meisten Häusern der Anlage waren erloschen. Langsam quälte sich das Mondlicht durch eine dichte Wolkenbank. Es war der fünfte Tag des zunehmenden Monds, also zwei Tage vor Vollmond, da schlug der Zündler wieder zu. Und wie bei allen Bränden der letzten Zeit kam er schon weit vor Mitternacht.

Im Schutz der Dunkelheit stand die schwarz vermummte Gestalt zwischen den Bäumen und beobachtete das etwas von der Gruppe abstehende Haus mit dem Namen »Haffkieker«.

Er sah, wie das junge Mädchen zuerst etwas las und sich dann eine Sendung im Fernsehen ansah. Für ihn war nur, dass sie sicher allein im Haus war. Zwischendurch musste das Telefon geklingelt haben; sie war aufgestanden und kurze Zeit später mit dem Hörer am Ohr wieder ins Wohnzimmer zurückgekommen. Er schaute zur Uhr. Als sie den Hörer auf den Tisch legte, stellte er fest, dass sie mehr als zwanzig Minuten telefoniert hatte. Er war so dicht an dem Haus, dass er ihre Mimik analysieren konnte. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Freude und Entsetzen. Sie schaltete das Fernsehgerät aus.

Er sah, dass sie wieder telefonierte. Auch dieses Gespräch schien sehr intensiv zu sein, denn sie weinte.

Ich werde dich schon trösten, dachte er. Er spürte, wie der Gedanke daran ihn erregte. Er hatte noch nicht allzu viel Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht. Einige kleine Tändeleien hatte es gegeben. Mit Ines, einem Mädchen aus dem Rostocker Gymnasium, mit dem er sich hin und wieder traf, war er wohl etwas weiter gegangen, aber die Eltern des Mädchens hatten ihm gründlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich wähnte er sie in der Premiere von »Die Maske des roten Todes«, einem Ballett von Wladimir Fedianin, die im Großen Haus stattfand. Doch gerade als sie sich ausgezogen hatten und in gesteigerter Erregung dem Ziel ihrer Wünsche näherkamen, ging die Tür auf, und die Mutter kam wie eine Rächerin ins Zimmer gestürmt. Direkt hinter ihr war der Vater und wenige Minuten später fand er sich splitternackt vor der Haustür wieder. Erst nach einer Weile ging die Tür noch einmal auf und seine Kleidung wurde auf die Straße geworfen. Es war ihm immer noch peinlich, wenn er daran dachte. Sein ganzes Leben würde er an diese Schmach denken, die man ihm zugefügt hatte.

Mit dem Mädchen in diesem Haus wird es einen anderen Verlauf nehmen, dachte er. Langsam löste er sich aus dem Schatten des Baums und ging auf das Haus zu.


*


Kurz nach vier hatte er sein Werk endlich vollendet. Von Osten, über den Stettiner Hafen, zog schon der neue Morgen herauf. Es war nicht so leicht gewesen, wie er gedacht hatte. Mit einer Sprühflasche hatte er einen Benzinfilm über einen Teil des Reetdachs gezogen. Das Mädchen war schon vor Stunden ins Bett gegangen. Er musste sehr leise sein, um sie nicht aufzuwecken. Doch jetzt kam der große Moment. Er entzündete sein Gasfeuerzeug und hielt genüsslich die Flamme an das Reet. Dann zog er sich schnell in den Schatten des Baums zurück. Fasziniert und gebannt sah er zu, wie die Flammen sich an der rückwärtigen Seite des Hauses ausbreiteten und langsam größer wurden. Es war ihm klar, dass er nicht lange bleiben konnte, um sich dieses aufregende Schauspiel anzusehen. Zu gefährlich wäre es, wenn man ihn hier entdeckte. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich von dem Anblick zu lösen und am Rande des Kliffs zu seinem Fahrrad zu gehen. Dann machte er sich auf, die rund fünfzehn Kilometer zu seinem Heimatort zurückzulegen. Bewusst nahm er nicht die Straße über Zirchow, denn er würde dort schlecht ausweichen können, wenn ihm ein Fahrzeug entgegenkam. Er fuhr parallel zur Kante des Kliffs in Richtung Dargen, nahm die Abzweigung nach Görke und fuhr ein Stück auf der B 110 bis zur Abzweigung der L265 nach Neppermin.

