Читать книгу Der erste Landammann der Schweiz - Georges Andrey - Страница 6
ОглавлениеEINLEITUNG: DIE «GRANDE MÉDIATION» (1803–1813)
«Endlich ist die so glückliche und heiss ersehnte Zeit angebrochen, wo wir durch die Güte des Allerhöchsten in den Genuss unserer Freiheit und Souveränität zurückkehren und wo wir durch die mächtige Vermittlung des grossen Konsuls wieder die Verfassung haben, die erkauft mit dem Blut unserer Vorfahren aus ihnen und ihren Nachkommen während Jahrhunderten das glücklichste Volk gemacht hat.»1
Dies sind die ersten Worte eines Briefes des Kantons Uri,2 kurz nach der Unterschrift der Mediationsakte vom 19. Februar 1803 in Paris an den Kanton Waadt3 geschrieben, um ihn als Freund in der neuen Eidgenossenschaft, die von nun an 19 Mitglieder umfasst, zu empfangen. Der im «Journal Helvétique», einem wichtigen Organ der Westschweizer Presse,4 publizierte Text ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam.
Erstens bezeugt er den Enthusiasmus der Urner – direkte Nachfolger der im Mittelalter in der Urschweiz gegründeten Eidgenossenschaft – für die in der französischen Hauptstadt zwischen dem Ersten Konsul Napoleon Bonaparte und der stattlichen Schweizer Delegation geschlossene Übereinkunft. Es handelte sich um einen Vertrag von beträchtlicher Tragweite, da er den jahrhundertealten Föderalismus wiederherstellte, der durch die Revolution 1798 brutal abgeschafft und durch das zentralistische Regime der Helvetischen Republik mit der Devise «ein und unteilbar» ersetzt worden war. Dank dieser ebenso radikalen wie spektakulären Gegenbewegung bekamen die Kantone ihre traditionelle Freiheit, sich selber regieren zu können, wieder zurück. Das konkrete Symbol der direkten Demokratie: Wie in der Vergangenheit konnte die Landsgemeinde von Uri ihre Bürger wieder versammeln.5
Zweitens: Der urnerische Text spricht die in der Zentralschweiz empfundene Bewunderung für den von der Vorsehung bestimmten Mann aus – ist Napoleon nicht der Gesandte des «Allerhöchsten»! –, dank dem die Mediationsakte dem Bürgerkrieg, dem berüchtigten «Stecklikrieg», der die Schweiz 1802 entzweite,6 ein Ende setzte. Nach dem Schock von 1798, den politischen Wirren ohne Ende in der Helvetik, der Besetzung der Schweiz durch fremde Armeen – französische, russische, österreichische – und nach dem darauf folgenden wirtschaftlichen Zusammenbruch hatten sich zwei Schweizer Armeen, die eine zur Verteidigung des an der Macht stehenden helvetischen Regimes, die andere, es zu stürzen, im Mittelland aufgestellt, um die Entscheidung zu suchen. Als die Seite, welche für die Wiederherstellung des Föderalismus kämpfte, dabei war, den Sieg zu erringen, mischte sich Frankreich in extremis militärisch ein, um einen Waffenstillstand durchzusetzen, die geflohene helvetische Regierung wieder einzusetzen und seine Vermittlung anzubieten. Die beiden Konfliktparteien nahmen die Offerte des Ersten Konsuls an und entsandten ihre Delegationen nach Paris. Von Dezember 1802 bis Februar 1803 arbeitete die Consulta ununterbrochen, um das Fundament für ein neues staatliches Gebäude zu setzen, das den wiedergefundenen Frieden garantieren sollte.7
Drittens: Die Haltung der Urner, die sich in ihrer veröffentlichten Botschaft widerspiegelt, widerspricht den schweizerischen Geschichtsbüchern, denen zufolge die verzagten Eidgenossen gegen ihren Willen die Mediationsakte ertragen hätten, in der ungeduldigen Erwartung des günstigen Augenblicks, sie wieder aufzukündigen.8 In Wirklichkeit hatten die Schweizer und mit ihnen die Urner – diese hatten sich gegen den französischen Besetzer 1798 sogar militärisch gewehrt – das Werk des «Grand Consul» mit Eile, wenn nicht gar mit Freude angenommen trotz der Tatsache, dass es ausserhalb der vaterländischen Grenzen entworfen, redigiert und bekannt gemacht worden war.9
DAS PRESTIGE DES GROSSEN KONSULS
«Grand Consul»! Man kann sich kaum vorstellen, welches Prestige Napoleon Bonaparte im Europa des Frühlings 1803 genoss, ein Jahr vor der offiziellen Ankündigung seiner Thronbesteigung als Kaiser.10 Um dieses Prestige deutlich zu machen, versuchen wir, ein Bild des damals mächtigsten und widersprüchlichsten Mannes zu zeichnen. Bald wird die englische Karikatur, die beste Europas, ihn mit der scheusslichen Fratze eines kinderfressenden Korsen darstellen. Er träumt davon, Grossbritannien in die Knie zu zwingen, eine ebenso stolze wie mächtige Nation, Beherrscherin der Meere11 und Vorreiterin des wirtschaftlich-industriellen Fortschritts. Noch präsentiert er sich aber, mit 34 Jahren, als friedenbringender Krieger der modernen Zeiten, in einer Hand den Degen, in der anderen den Olivenzweig, mit schmaler Silhouette und langen Haaren. Als militärischer Held und politisches Genie repräsentiert er den unbesiegbaren Kriegshelden12 und den nicht zu umgehenden Friedensstifter.13 Gefürchtet und gleichzeitig bewundert, vereint er in sich nicht nur die Kraft zum Dienst am Frieden, sondern auch die Autorität im Dienste von Recht, Justiz, Ruhe und Ordnung14 in einem von der Revolution erschütterten Europa. Die fehlgeschlagenen Attentate15 gegen seine Person erweisen seinen Feinden einen schlechten Dienst und verleihen ihm den Ruf der Unverwundbarkeit. Der Sohn der Revolution hört nicht auf, jedem immer und immer wieder zu sagen: «Die Revolution ist beendet!» Staats- und Armeechef eines Frankreich, das noch kürzlich in Auflösung war, erscheint er wie ein Wundertäter, um das Land in kürzester Zeit wieder aufzurichten. Er ist der Übermensch, der Europa, dem Zentrum der Welt, geschenkt wurde, um dessen Schicksal in die Hand zu nehmen. Es ist noch nicht so weit, aber eines Tages wird man von ihm ohne Übertreibung sagen, dass er «der Kopf von Cäsar auf den Achseln von Alexander dem Grossen» ist: Alles scheint so abzulaufen, wie wenn er es schon wäre. Mythos oder Realität, das ist jedenfalls das Bild, das die schweizerische, deutsche, italienische und selbstverständlich die französische Presse dieser Zeit von ihm zeichnet. Die französische wird von den Lesern bevorzugt, weil sie aus Paris, wo sich alles entscheidet, immer das Neueste berichtet. Ein Bild, das durch die Propaganda noch aufgebauscht wird – Bonaparte ist darin schon Meister16 –, das aber in Bezug auf seine universell anerkannten, gewaltigen Talente, die eine glänzende Zukunft ankündigen, nicht falsch ist.
Schon damals kennt man die überragende Rolle, welche der französische Staatschef bei der Gestaltung und Ausarbeitung der Mediationsakte persönlich gespielt hat – daran lassen die von der Presse publizierten offiziellen Texte keinen Zweifel aufkommen.17 Es war eine derart massgebliche Rolle, dass man sie eher mit derjenigen eines Schiedsrichters als eines Vermittlers vergleichen muss. Ein Vermittler schlägt vor, ein Schiedsrichter verfügt.18 Bonaparte, unter dem schon Napoleon hervorbricht – um Victor Hugo zu zitieren –, verkörpert in vollendeter Form den Entscheidungsträger in Politik und Militär. Als er 1799 Erster Konsul wird, zirkuliert in Paris ein Bonmot: «Was beinhaltet die Verfassung?» – «Bonaparte!» Gleichfalls hätte einem Neugierigen am Tag nach dem 18. Februar 1803 auf die Frage: «Was beinhaltet die Mediationsakte?» ein gewitzter Mann antworten können: «Den Mediator!»
Bonaparte war im helvetischen Streit zwischen «den Parteien, welche die Schweiz teilen»19 also eher Schiedsrichter als Vermittler. Aber auch in dieser Rolle war er gewissen Zwängen unterworfen. Die Historiker stimmen darin überein, dass er als anerkannt grosser Stratege die zwingende Notwendigkeit begriffen hatte, an der Ostgrenze von Frankreich den Verteidigungswall wiederherzustellen, den die Eidgenossenschaft seit der Einverleibung der bisher spanischen Freigrafschaft (Franche-Comté) durch Ludwig XIV. 1678 gebildet hatte. Der Einmarsch der Armeen des Direktoriums 1798 in die Schweiz war ein Fehler gewesen. Die Invasion hatte aus der Eidgenossenschaft, die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts vom Krieg verschont geblieben war, das Schlachtfeld Europas gemacht. General Bonaparte musste den helvetischen Schild wiederherstellen, und wäre es nur, um auf dem so schwierigen Gelände nicht einen gewichtigen Teil seiner Kräfte binden zu müssen. Ausserdem schätzte er als guter Kenner der Verhältnisse den Kampfwert der Schweizer Soldaten so hoch ein, dass er auf sie nicht verzichten oder, noch schlimmer, sie sich zum Feind machen wollte. Die Schweiz sollte auf dem Markt der Reisläuferei bleiben, was sie schon immer gewesen war: ein zwar teures, aber privilegiertes und volkreiches Reservoir. Nicht vergebens zirkulierte in Frankreich der Ausspruch: «Kein Geld, keine Schweizer!» Darüber hinaus konnte die Neutralität, der die Schweizer sehr zugetan waren, die aber – ein anderer Fehler – 1798 um den Vorteil einer offensiven Allianz willen geopfert worden war, Frankreich in einem europäischen Krieg nützlich sein.20
Unter diesem Blickwinkel ist es erlaubt, in der Mediationsakte von 1803 wie auch in der sie ergänzenden Defensivallianz und im Militärvertrag, genannt Capitulation, eher den Ausdruck einer Übereinstimmung der französisch-schweizerischen Interessen als das einseitige Zeichen des Willens des Stärkeren zu sehen. Als sich die Schweizer im Winter 1802 zur Pariser Consulta begaben, taten sie dies nicht auf den Knien bittend. Seinerseits ging Napoleon nicht das Risiko ein, seine Gäste zu demütigen, indem er ihnen etwas aufzwingen wollte. Die beträchtliche Zeit, welche ein so beschäftigter Staatsmann wie Bonaparte den Angelegenheiten der Schweiz ganz persönlich gewidmet hat, zeigt zur Genüge, worum es ihm ging. Seine Gesprächspartner haben seine umfassende Kenntnis des helvetischen Dossiers ebenso wie sein Rednertalent und vielleicht auch sein Schauspieltalent bewundert. Die Schweizer haben einen Mann mit aussergewöhnlicher Arbeitsintensität am Werk gesehen, der sich für ihre Anliegen interessierte und sie zuvorkommend behandelte. Jeder verstand seine Entschlossenheit, nahm aber auch wahr, dass sein sachter Druck mit brutaler Energie oder Hinterlist eines Kriegsführers im Felde nichts zu tun hatte.21 Der neue Hannibal, der 1800 über den Grossen Sankt Bernhard22 marschiert war, hatte nach der Rückkehr in seine Pariser Büros die Uniform mit dem Gehrock vertauscht, den er ebenso gut trug. Er, der an der Spitze einer Armee von 40 000 Mann nur zehn Tage gebraucht hatte, um seine einzigartige Unternehmung zu Ende zu führen, setzte mehr als zwei Monate ein, um von seinen Gästen – einer paritätischen Delegation von zehn Schweizern und vier französischen Senatoren – eine für beide Seiten akzeptable Formulierung zu erreichen. Kurz gesagt, auch die Schweizer verbargen unter ihrer starken Panzerrüstung solide Verhandlungsqualitäten. Hätte der Herr von Frankreich das nicht gewusst, die Consulta hätte es ihm beigebracht.23
ORIGINALITÄT DER MEDIATIONSREGIERUNG
Die am 10. März 1803 in Kraft getretene Mediationsakte, die eher ein schiedsrichterliches Resultat einer langen, bilateralen franko-schweizerischen Verhandlung als ein Kompromiss war, der zwei rivalisierenden helvetischen Fraktionen mit einer Ermattungsstrategie abgerungen worden war, eröffnete eine beispiellose Periode der Schweizer Geschichte. Sie erstreckte sich über ein gutes Dezennium (sie endete am 29. Dezember 1813) und dauerte doppelt so lange wie die Helvetische Republik (1798–1803). Zum Vergleich: Die Restauration hatte 16 Jahre Bestand (1814–1830) und die Regeneration 18 (1830–1848). Sie als «Protektorat» zu bezeichnen, unter dem die Schweiz von 1798 bis 1813 gestanden hätte, ist im juristischen Sinn ein ungenauer Ausdruck.24 Gewisse Historiker haben daraus trotzdem ihr Glaubensbekenntnis gemacht.25 Andere26 bestanden auf dem Wort Domination, selbstverständlich der französischen Herrschaft, ohne einzusehen, dass die Könige von Frankreich während Jahrhunderten eine eigentliche Schutzherrschaft über die Schweiz ausgeübt haben. Wieder andere haben richtig erkannt, dass die Fremdherrschaft in der Schweiz mit ihren wiederholten Einmischungen in die eidgenössischen Angelegenheiten und ihrem militärischen, politischen, diplomatischen, ökonomischen und religiösen Druck von 1798–1848 ein halbes Jahrhundert fortbestanden hat, aufgeteilt in zwei Zeiträume, wobei der Kongress von Wien die Zäsur bedeutete: 1798–1815 (französische Periode), 1815–1848 (Periode der Heiligen Allianz).27
In diesem halben Jahrhundert stürmischer Geschichte hat die Mediation, welche nur mit einem Fünftel der Zeitdauer von der Revolution bis zum Sonderbund zu Buche schlägt (10 von 50 Jahren), ihren gut markierten Platz und besticht durch ihre ganz eigene Physiognomie. Das Bild, das sich im Spiegel der Geschichte zeigt, unterscheidet sich von einem Autor zum andern, von einer Epoche zur anderen, von einer historischen Schule zur anderen. Soweit Geschichte ein Gebiet der Humanwissenschaften ist, erfordert sie eher Scharfsinn und Einfühlsamkeit als geometrischen Geist, um mit Blaise Pascal zu sprechen. Glücklicherweise ist der Beruf der Clio nicht eine exakte Wissenschaft und das Feld der möglichen Interpretationen unbegrenzt. Beispielsweise könnte man mit gutem Grund die Mediation als uneheliche Tochter des Ancien Régime und der Revolution betrachten, da sie von ihren beiden Eltern Erbgut übernommen hat: vom Ancien Régime das Fehlen einer zentralen Regierung und der Gewaltentrennung, von der Revolution die Postulate der Gleichheit der Stände und Personen, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit wie auch und vor allem den Verzicht auf Privilegien.
War die Mediation ein zwitterhaftes Regime, das niemanden zufriedenzustellen vermochte, oder im Gegenteil ein sinnreicher Kompromiss, ein Mittelweg zwischen Revolution und Gegenrevolution? Sollte man auf sie nicht die Formulierung anwenden, die Ludwig XVIII. später anstelle eines politischen Programms für das Frankreich unter seiner Herrschaft erfunden hat: «Das Ancien Régime ohne seine Missbräuche»? Eine klug dosierte Mischung von Tradition und Moderne, das war, könnte man sagen, die «weise Mediation». Aber welch eine seltene Tugend ist die Weisheit! War die Mediation in Wirklichkeit nicht nur ein einfacher Übergang, eine «kleine Restauration» in Erwartung der grossen (1814/15)? Um ein gastronomisches Bild zu bemühen, können wir sagen, dass diese «kleine Restauration» aus Speisen bestand, welche von einer neuen «classe politique», je nach Kanton anders zusammengesetzt, von aufgeklärten Aristokraten von früher und in der Zwischenzeit klug gewordenen Demokraten aus der Revolutionszeit gemeinsam genossen worden war. Der Zutritt zum Restaurant – der Ausdruck stammt aus der Epoche – war nicht gratis: Ein verschärfter Wahlzensus filterte die Tischgenossen und beugte dem Zustrom des Plebs aus der Landschaft vor, der berüchtigten «Bauernkratie».28 Man blieb unter seinesgleichen, unter «honnêtes gens». Nachdem man sich mit der soeben vergangenen und bereits vergessenen Zeit versöhnt hatte, sang man im Chor Lobeshymnen auf den Mediator und die Verdienste der Mediation. Doch die Mediation wird mit ihrem Vermittler untergehen.
Ist man in erster Linie an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Schweiz interessiert, erscheint die Mediation wie eine Etappe, die den Beginn der industriellen Revolution und den Aufstieg der kämpferischen, kapitalistischen oder progressiven29 Bourgeoisie anzeigt. Im Gegensatz dazu würden ein Politologe und ein Jurist, die mehr Aufmerksamkeit für die institutionellen Mechanismen aufbringen, in der Verfassung von 1803 die Originalformel einer Föderation von republikanischen Staaten ausmachen, die auf den Grundsätzen von Gleichheit und Freiheit und einer jährlich wechselnden Einmannpräsidentschaft gründet: Sechs Vororte – in der Reihenfolge Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich, Luzern – beherbergen nacheinander den eidgenössischen Hauptort, gleichzeitig Sitz der Tagsatzung und der zentralen Verwaltung30 wie auch des vorsitzenden Landammanns. Werden seine zahlreichen Chargen und wichtigen Kompetenzen in Betracht gezogen, die alle ausführlich in der Mediationsakte31 aufgeführt sind, erscheint er wie der Angelpunkt des Systems. Er verfügt zwischen zwei Tagsatzungen über eine Manövriermarge, die es ihm erlaubt, viele persönliche Initiativen zu ergreifen, gerade etwa im Fall von diplomatischen Beziehungen, welche er dann vor der versammelten Tagsatzung zu verantworten hat. Da er von keinem kollegialen Regierungssystem eingeengt ist, verfügt er über eine umso grössere Freiheit. Das Fehlen eines solchen kollektiven Organs ist riskant in einer Schweiz, die sich immer gegen jede Form von persönlicher Macht misstrauisch gezeigt hat. Der Mediator habe diese präsidentielle Instanz aufgezwungen, wird gesagt, um nur einen einzigen Verantwortlichen zu haben, mit dem er die Angelegenheiten der Schweiz behandeln konnte.32 Aber man weiss auch, dass er sich der Schaffung eines Staates und einer Armee widersetzte, die aus der Schweiz einen zu wenig fügsamen Alliierten gemacht hätten. Der Vermittler hatte etwas Machiavellisches an sich: Er wusste zu «teilen, um zu herrschen».