In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy. Jörn zog es heraus und sah auf das beleuchtete Display. Es war Justus, der ihn sicher von dem Einsatz der Feuerwehr Zirchow verständigen wollte. Er nahm den Anruf nicht an und steckte das Telefon wieder in die Tasche.

Kurz vor der Abzweigung nach Mellenthin sah er, wie ein Kleinwagen, der aus Neppermin kam, ins Schleudern geriet und krachend gegen einen Baum fuhr. Der Wagen fing sofort Feuer. Wie in Trance trat er in die Pedale, die Augen fest auf das Feuer gerichtet. Doch was war das? Als er näherkam, sah er, dass es der kleine Opel eines Bewohners seines Ortes war. Er hielt an und sah zu dem brennenden Wagen hin.

Ich müsste ihn herausziehen, dachte er. Aber wenn ich das tue, wird man mich fragen, was ich mitten in der Nacht auf der Straße zu suchen habe. Irgendein findiger Polizist könnte darauf kommen, dass ich etwas mit dem Brand in Zirchow zu tun habe. Außerdem gehört der Opel jemand, mit dem ich schon einigen Ärger hatte. Es ist nur gerecht, wenn er bestraft wird. Er sah, wie aus Richtung Usedom kommend ein Fahrzeug auf die Straße nach Neppermin einbog. Hastig schwang er sich auf sein Rad, fuhr die wenigen Meter bis zur Abzweigung nach Mellenthin und verschwand im Zwielicht des anbrechenden Morgens.

Als er in seinem Zimmer war, gab das Handy wieder diesen unterdrückten Scharrton von sich, den er extra so eingestellt hatte. Dieses Mal nahm er den Anruf an.

»Was ist mit dir los?«, fragte Justus aufgeregt. »Ich hab schon einige Male versucht, dich anzurufen. Es brennt in Zirchow!«

»Ich hatte mein Handy an der Ladestation in der Küche. Wo brennt es in Zirchow?« Obwohl Jörn aufgeregt war, versuchte er einen relativ ruhigen Ton anzuschlagen.

»Nico sagt, in einem der neuen Häuser, die am Kliff gebaut worden sind.«

»Du meinst, oberhalb des Kliffs, wo wir geangelt haben?«

»Genau dort!«

»Das ist ja ein Ding. Und wie kommen wir jetzt dorthin?« Jörn Spielmann wusste, dass er jetzt die Nerven behalten musste. Auf der einen Seite zog es ihn magisch zu dem Ort des Geschehens, andererseits musste er sehr vorsichtig sein, um nicht durch seine Begeisterung aufzufallen. »Also? Wie kommen wir jetzt dorthin?«

»Ich habe schon meine Mutter gefragt, ob sie uns fahren würde«, sagte Justus. »Aber sie muss morgen arbeiten und sagt, dass sie zu müde ist.«

»Meine jagt mich auch zum Teufel, wenn ich sie jetzt störe.« Es ist besser, dachte er, wenn wir dort nicht auftauchen. »Wir können ja später hinfahren und uns ansehen, was dort übrig ist.«

»Gut mein Freund, dann bis später«, sagte Justus.

Jörn merkte, dass sein Freund etwas geknickt war. Allzu gern wäre er nach Zirchow gefahren, um der Feuerwehr bei der Arbeit zuzusehen.

Er suchte einen DIN A4 Zettel und riss ihn von einem linierten Block auf seinem Schreibtisch ab. Er lächelte, alser schrieb: Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi!Dann faltete er das Papier zu einem kleinen Boot und malte mit Rotstift einen Pfeil darauf, der zum Auseinanderfalten des Boots ermunterte.

Als er endlich ins Bett ging, war es bereits hell. Er lächelte immer noch.

Schatten über der Insel

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