Für zahlreiche Historiker ist der Kanton die Grundzelle und das Fundament des «Hauses Schweiz», bestimmt durch drei grundlegende Attribute, welche das öffentliche internationale Recht jedem Staat zuerkennt: Territorium, Volk, Regierung. Sie sehen in der Mediation eine Föderation von 19 Staaten. Sie rufen so die Souveränität und Unabhängigkeit jedes Kantons ins Gedächtnis zurück, unterstreichen aber gleichzeitig die Aufnahme von sechs Miteigentümern in das grosse eidgenössische Chalet, die bisher einfache Mieter waren, das heisst Untertanenländer (Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt) und Verbündete (St. Gallen und Graubünden – das Wallis blieb bis 1815 ein französisches Departement). Diese zusätzlichen Mitglieder werden sich im neuen Staat bemerkbar machen, denn das demografische Gewicht von einigen verleiht diesen eine doppelte Stimme in der Tagsatzung.33
«Konföderation der 19 Kantone»,34 diese Formulierung, die schon durch ihren römischen Klang Achtung einflösst – man beachte den offiziellen Ausdruck «Confoederatio Helvetica», der immer noch in Kraft ist –, verfügt gleichzeitig über einen mnemotechnischen und pädagogischen Vorteil, um die Mediation im Zeitablauf gut als einen bestimmten Augenblick (kurze Dauer) einer Geschichte (lange Dauer) einreihen zu können, welche sich heute über acht Jahrhunderte erstreckt: Der Ausdruck unterstreicht ausgezeichnet das Vorher und Nachher. Geschichtlich gesehen nachteilig ist die vielleicht willentlich ausgeklammerte «eine und unteilbare» Helvetische Republik. Sie wird so von der jahrhundertelangen Evolution weggeschoben, die von der Schweiz der drei Gründerorte (1291) zu jener der 13 Stände (1513), dann zu jenen der 19 (1803), der 22 (1815) und der 23 (1978) in der logischen Erwartung der 24 oder mehr Kantone führt, wie wenn es sich um ein Wachstum ohne Ende einer ewigen Konföderation handelte, obschon sich die Grösse des Territoriums seit dem 16. Jahrhundert praktisch nicht mehr geändert hat.
DIE SCHWEIZ IN FRIEDEN IN EINEM EUROPA IM KRIEG
Wie wir gesehen haben, sprechen die Urner 1803 vom «Grossen Konsul». Könnte man heute nicht auch von einer «Grossen Mediation» sprechen? Gibt es zwischen der «Grande Nation»35 und dem «Grand Empire»36 nicht auch das «Grand Consulat»?37 Man könnte per analogiam den Ausdruck «Grosse Mediation» – mit Grossbuchstaben – riskieren, um diese Periode zu bezeichnen, welche auf den Namen ihrer Gründungsakte getauft wurde und – einmalig in unserer Geschichte – so den seines Schöpfers in Erinnerung ruft.
«Die Grosse Mediation»: zugegebenermassen ein etwas provozierender Vorschlag, um ein Gegengewicht zur «Mediation» herzustellen, auch dies eine Wortwahl von Historikern,38 eine Zeit, die eine wenig glorreiche, wenn nicht gar schimpfliche Episode darstellt, die zwar kurz, aber doch zu lang war in einem langen Heldengedicht, welches die Schweizer Geschichte gewesen wäre. Die Geringschätzung, an der die Mediation leidet, ist die Frucht einer überschwänglichen Geschichtsschreibung,39 die unter dem Beiwort patriotisch ihren Nationalismus oder vielmehr ihren chronischen Lokalchauvinismus schlecht verbirgt, den des «Sonderfalls» und des «Alleingangs», zwei Aspekte eines zutiefst anti-europäischen Isolationismus.
Der heutige Prozess der Schaffung Europas lädt dazu ein, die Geschichte seiner Nationen und Staaten unter einem neuen Gesichtspunkt zu lesen. Die napoleonische Episode erscheint dann wie ein Versuch unter anderen, den alten Kontinent zu vereinigen, diesen westlichen Fortsatz von Asien. Vom heutigen Vorstoss zur Einigung Europas, der auf einem gemeinsamen Vorgehen und gegenseitiger Zustimmung der Völker und Regierungen beruht, unterscheidet sich die Methode Napoleons grundlegend. Dieser wird oft «der glückliche General» genannt – und beinahe wäre es ihm gelungen, als Engländer geboren zu werden.40 Sein Einigungsversuch stützte sich zumindest teilweise auf römische und karolingische Modelle. Geistreich hat Napoleon versucht, die «brüderliche Vereinigung der Völker» gegen die Regierungen, die gegenüber den Grundsätzen von 1789 feindlich eingestellt waren, auszuspielen. Nachdem diese ideologische Feindseligkeit nach zwei Jahrhunderten ganz oder beinahe verschwunden ist, scheint die Idee der Menschenrechte41 den Vereinigten Staaten von Europa, die ohne jeglichen Hegemonieanspruch einer Nation über die andere aufgebaut wurden, eine neue Chance zu geben.
Welches sind im Rückblick von 200 Jahren die wesentlichen Resultate unserer Grossen Mediation? Ihr erstes Verdienst ist zweifelsohne, der Schweiz mitten in einem vom Krieg heimgesuchten Europa den Frieden bewahrt zu haben: In der Tat ist der wesentliche Pluspunkt der Grossen Mediation, dass sie das Land nach innen befriedet hat und gegen aussen den Frieden zu bewahren vermochte.42 Doch konnte die selber nicht im Krieg stehende Schweiz dem gemeinsamen Schicksal Europas, welches durch die unaufhörlichen militärischen Auseinandersetzungen erschüttert wurde, nicht ganz entgehen. Von 1803 bis 1813 folgten vier Kriege aufeinander. Hunderttausende von Männern wurden mobilisiert, und Zehntausende von Toten und Verletzten waren zu beklagen, von den Opfern unter der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen. Da die Schweiz sich durch die «Capitulation militaire», einen militärischen Staatsvertrag von 1803, an das französische Imperium gebunden hatte, war sie verpflichtet, der «Grande Armée» dauernd 16 000 Mann zu stellen. Dies gelang ihr nur mit Schwierigkeiten. Im Verlauf der Jahre wurde die Rekrutierung wegen der immer zahlreicher werdenden Abgänge, welche ununterbrochen Löcher in die Bestände rissen, zunehmend schwieriger. Es gab Deserteure, Widerspenstige oder solche, die sich selbst verstümmelten. Man weiss auch – noch dramatischer –, dass Schweizer, welche in französischen oder spanischen Armeen dienten, sich gegenseitig bekämpften, so geschehen in der fürchterlichen Schlacht von Baylen in Andalusien (1808).43 «Das Schweizer Blut wurde durch Schweizer Hände vergossen», um das Wort Napoleons wieder aufzunehmen, welches er mit Bezug auf den Bürgerkrieg in der Schweiz 1802 ausgesprochen hatte.
DIE MEDIATION, EINE UMFASSENDE REGELUNG DER SCHWEIZERISCHEN PROBLEME
Übrigens sind die grossmütigen, universellen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die 1789 proklamiert und bald in ganz Europa verbreitet wurden, der Geschichte der Grossen Mediation nicht fremd: Die Akte von 1803 wurde durch sie direkt inspiriert.44 Die Historiker sind sich heute einig: Im Gegensatz zu dem, was die Handbücher in ihrer Besessenheit, an die alte Freiheit der untergegangenen Eidgenossenschaft anzuknüpfen, während zu langer Zeit lehrten, war der Föderalismus, zu dem die Schweiz durch die vom Mediator vermittelte Übereinkunft zurückkehrte, nicht mehr derjenige des Ancien Régime. In Wirklichkeit begründete die Akte von Paris einen neuen Föderalismus, basierend auf der Gleichheit von Ständen und Personen.45 So kennzeichnete das Jahr 1803 den zweiten Tod des vormals wurmstichigen und nicht mehr zeitgemässen Föderalismus, welcher ein erstes Mal 1798 von der Bühne der Weltgeschichte weggefegt worden war. Er wiederholte sich 1848 ein drittes Mal bei der Gründung des eidgenössischen Bundesstaates, welcher auf die Föderation der Staaten von 1815 folgte, und sogar ein viertes Mal 1874 durch die Verstärkung des Zentralstaates von 1848. Mit anderen Worten: Der Föderalismus hörte nicht auf, sich zu entwickeln, blieb aber auf der soliden Basis von 1803 verankert. Deshalb ist die Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Mediationsakte im Jahre 2003 vollauf gerechtfertigt.
In den Augen der Urner bestand die Grösse des Ersten Konsuls darin, ihnen ihre «glückliche Vergangenheit» zurückgebracht zu haben. Im Klartext, die Bedeutung der Männer der Mediation besteht darin, von Paris zunächst eine globale Regelung des Schweizer Problems in einer für beide Seiten annehmbaren Form einer Befriedungsübereinkunft erreicht zu haben, welche zwei Punkte beinhaltet: Abschaffung des Regimes der Helvetischen Republik (effektiv am 10. März 1803), Wiederverhandlung des offensiven und defensiven Allianzvertrages von 1798, welcher an der Tagsatzung von Freiburg im Sommer 1803 in Angriff genommen und am 27. September durch die Unterschrift des defensiven Allianzvertrages, versehen mit einer Kapitulation, beendet wurde. Die neue Allianz von Freiburg – erinnert sie nicht an diejenige von 1516?46 – verschaffte der Schweiz auf dem internationalen Parkett eine Glaubwürdigkeit, die mit derjenigen unter dem Ancien Régime vergleichbar war und folglich von feindlichen Mächten Frankreichs nur schwer strittig gemacht werden konnte.
Die Schweiz – «neutral und Alliierter von Frankreich», das war schon ihr Status in der Epoche der Ewigen Allianz (1516) – bekommt so den Frieden zurück, den sie vor 1798 genoss, einen Zustand, der von ganz Europa respektiert wurde, auch wenn er immer wieder bedroht und gefährdet war. Die gleiche Situation bestand auch während der Mediation. Wenn man in Betracht zieht, welche Erfahrungen die Schweiz im 20. Jahrhundert während der zwei Weltkriege gemacht hat, kann man den psychologischen Druck ermessen, den die Kriegsgefahr zur Zeit Napoleons auf das Land ausübte, zumal wenn man berücksichtigt, dass während der Mediation innerhalb von nur zehn Jahren die Eidgenössische Armee drei Mobilmachungen erlebte (1805, 1809, 1813). Droht der Schweiz wieder eine Besetzung wie 1798/99? Wird sie von neuem zum Schlachtfeld Europas? Solche Fragen beunruhigten die Schweizer dieser Epoche.
Jeder Staatschef Frankreichs, von König Franz I. bis zu Kaiser Napoleon I., also während ganzer 300 Jahre,47 war Alliierter, Vermittler und Arbeitgeber der Schweizer. Die Übereinkunft von 1803 fand ihre Berechtigung in der jahrhundertealten Tradition von gegenseitigen Rechten und Pflichten des Völkerrechts und war für die damaligen Verhältnisse weder schockierend noch unehrenhaft. Die Neutralität war für die Schweizer ein charakteristisches politisches Verhalten, welches hauptsächlich auf unilateralen Erklärungen beruhte und kein juristisches Statut war, das die internationale Gemeinschaft und das Corpus helveticum vertraglich verpflichtet hätte. Erst beim Wiener Kongress 1815 und im Vertrag von Paris wurde die Schweizer Neutralität offiziell anerkannt, umschrieben und garantiert;48 anerkannt im Interesse von ganz Europa und definiert als «immerwährende und bewaffnete Neutralität».49 Somit kann man sagen, dass die Neutralität wie auch der Föderalismus sich der Entwicklung anpassten, was ein Zeichen von Vitalität und ein gutes Omen für die Zukunft war.
DAS LAND MIT «WENIGER STAAT» DYNAMISIEREN
In Frieden leben in einem Europa im Krieg, Revolution und Tradition miteinander aussöhnen, das sind die zwei Wagnisse, welche die Mediation einging und gewann. Es gibt noch ein drittes, nicht kleineres Wagnis, das sie auch bestand, nämlich das Land mit «weniger Staat» zu redynamisieren, um einen heute modischen Ausdruck zu gebrauchen. Effektiv bedeutete die Rückkehr zum Föderalismus nicht nur den Verzicht auf das zentralistische politische System, welches durch die Helvetik eingeführt worden war, sondern auch die Abschaffung administrativer Instanzen, die es erlaubt hätten, eine wirklich nationale Verwaltung der Ressourcen und der Infrastrukturen des Landes einzuführen oder zumindest in Betracht zu ziehen. Zentrale Administrationen, nationale Inspektionen oder Verwaltungen, diese Organe hatten (oder hätten) den Auftrag gehabt, sich mit der Leitung der Minen, hauptsächlich der Salzminen, mit der Verwaltung von Wäldern, Verkehrswegen, Zöllen und Gebühren, Post und Gütertransport, Mass und Gewicht, Geld und Steuern zu befassen. Seit Frühling 1803 begann die Auflösung dieser weitläufigen Organisationen, da sie als zu kostspielig beurteilt wurden und faktisch die Staatskasse stark belasteten. Die Kantone verteilten nach territorialen oder demografischen Kriterien die Übernahme der für ihr eigenes Funktionieren notwendigen oder für die Eidgenossenschaft unentbehrlichen Sektoren und vernachlässigten den Rest. Daraus resultierte die Aufhebung von bis anhin nützlichen Verwaltungen, zum Beispiel für die Wälder. Von den erwähnten gemeinsamen Aufgaben, die auch gemeinsam finanziert wurden, übernahm die Mediation nur diejenigen für Verteidigung (Armee) und auswärtige Beziehungen (Diplomatie).50
Trotz diesem Hindernis hat die Schweiz der Mediation gerade durch die Zusammenarbeit der Kantone mit Erfolg versucht, das Land nach dem Bürgerkrieg von 1802 und dem Sturz der Helvetik wieder vorwärtszubringen und auf gewissen Gebieten sogar die nationale Modernisierung weiterzuverfolgen. Diese hatte im Enthusiasmus der Revolution von 1798 begonnen, wurde aber bald durch das Zusammentreffen von zwei Faktoren verhindert, einerseits durch das Nichtfunktionieren des neuen Regimes, andererseits durch Sabotage jener Kreise, die aus verschiedenen Gründen der Revolution und der Helvetik feindlich gesinnt waren. Es gehört sich, wenigstens ein summarisches Inventar der realisierten politischen, ökonomischen und kulturellen Leistungen der Eidgenossenschaft der 19 Kantone aufzustellen.51
DER NEUE FÖDERALISMUS: KANTONALE UNABHÄNGIGKEIT TROTZ NATIONALER VERBUNDENHEIT
Die neue Schweiz beginnt auf einer gesunden Grundlage. Sosehr 1802 ein «Annus horribilis» voller Not gewesen war, so sehr war 1803 ein «Annus felix», ein glückliches Jahr. Die äusserst positive Reaktion des Kantons Uri auf die Ankündigung der Mediationsakte vom 18. Februar wurde von den achtzehn anderen Kantonen gemäss den Pressestimmen einstimmig geteilt. Dies galt sowohl für die neuen Kantone, welche im Sturm für die Sache gewonnen wurden, als auch für die alten direkten Demokratien der Zentralschweiz oder die Patrizier- und korporatistischen Stände des Mittellandes. Der Grund für diesen Enthusiasmus ist einfach: Die Akte von Paris war eine enorme Überraschung. Die 60 Abgeordneten, welche im Herbst 1802 die Reise in die französische Hauptstadt unternommen hatten, waren in grosser Mehrheit Anhänger des zentralistischen Einheitsstaates (Unitarier) und der Helvetik. Nun hatte aber der Föderalismus den Sieg davongetragen.52 Dem Mediator war es gelungen, beinahe alle auf seine Formel zu bringen. Die neuen Kantone wurden dank der Annahme des föderalen Systems nicht nur anerkannt, sondern auch auf die gleiche Stufe mit den alten gestellt, welche ihrerseits nur davon träumten, ihre althergebrachte Freiheit wiederzugewinnen. Bern und Zürich, die um einen Teil ihres bisherigen Territoriums zum Vorteil der neuen Kantone amputiert worden waren, hatten allen Grund, verärgert zu sein. Die Patrizierklasse aber, welche aus ihren Machtpositionen in der Helvetik verdrängt worden war, kehrte zu ihren Geschäften zurück und fand wieder Einfluss und Prestige in den zwei stolzen Städten am Ufer der Aare und der Limmat, was für sie die Hauptsache war. Ausserdem mussten sie in den Räten den zahlreichen Bürgern und reichen Aargauer, Thurgauer und Waadtländer Bauern, die jetzt bei sich selber Meister waren, nicht gegenübertreten. Deshalb gewann die laute Freude auch den Berner Bären und den Zürcher Löwen. Auf dem politischen Fechtboden kommt es selten vor, dass die beiden miteinander tanzen!
In diesem vorteilhaften Klima kehrte das Vertrauen wieder zurück. Es erlaubte, dem Wiederaufbau des materiell und moralisch ruinierten Landes die notwendige Energie zu verpassen. Die darniederliegende Schweiz konnte mit keinem Marshallplan rechnen, sie musste die Verantwortung selber übernehmen. Die Aufgabe war gigantisch: Man musste politische und administrative Behörden für alle Hierarchiestufen einsetzen, unverzüglich Gesetze erlassen und gleichzeitig die täglichen öffentlichen Aufgaben erledigen, die vom untergegangenen Regime zurückgelassene enorme Schuld abbauen, die Städte, die vorher den Staat verkörpert hatten, mit genügenden Ressourcen versehen, die öffentlichen Finanzen sanieren und ohne Verzug Steuern erheben, die neuen kantonalen Münzen schlagen und in Zirkulation setzen, die Armee durch Schaffung kantonaler Milizen reorganisieren, das Räderwerk der interkantonalen Zusammenarbeit (Konkordate) gestalten und einspielen, die bilateralen Verträge mit dem Ausland aushandeln, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat (Rückgabe der durch die Helvetik eingezogenen Vermögen an die Klöster) verbessern und vieles andere mehr. Die neuen Kantone waren speziell gefordert, denn sie mussten lernen, sich politisch und administrativ selber zu verwalten. Aber die neuen Eliten – die Herausforderung verpflichtet! –, die das Steuer des Staates in die Hand nahmen, waren motiviert und kompetent. Sie hatten den Vorteil, ex nihilo arbeiten zu können, im Unterschied zu den alten Kantonen, die mit den altmodischen Traditionen, beladen mit dem Gewicht der Vergangenheit, und den eingeschliffenen Gewohnheiten, welche schwierig aufzubrechen waren, fertigwerden mussten. In Tat und Wahrheit reüssierten die alten und neuen Kantone gleichermassen, was dem ganzen Land zugute kam.
Die 19 Stände waren rechtlich gleichgestellt, faktisch aber sehr verschieden. Oberfläche und Bevölkerung, Relief und Klima, natürliche Ressourcen über und unter dem Boden, Infrastrukturen, wirtschaftliche Tätigkeiten, dies alles unterschied sie – ganz zu schweigen von den Sprachen, Konfessionen und Mentalitäten. Der Graben war breit, der die grössten von den kleinsten, die am meisten begünstigten von den am schlechtesten dastehenden, die mächtigsten von den schwächsten, die reichsten von den ärmsten trennte. Glücklicherweise bestand in diesem Mosaik ein gewisser globaler Ausgleich der Machtverhältnisse: Nicht alle kleinen Kantone lagen im Gebirge, und nicht alle Gebirgskantone waren arm. Ebenso erstreckte sich das fruchtbare und blühende Mittelland nicht nur auf protestantische Kantone, und die entstehende Industrie, welche von der Energie der Flussläufe abhing, war nicht das Monopol der Städte. Die guten Nachbarschaftsbeziehungen erleichterten die Lösung der Probleme und Streitigkeiten. Auf der Schweizerkarte – dieses «sechsten Kontinents» gemäss einem launigen Einfall von Talleyrand am Wiener Kongress53 – erkennt man geopolitische Realitäten von überkantonalen Regionen, die Solidarität schufen, eine Barriere gegen den Egoismus des «Kantönligeistes». Kantonale Unabhängigkeit in gegenseitiger eidgenössischer Abhängigkeit, so scheint, verkürzt auf einen politischen Aphorismus, das dauerhafte Resultat der Mediation gut beschrieben zu sein in einem Staat, in dem es keine Untertanenländer mehr gab und keine Privilegien des Standortes. Der Übergang von der Föderation der Stände zum eidgenössischen Staat 1848 ändert nichts an dieser Tatsache, ausser dass die nationale Interdependenz gegenüber der kantonalen Unabhängigkeit zunahm und seither nie aufgehört hat, tendenziell zu wachsen.
EINE NEUE «POLITISCHE KULTUR»
Die harmonische Koexistenz, Resultat der Befriedung und der wiedergefundenen Stabilität, zeigt während der Mediation eine politische Kultur, die sich im totalen Bruch mit derjenigen der Helvetischen Republik sehen will. Die Schlüsselwerte des neuen Regimes könnten auf dem politischen Aktionsfeld «parteilos» (sans-partisme) und «Ultra-Zentrismus» heissen, die eine wie die andere politische Haltung vor der Mediation noch suspekt und unter dem abwertenden Begriff des «Moderantismus» verpönt. Die neue politische Kultur, die mit ihrem speziellen Wortschatz und ihrer eigenen Grammatik versehen war, gründete auf einer Moral, die von drei Kardinaltugenden mit den Namen Mässigung, Unparteilichkeit und Weisheit beherrscht wurde. Sie waren expressis verbis in der Mediationsakte aufgezählt,54 was aus ihr einen eigentlichen Code der politischen Ethik machte, ein sehr seltener Fall in der Geschichte des Völkerrechts. Ein Grund mehr, sich damit näher zu befassen.
Wenn man unter dem Begriff «Moderantismus» Moderation oder Mässigung versteht, ist die offizielle Moral der Mediation paradoxerweise eine Kriegserklärung an die «passions politiques», an die glühende politische Leidenschaft: das Wort figuriert auch in der Akte von 1803, die ihren «Einfluss»55 öffentlich verurteilt. Streng genommen handelt es sich um einen heiligen Krieg, der zwar nicht so genannt sein will – wenn man mit den Soziologen darin übereinstimmt, dass jedes politische System, welches sich seiner Werte bewusst ist und sie zu propagieren trachtet, in einer mehr oder weniger offenen Art und Weise eine zivile Religion ist. Ist die Mediation eine eifrig-leidenschaftliche Anhängerin der Mässigung? Der «Parteigeist», als scharfe Form der Leidenschaft und als Gärstoff von heftigen politischen Kämpfen der Helvetik empfunden, wird auf die Anklagebank gesetzt. Seit der Mediationsakte «zwischen den Parteien, die die Schweiz teilen» sind alle Parteien aufgehoben. Der «Parteigeist» wird als Zerstörer des sozialen Zusammenlebens gebrandmarkt.56 Er ist seitdem aus dem politischen Savoir-vivre verbannt. Der gute Patriot ist eingeladen, ihn öffentlich zu denunzieren, der Präfekt und der Polizist, auf ihn Jagd zu machen.
Allerdings ging man nicht so weit, die Gerichte einzuschalten. Man begnügte sich mit der moralischen Verurteilung und zettelte keine politischen Prozesse an, denn die Mediationsakte verbot dies mit ihrer Amnestieklausel (Teil II, Art. XIII) ganz formell. Es gab deshalb während der Mediation keine Verurteilungen wegen «Vergehen in Bezug auf die Revolution». Die Frage hatte sich zwar gestellt. Die Amnestie verordnete also von Amtes wegen die nationale Versöhnung. Sie übte die erwartete Wirkung auf die Befriedung aus: Auf die Aktivseite der Mediation kann man das Fehlen von jeglichem politischem Mord, Putsch oder Putschversuch setzen. Zwar wurde das neue Regime gleich zu Beginn von einem schweren Volksaufstand getroffen, dem einzigen, dem berüchtigten Bockenkrieg. Die Strenge, mit der er unterdrückt wurde, widerspiegelt die Verhärtung des Strafrechts gegenüber jenem der Helvetik – Wiedereinführung der Folter und der Todesstrafe –, sagt aber noch mehr aus, wie wir gleich sehen.
Die öffentliche Volksstimmung – zu unterscheiden von der öffentlichen Meinung, die keine moralische Verbindung kennt57 –, basiert primär auf dem Respekt vor der Autorität, deren Prinzip immer wieder von Staat und Kirche, die sich dabei gegenseitig unterstützen, überall bekräftigt wird. In der staatsbürgerlichen Gesinnung (civisme) der Mediation hatte der Respekt vor der Autorität Vorrang vor dem kritischen Geist. Die Vorherrschaft des Autoritätsprinzips trachtete danach, die Legitimität der legal errichteten Macht zu verklären und das Vergehen wegen Ungehorsams schärfer zu gewichten. Das ist deshalb so wichtig, weil das Strafrecht sich von der Mediationsakte beeinflussen liess, die ausdrücklich den Straftatbestand der kollektiven Revolte vorsah.58 Da es kein eidgenössisches Strafrecht gab, diente in diesem Punkt die Mediationsakte den 19 Kantonen als gemeinsame Grundlage.
Kann die öffentliche Volksstimmung, durchtränkt von Mässigung und Respekt vor der Autorität, das militante Verhalten in der Politik anheizen? Wenn ja, wäre das nicht heimtückischerweise eine schleichende Militanz eines einheitlichen ideologischen Gedankenbreis, eine breite Neutralisationskampagne des Geistes und eine Ermutigung zur Selbstzensur? Die «weisen Denker und Freunde des Guten», um nochmals die Akte von 1803 anzuführen, hatten nur ein einziges Ziel: «die Befriedung und das Glück der Schweizer».59 Das war ihr Glaubensbekenntnis, eine milde Ausdrucksweise, um eine schöne Sache zu verteidigen, aber ohne öffentliche Debatte in den Parteien oder in den Zeitungen. Die Presse war streng überwacht, und ein Pluralismus der Meinungen konnte sich nicht entfalten. Die Wahlen liefen ohne Wahlkampf ab. Das politische Engagement hiess: «allgemeine Sammlung im Zentrum», das famose «juste-milieu», Treffpunkt der biederen Bürger, der «honnêtes gens». Diese mieden die «Grossmäuler» (»exagérés»), die «Prinzipienreiter» (»principiers»), «Anarchisten» und andere «Jakobiner», alles Parteien, die noch 1802 behaupteten, das Gesetz zu diktieren, und deren Sektiererei, wie man sagte, das Land in die Anarchie und den Ruin60 getrieben hatte.
Man muss eingestehen, dass der Ultrazentrismus, die beherrschende und gewissermassen geradezu offizielle Ideologie, das politische Leben61 betäubte. Von heute aus gesehen führt diese Situation unvermeidlich zu der Frage: Wie stand es mit der Demokratie in einem solchen Klima? Dieses Wort kam nirgendwo vor: Presse, offizielle Ansprachen und Gesetzestexte kannten es nicht. Man findet es auch in der Mediationsakte nicht, welche die 19 kantonalen (nicht vorhandenen) Verfassungen vertritt. Ist diese Feststellung ein bedrückendes Zeugnis für das Regime? Rechtlich gesehen existierte die repräsentative Demokratie, aber mit Einschränkungen: keine Gewaltentrennung, ein stark einschränkendes Zensuswahlsystem, welches die Herrschaft der Reichen favorisierte, und beschränkte Redefreiheit. Umgekehrt waren die persönlichen sowie die Klassenprivilegien offiziell aufgehoben, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit aber garantiert. Bilanz des Inventars: Das verfassungsmässige System, welches durch die Mediationsakte eingeführt wurde, war mehr liberal als demokratisch.
Jedes politische System wird auch und vielleicht vor allem durch die Geistesverfassung bestimmt, die es beseelt. Dasjenige der Mediation war von der Ablehnung jeglicher Unordnung und Anarchie geprägt. Die nationale Versöhnung und der Geist der Eintracht – das Gegenteil von Parteiengeist – zwangen zum Vergessen der «Helvetik», die aus Frankreich importiert wurde, aus dem gleichen Frankreich, das durch die Stimme seines neuen Herrn die Nutzlosigkeit der Helvetik anerkannt hatte. In den Augen der damaligen eidgenössischen Führungsschicht musste man jetzt das Blatt wenden, auf einer neuen Grundlage wieder anfangen und in die Zukunft blicken.
WIRTSCHAFTLICHE ERHOLUNG MIT LANDWIRTSCHAFTLICHER HEGEMONIE
Im Frieden mit sich selbst und auf dem internationalen Parkett offiziell neutral, gelingt es der Schweiz in der sogenannten Grossen Mediation, mit einem zentralen politischen Apparat, der auf die einfachste Form reduziert wurde – ein weiterer Zug von Grösse –, sich wirtschaftlich zu erholen. Auch hier gibt die Mediation, die vom wiedergefundenen Frieden profitiert, nach der endgültigen Ablösung von der Helvetischen Republik den Anstoss dazu. Freiheit von Handel und Industrie, deren Idee 1798 proklamiert wurde, wird 1803 aufrechterhalten. Auch die Binnenzölle, die schon von der Helvetik abgeschafft wurden, werden bei der Wiedererrichtung der kantonalen Grenzen nicht mehr eingeführt. Diese zwei Grundbedingungen schaffen einen gemeinsamen eidgenössischen Markt, der Austausch und Konkurrenz, Privatinitiative und Unternehmungsgeist anregt. Wenn wir noch berücksichtigen, dass die öffentliche Gewalt sich in die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht einmischt, so versteht man die Bourgeoisie, die sich dafür einsetzt, wie ein sich gewählt ausdrückender Historiker richtigerweise geschrieben hat, dass «der Profit nicht auf sich warten lässt».62 Dieser Profit fliesst ebenfalls und sogar hauptsächlich aus den Exporten, wobei Europa der erste Kunde der Schweizer Produkte ist. Darum kann man sagen, dass «weniger Staat» diesen ersten Boom der schweizerischen Wirtschaft ermöglicht hat und es nur noch ein kleiner Schritt ist bis zur Ideologie des «laisser faire, laisser passer».
Diese Schlussfolgerung berücksichtigt allerdings nicht, dass die Tagsatzung, zuständig für die Aussenpolitik der Konföderation – inklusive Import und Export –, auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht untätig geblieben ist. Ein nicht zu vernachlässigender Teil ihrer Aktivität, der vom Landammann wahrgenommen wurde, war den Verhandlungen mit den Nachbarländern über gegenseitige Verträge gewidmet. Mit anderen Worten, man muss die vermeintliche Schwäche an der Spitze des konföderativen Staates relativieren, wenn man berücksichtigt, welche grosse Verantwortung der vorsitzende Landammann trug. Eine Frage, die die Wirtschaftshistoriker nur indirekt beantwortet haben, bleibt offen: War die Tagsatzung zur Zeit des vorindustriellen Europa, wo nach Meinung einiger ein «rücksichtsloser Liberalismus» herrschte, nur das Triebrad der schweizerischen Arbeitgeber? Einer Arbeitgeberschaft, die zwar in voller Entwicklung und noch schlecht eingespielt war, deren Wichtigkeit sich aber rasch zeigte.
Wie damals überall blieb die Landwirtschaft vorherrschend und war deshalb in wirtschaftlichen Belangen das Hauptobjekt der Behörden. Sie beschäftigte zwei Drittel der aktiven Bevölkerung. Doch fehlten in gewissen Jahren die Arbeitskräfte, vor allem während der drei Mobilmachungen der Armee, was erklärt, warum die am meisten betroffenen Kantone sich über das eidgenössische Aufgebot für das Armee-Kontingent beklagten. Dazu kam eine örtlich begrenzte Knappheit an Arbeitskräften, welche sich zwischen 1803 und 1813 bemerkbar machte. Der Grund dafür lag ohne Zweifel in der Militärkapitulation: Die grosse napoleonische Armee war auf dem europäischen Markt für junge und starke Männer ein wichtiger Arbeitgeber. Die Schweiz hatte Mühe, das Kontingent dauernd aufzufüllen, und die Landwirtschaft musste sich mit den Leuten begnügen, die übrig blieben. Glücklicherweise kannte das Land von 1800 bis 1816 weder Teuerung noch Hungersnot. Trotz allem reichte die einheimische Produktion – wie immer – bei Weitem nicht aus, um alle Bedürfnisse der Ernährung zu befriedigen, selbst wenn der Getreideanbau in Bezug auf Wiesen und Weiden eine weitaus grössere Fläche nutzte als in späteren Jahren. Gewiss, die Schweiz zählte weniger als zwei Millionen Einwohner, aber die wenig leistungsfähige landwirtschaftliche Technik erlaubte keine höheren Erträge. Im Bewusstsein dieses Mangels an Produktivität wie auch wegen der Bedürfnisse des Marktes entwickelten sich die Grundeigentümer zu Agronomen – ein exemplarischer Fall von Eigeninitiative. Musterbetriebe kamen auf, die mit neu kultivierten Pflanzen Versuche anstellten – so mit Zuckerrüben –, und es gab unter den Betrieben landwirtschaftliche Leistungsschauen. Es scheint, dass diese von den Behörden zwar gern gesehen wurden, die Politik des «weniger Staat» aber keine öffentliche Subventionierung auf eidgenössischer Ebene erlaubte.
«Die Schweizer melken ihre Kühe und leben friedlich»: Der bukolische Alexandriner von Victor Hugo, entnommen aus «La Légende des siècles», spiegelt präzise das romantische Bild des Landes wider. Nur beschönigt eine solche Idee immer die Realität, und der schönfärberische Vers von Victor Hugo war nur zur Hälfte wahr. Der Bockenkrieg widerlegte den grossen Dichter, der von seinem damaligen Touristenführer getäuscht wurde.63 Es ist und bleibt zwar richtig, dass der Aufstand, der von der eidgenössischen Armee unerbittlich unterdrückt wurde, seinen Ursprung nicht in der schlechten Ernährungslage hatte, sondern auf politische Unzufriedenheit zurückging. Die Aufständischen vertraten die Meinung, dass die Rückkaufsgebühr des «grossen Zehnten» übertrieben und unerträglich sei; ein ernsthaftes Problem, das sich über ein halbes Jahrhundert Sozialgeschichte erstreckt. Die Helvetische Republik war willens, es zu lösen, und verordnete schon 1798 den obligatorischen Rückkauf dieser Steuer feudalen Ursprungs, die als ein modernen Zeiten unwürdiges obrigkeitliches Überbleibsel angesehen wurde. Das Gesetz wurde wegen seiner Durchsetzungsschwierigkeiten bald ausgesetzt (1800), dann wieder reaktiviert (1801). Der Untergang der Helvetik (1802) blockierte schliesslich alles. Die Mediation war sich des Problems ebenfalls bewusst und öffnete das Dossier wieder, sobald sie an der Macht war. Von 1803 bis 1806 erliessen ein Dutzend Kantone Gesetze für einen fakultativen oder obligatorischen Rückkauf. 1813 war noch nicht alles geregelt, aber man verdankte einen Grossteil der Arbeit in dieser wichtigen Angelegenheit der Mediation. Ihr ist gutzuschreiben, dass die Landwirtschaft einen grossen Modernisierungssprung machte. Die Grosse Mediation hat das Verdienst, das durch die Helvetik begonnene Werk vollendet, nicht aufgegeben zu haben.
Der Grossen Mediation kommen im Ernährungssektor der Wirtschaft noch andere Verdienste zu. Die Korrektion der Linth und ihre Kanalisierung haben als die grösste je unternommene nationale Gemeinschaftsaufgabe seit der Gründung der Eidgenossenschaft richtigerweise die Aufmerksamkeit der Geschichtsbücher auf sich gezogen. Das Bauwerk, das viel Zeit in Anspruch nahm, wurde 1807 mit dem Ziel begonnen, nicht nur gegen Überschwemmungen und Malaria zu kämpfen, sondern auch die grossen Sümpfe der Linthregion trockenzulegen und zu kultivieren. In einer Schweiz, die in der Phase des demografischen Wachstums stand, war die Gewinnung von Ackerland sehr willkommen. Man muss aber unterstreichen, dass diese riesige Baustelle – ganz auf der Linie des «weniger Staat» – nicht mit öffentlichen Geldern der Eidgenossenschaft finanziert wurde, die für diesen Zweck darüber gar nicht verfügte, sondern auf dem Weg der Subskription und Gründung einer Aktiengesellschaft. Sie war das Werk des Zürchers Johann Konrad Escher, Vater des Projekts und Chef der Bauarbeiten; er gab dem Kanal seinen Namen und wurde von der Eidgenossenschaft zum Dank mit dem Titel «von der Linth»64 geehrt.
ENTWICKLUNG VON INDUSTRIE UND DIENSTLEISTUNGSSEKTOR
Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an nahm die Industrialisierung in der Schweiz einen einmaligen Aufschwung. Man anerkennt heute den aussergewöhnlichen Fortschritt der Baumwollfabrikation und die ernsthafte Konkurrenz, die Baumwollzeug, weisse Leinwand und besticktes schweizerisches Musselin auf dem ausgedehnten und volksreichen Binnenmarkt des französischen Empires darstellte; ein Herrschaftsgebiet, das sich auf seinem Kulminationspunkt von Hamburg bis zu den illyrischen Provinzen des adriatischen Meeres erstreckte und 120 Millionen Einwohner zählte. Demgegenüber war die Kontinentalblockade weit davon entfernt, die Schweizer Industrie zu bremsen, sondern sie schützte sie im Gegenteil vor der englischen Konkurrenz. Dazu kannte die Konjunktur während der Mediation starke Schwankungen: Zwei Krisen (1803–1806 und 1811–1812) haben die geradezu überhitzte Phase der Jahre 1806 bis 1811 eingerahmt. Dieses halbe Dezennium erlebte die durchschlagende Mechanisierung der Spinnerei. Schlussfolgerung: In einem Europa im Krieg hat die Schweiz im Frieden sich auch wirtschaftlich gut aus der Affäre gezogen.65
Davon zeugt sogar der Tertiärsektor mit den Dienstleistungen Handel, Tourismus und Kreditwesen. Die Schweiz, die schon frühzeitig industrialisiert war, hatte sehr bald die Notwendigkeit von Konsularvertretungen geprüft. Diese verdankten ihre Einrichtung zwar der Helvetischen Republik (Bordeaux 1798), aber die Mediation, die nicht im Geringsten daran dachte, das untergegangene Regime auf diesem Gebiet zu desavouieren, hat eine unbestreitbar wichtige Institution aufrechterhalten. Ein pikantes Detail: Weil der Titel «Konsul» in Frankreich den drei höchsten Würdenträgern des Staates, unter ihnen dem Mediator, vorbehalten war, wäre es unschicklich gewesen, damit gleichfalls Leute zu dekorieren, deren Aufgabe eine rein wirtschaftliche war, so angesehen sie auch sein mochten. Man nannte sie deshalb «Kommissare der wirtschaftlichen Beziehungen», was ebenfalls Achtung einflösste. Sie verteidigten die Interessen der Eidgenossenschaft im Ausland, während in der Schweiz selber wirtschaftliche Werbung gemacht wurde – man höre und staune – mit Ausstellungen, welche damals einen ungeahnten Aufschwung nahmen. So veranstaltete der Kanton Bern, Pionier auf diesem Gebiet, 1804 und 1810 eine Ausstellung für Handwerk und Industrie.
Unter den Besuchern, welche diese ganz neue Art von Handelsmessen neugierig verfolgten, fanden sich hauptsächlich Berner, aber auch Schweizer aus anderen Kantonen sowie ausländische Touristen. Der Wahrheit zuliebe muss man sagen: 1804 und 1810 waren Jahre ohne Kriegswirren, was den Besuch von zahlreichen Engländern erlaubte. Für sie gebrauchte man zum ersten Mal das Wort «Tourist», welches seit 1803 bescheinigt ist. Die schroffe Bodengestaltung und die Höhe der Berge, die sommerliche Sonne und der ewige Schnee zogen diese Besucher an, welche aus dem nebligen und ebenen England anreisten. Sie kamen nicht wegen des Komforts der Hotellerie, die noch in den Anfängen steckte, sondern eher, um von zu Hause wegzugehen und das Schauspiel der rohen, aber als natürlich angesehenen Bräuche der Bergler zu besichtigen, etwa die der Hirten am Unspunnenfest im Berner Oberland 1808. Bisweilen gaben sich diese im Allgemeinen begüterten Gäste, «gentlemen’s farmer», reiche Industrielle oder wohlhabende Bankiers amüsiert-distanziert, mit einem herablassenden Blick. Einige der Waghalsigeren schwärmten für den Sport und den Alpinismus, zwei noch unbekannte Ausdrücke. Die Nichtexistenz von Wörtern verhinderte jedoch die Sache nicht: Engländer, Franzosen, Deutsche und Schweizer – diese Letzteren machten den «Alpenstock» zum Gemeingut des Wanderers – rivalisierten um die Besteigung der höchsten Gipfel. 1811 wurde die Jungfrau bezwungen oder geschändet, wenn man es so sehen will.
Wer würde es glauben, dass die Schweiz, die heute im Bereich der Privatversicherungen eine führende Position belegt, lange Zeit vom Ausland abhängig war, bevor sie ihre Ansprüche und ihr Wissen auf diesem Gebiet durchsetzen konnte? Die frühzeitige Industrialisierung hatte schon lange die grossen englischen, französischen und deutschen Gesellschaften angezogen.66 Sie zu konkurrenzieren war keine leichte Sache, denn sie waren auf europäischer Ebene mit ihrem grossen Kapital und ihrer Erfahrung schon stark verankert. Aber der initiative Unternehmungsgeist der Schweizer der Mediation brachte es fertig, sich auch in diesem Sektor ab dem 19. Jahrhundert und bis heute mit Erfolg durchzusetzen. Überraschenderweise versicherte man die Güter vor den Personen, dies vor der Mediation und noch lange Zeit danach. Die öffentliche Hand ging in dieser Domäne voran, und ein Dutzend Kantone gründeten zwischen 1805 und 1812 ihre eigene Versicherungskasse für Tiere und Feuer. Die Schweiz war noch ein Land mit bäuerlicher Vorherrschaft, und die meisten Häuser waren immer noch aus Holz gebaut, auch in der Stadt.
Was die Banken betrifft, gelang es den Schweizern, das Vertrauen sehr früh zu gewinnen,67 und ihr Erfolg im monarchischen Frankreich von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. ist hinlänglich bekannt. Anfang des 19. Jahrhunderts finanzierten sich in der Schweiz die industriellen Unternehmungen der Gründerzeit selber. Die grossen Handelsbanken ebenso wie die Kantonalbanken wurden erst relativ spät gegründet. Im Gegensatz dazu förderten die Behörden den Kleinkredit schon während der Mediation. So entwickelten sich die öffentlichen Sparkassen und die Lokalbanken, welche am Ende des 18. Jahrhunderts eher zögerlich aufgetreten waren.68 Eine Tatsache, die man hervorheben muss: Die Kunden der Sparkassen rekrutierten sich hauptsächlich aus den bescheidenen Schichten der Bevölkerung – Angestellte im Handel, Mägde, Knechte und vor allem die immer zahlreicher werdenden Arbeiter. Sie wurden dazu durch ihre Arbeitgeber ermuntert in einer Zeit, in der die soziale Vorsorge unter der Devise «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!» noch der Initiative des Einzelnen überlassen war.
MEHR ALS WIRTSCHAFT: DER MORALISCHE WIEDERAUFBAU DES LANDES
Der beste Teil des reichen Erbes, welches die Mediation der heutigen Schweiz vermacht hat, ist nicht politischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern kulturell im weiten Sinn des Wortes, welches kollektive Mentalitäten und öffentliches Empfinden einschliesst. Die nachfolgende notgedrungen zu kurze Aufzählung beschränkt sich nur auf die bedeutendsten Errungenschaften.
Nach dem Erdbeben der Revolution von 1798 und nach dem Bürgerkrieg von 1802 erfolgte der Wiederaufbau des Landes nicht nur durch die Einführung eines neuen Föderalismus und durch die Wiederankurbelung der Wirtschaft, sondern es war nötig, sich wieder zusammenzufinden, denn die ganze Gesellschaft war traumatisiert und auf der Suche nach neuen Bezugspunkten und neuen Werten. Sie empfand das diffuse Bedürfnis, zu einem neuen Lebensstil zu finden. Die entscheidende Frage lautete: Wie kann man die Gesellschaft der Bürger (société civile) an der politischen und wirtschaftlichen Macht beteiligen? Die Antwort schien im Wesentlichen in vier Punkten zu liegen: Man wollte die nationale Identität fördern, die sozialen Ungleichheiten berücksichtigen, die Minderheiten anerkennen und den Zugang zum Wissen revolutionieren.
Hatte das Schweizer Volk unter dem Ancien Régime ein eidgenössisches Selbstbewusstsein? Offenbar nicht. Seine Verschiedenartigkeit verbarg seine Einheit. Nur die politische und intellektuelle Elite pflegte das, was man heute «Idée suisse» nennt, Ausdruck einer spezifischen Identität, die als national in dem Mass qualifiziert werden kann, wie die «Schweizer Nation» ein Bestandteil des politischen und literarischen Vokabulars war. Die neue sozial abgestützte Umgangsform des Aufklärungszeitalters hatte die «Helvetische Gesellschaft»69 hervorgebracht, die dazu bestimmt war, die kultivierten Schweizer einander näherzubringen, um das Vaterland miteinander zu feiern, seine Geschichte und seine Helden; allen voran Wilhelm Tell, an dessen Existenz damals niemand zweifelte. Seine Popularität als Held, der sein Land liebt und seine Familie verteidigt, seine Geschichte, die absolut glaubwürdig klingt und die mit dem Begriff von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden ist, halfen den damals noch hauptsächlich ländlichen Massen, den abstrakten Begriffen von schweizerischem Vaterland und patriotischen Bürgern einen Inhalt zu geben. Unter der Helvetik, und das war ihr Drama, wurde der vaterlandsliebende Tell von Anhängern und Gegnern der Revolution, die sich um ihn stritten, vereinnahmt. In der Mediation, und das war ihre Chance, versöhnte Tell das Land: «Keine Ketten den Kindern Tells!», erklärte der Mediator Napoleon, der einen politisch-medialen Volltreffer landete, indem er sich gewandt die Popularität des nicht weniger gewandten Schützen zunutze machte. Es ist kaum zu glauben, dass Uri, das Vaterland des Armbrustschützen, 1803 in Bonaparte den Wilhelm Tell der modernen Zeiten feierte! Fast zur gleichen Zeit bemächtigte sich Schiller 1804 in Deutschland des bekanntesten Schweizers, um aus ihm einen universalen Helden zu machen. 1805 gab es in Sarnen ein «Fest der nationalen Einheit», welches die Gelegenheit nutzte, ein grosses historisches und patriotisches Schauspiel in vier Akten aufzuführen, worin das ganze mittelalterliche Pantheon mit Tell und Winkelried als Stars70 vorkam. Um 1807 erwachte die Helvetische Gesellschaft, die seit 1798 dahindämmerte, wieder zum Leben.
Die helvetische Identität war offensichtlich ein Wert, nutzbar und ausgebeutet für die verschiedensten Ziele. 1808 wurde in Luzern die «Helvetische Gesellschaft für Musik» gegründet.71 Dieser Akt hatte eine hohe symbolische Bedeutung für das Band zwischen der Classe politique und den Bürgern. Gerade in diesem Jahr empfing Luzern als Vorort die eidgenössische Tagsatzung. Als Hauptstadt der Schweiz für ein Jahr wandte sich die Stadt an den damals bekanntesten Schweizer Musiker, den Zürcher Hans Georg Nägeli, ein avantgardistischer Herausgeber, der seit 1803 Beethoven publizierte (Sonate für Klavier, Opus 31, «Der Sturm») und der später mit Schubert und Weber in Verbindung stand.72 Nägeli, modern und phantasievoll, war nicht nur der Gründer der Helvetischen Gesellschaft der Musik, sondern auch während der Tagsatzung Organisator von helvetischen Konzerten, den symphonischen und choralen Feiern der nationalen Brüderlichkeit! Ein phänomenaler und dauerhafter Erfolg. Solche Konzerte und die Helvetische Gesellschaft trugen dazu bei, während des ganzen 19. Jahrhunderts in der Bevölkerung die Liebe zur Musik und die Freude am Musizieren zu verbreiten, gleichsam natürlich verbunden mit der Schweizer Identität.
SOLIDARITÄT UND SUBSIDIARITÄT ALS MOTOR DES NATIONALEN ZUSAMMENHALTS
Der nationale Zusammenhalt kann ohne Solidarität nicht aufrechterhalten werden. Die wirtschaftliche Erholung der Schweiz während der Mediation und vor allem die Phase der Hochkonjunktur der Jahre 1806 bis 1811 verschaffte nicht allen Wohlstand. Es gab die «laissés-pour-compte», die Vergessenen des wirtschaftlichen und demografischen Wachstums. Die gute Gesellschaft nahm davon Kenntnis, und 1810 trafen sich etwa 60 Personen aus 13 Kantonen in Zürich, um darüber zu sprechen. Die Initiative dazu kam von einem angesehenen Mitglied der Helvetischen Gesellschaft, Hans Caspar Hirzel, Mitglied der Loge «Modestia cum Libertate».73 Er war Zürcher, wie Nägeli, Arzt und Philanthrop, vom freimaurerischen Altruismus der Aufklärung durchdrungen, und setzte sich für das Soziale ein. Wie im napoleonischen Europa war die Freimaurerei auch in der Schweiz in voller Entfaltung.74 Logen florierten an den Ufern der Limmat und in den wichtigsten protestantischen Städten des Landes, und die Prinzipien von Brüderlichkeit und Toleranz, die ihr freimaurerisches Denken und Handeln inspirierten, standen einer Zusammenarbeit mit den Katholiken nicht entgegen. Daher nahmen auch gewisse Katholiken an der Versammlung in Zürich teil. Diese rief die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft75 ins Leben, die ganz die Ansichten ihres Präsidenten Hirzel teilte.
Bevor man die Probleme der offenbar wachsenden sozialen Ungleichheit lösen konnte, musste der kantonale Horizont überwunden werden, dem der Föderalismus zu viel schmeichelte, als dass eine globale und wirklich nationale Betrachtungsweise gewagt worden wäre. Nur so konnte aber eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Man musste auf ein unkoordiniertes Handeln und die Verschwendung von Energie reagieren, die 19 kantonale Politiken der öffentlichen Fürsorge verursachten. Konkret diente die neue Gesellschaft als Modell und rief in den Kantonen vergleichbare Organisationen ins Leben, wie etwa die 1813 gegründete «Ökonomische Gesellschaft Freiburg».76 Es handelte sich nicht um karitative Gesellschaften, die sich auf dem Boden der sozialen Realität und Hilfe engagierten, sondern um Studiengesellschaften der sozialen Probleme im weitesten Sinn. Sie berieten Vorschläge zum eventuellen Einsatz der Behörden (Beratungsrolle) wie auch Publikationen, die dazu bestimmt waren, zu informieren und die öffentliche Meinung zu sensibilisieren (Informationsrolle). Die Gesellschaft funktionierte mit diesem philanthropischen Schema etwa zehn Jahre lang, bevor sie den Akzent auf pädagogische und öffentlich-wirtschaftliche Fragen verschob. Als nationale Organisation blieb sie dem Prinzip der politischen und konfessionellen Neutralität verbunden. Entstanden aus privater Initiative, bewahrte sie auch ihre private Organisationsform, aber ihr Zielpublikum wie auch der Umfang und die Dauer ihrer Tätigkeit machten daraus eine quasi-offizielle Einrichtung, welche für die Schweizer Identität grundlegend war. Gegenüber der Classe politique funktionierte die Gesellschaft der Bürger nicht auf dem Konkurrenzprinzip, sondern auf dem der Subsidiarität.
Die Mediationsakte und die 19 kantonalen Verfassungen, die in ihrem ersten Kapitel verankert sind und der föderalen Akte im eigentlichen Sinne vorausgingen, bezogen sich nicht auf eine Erklärung der Menschen- oder Naturrechte. Dennoch bestand eine De-facto-Anerkennung der wichtigsten Minoritäten der Eidgenossenschaft. Während die Schweizer der reformierten Konfession demografisch die Mehrheit besassen, setzte sich eine konfessionelle Parität durch, die sich darin zeigte, dass von sechs Vororten drei protestantisch (Basel, Bern, Zürich) und drei katholisch waren (Freiburg, Luzern, Solothurn). Das war kein Zufall. Es ist selbstverständlich, dass diese vollkommene Parität nichts anderes bewirken wollte, als die friedliche konfessionelle Koexistenz in der neuen Schweiz zu fördern. In Bezug auf die Sprachen bedeutete die Aufnahme Graubündens (rätoromanisch), des Tessins (italienisch) und der Waadt (französisch) in den Schoss der Mutter Helvetia für die drei lateinischen Minderheiten nicht nur eine Aufwertung, sondern auch eine gesetzliche Anerkennung ihrer Gleichheit mit der deutschsprachigen Mehrheit, welche durch ihr demografisches Gewicht und durch die Zahl der Kantone vorherrschte. Es handelte sich da mit Bezug auf das Ancien Régime, das im Innersten keine Gleichberechtigung kannte (Vorherrschaft der Privilegien, des geschichtlichen Vorrangs und des protokollarischen Vortritts) um eine entscheidende Umstellung der politischen Ordnung, die aus dem neuen Föderalismus von 1803 eine regelrechte Revolution machte. Dies gilt es zu beachten, wenn man von der Mediation als einer «Rückkehr» zum Föderalismus oder einer «kleinen Restauration» spricht. Durch die Einführung des Gleichheitsprinzips in die Definition des Föderalismus, das von der Helvetischen Republik übernommen wurde, hat die Mediation ein bahnbrechendes Werk geschaffen. In diesem Sinne ist sie eine legitime Tochter der Helvetik. Schliesslich muss man sehen, dass die Übernahme des Gleichheitsprinzips und der impliziten Anerkennung der Minderheiten eine Demokratisierung des Föderalismus begründen, woher auch zweifelsohne seine Stärke kommt. In der 1803 gegründeten modernen Schweiz waren Demokratie und Föderalismus solidarisch. Sie sind es im 21. Jahrhundert immer noch.
RECHT AUF AUSBILDUNG UND WISSEN
Es ist das Verdienst des demokratischen Föderalismus von 1803, der bürgerlichen Gesellschaft nach dem raschen Zusammenbruch der Helvetischen Republik, Opfer ihrer eigenen Revolution, zugestanden zu haben, die Entfaltung des Individuums durch das Recht auf Ausbildung zu ermöglichen. Eine zu dieser Zeit nicht alltägliche Idee. Die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 hatte dieses Recht ausdrücklich festgelegt (Art. 7).77 Aber die Zeit reichte dem neuen Regime nicht, es umzusetzen. Die Mediation – das ist eines ihrer zahlreichen Verdienste – sprach nicht von diesem Recht, genehmigte aber, ohne ein Wort zu sagen, dessen Realisierung durch das Wirken und Werk der drei Pädagogen Fellenberg,78 Girard79 und Pestalozzi.80 Ihre internationale Bekanntheit gerade in dieser Epoche gereichte auch dem Regime von 1803 zur Ehre.
Den Zugang zum Wissen für alle zu erleichtern scheint heute in jeder Gesellschaft, die sich als modern betrachtet, selbstverständlich. So war es zu dieser Zeit noch nicht. Der Obskurantismus, ein Begriff für das «Dunkel des Aberglaubens», mit dem die Befürworter des allgemeinen, obligatorischen und unentgeltlichen Unterrichts ihre Gegner bezeichneten, war eine mehr unterirdische Strömung als ein öffentliches Bekenntnis. Daher kam auch seine Stärke. Der Obskurantismus hatte seine Anhänger in dem Milieu der traditionellen Didaktik, die auf dem Prinzip «lernen, ohne zu verstehen» gründete, das auf das allgemeinere Autoritätsprinzip zurückgeht. Der kritische Geist, das persönliche Nachdenken und die Zurückweisung des Dogmatismus wurden von den Obskurantisten mit Misstrauen beurteilt. Man versteht, dass unsere drei Pädagogen gegen diese Auffassung waren. Sie revolutionierten das universelle pädagogische Denken. Keine andere Zeit der Schweizer Geschichte hat gleichzeitig so viele aussergewöhnliche Männer in diesem Fach hervorgebracht. Das ist die grösste Leistung der Grossen Mediation.
Noch andere Gemeinsamkeiten vereinigten das Triumvirat, das sich mit Leib und Seele dem Kind gewidmet hat, um dessen Verstand und Herz zu wecken und zu fördern und seine Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. Es war zunächst und vor allem ihr Liberalismus, in dem die Verbundenheit mit der Freiheit aus Überzeugung oder aus persönlicher Sensibilität die tragende Idee war. Sie teilten auch ihre Zuneigung zur Philanthropie, die sie als Aufmerksamkeit gegenüber dem Notstand anderer und den Sozialproblemen im Allgemeinen verstanden. Sie bezogen sich in ihren Schriften und ihrem Unterricht häufig auf die Religion, was den Katholiken Girard den zwei protestantischen Fachkollegen näherbrachte.81 Alle drei leiteten von Kant und seinem «sapere aude» (»wage selber zu denken») ihr hauptsächliches philosophisches Credo ab. Man kann nachvollziehen, wieso an den Ufern der Saane der «patriotische Mönch» Gregor Girard bei der römischen Kirchenhierarchie genau von dem Tag an nicht mehr mit der Aura der Heiligkeit umgeben war, an dem die «Grosse liberale Mediation» der «Grossen konservativen Restauration» Platz machte. Trotz starker Unterstützung durch die Classe politique wurde er gezwungen, seine revolutionäre Methode des gegenseitigen Lehrens und Lernens82 aufzugeben, welche die Bewunderung nicht nur der «toleranten Schweiz», der Katholiken und der Protestanten, sondern auch des ganzen liberalen Europa erregt hatte.
Die Grösse eines politischen Regimes misst sich nicht an seiner Dauer, genau wie die Grösse eines Landes sich nicht allein aus seiner Oberfläche oder aus der Bevölkerungszahl errechnet. Das vorliegende Buch nimmt nicht in Anspruch, eine Geschichte der Grossen Mediation zu sein, die erst noch geschrieben werden muss. Sein Ehrgeiz beschränkt sich darauf, ausgehend von zum grossen Teil unveröffentlichten Quellen erster Hand, neue Perspektiven zu eröffnen und den zu engen Horizont, in den man diese ebenso reiche wie kurze Periode zu oft eingeschlossen hat, neu auszuleuchten. Es möchte verhindern, dass diese Periode aus dem Gedächtnis der Schweizer verbannt bleibt und zu viele seiner Akteure, Politiker, Militärs und Diplomaten der Vergessenheit anheimfallen. In diesem Sinne ist die Darstellung des Lebens von Louis d’Affry, der zum ersten Mal in seiner wahren Gestalt erscheinen wird, ein Desideratum der schweizerischen Geschichtsschreibung.