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ОглавлениеIM SCHATTEN DES VATERS
EINE FREIBURGER ADELSFAMILIE IM DIENST DER SCHWEIZERISCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN
Geschichtsschreibung kann je nach Epoche und Zeitgeschmack heissen: verdunkeln, wo etwas stört, oder aufhellen, wo etwas nützt, unabhängig von den historischen Fakten. Wenige Autoren haben sich in der Vergangenheit mit den d’Affrys befasst. Der letzte Kommandant des ersten Korps der «befreundeten und verbündeten Nation» blieb ebenso verkannt wie sein Sohn, der erste Landammann der Schweiz. Woher rührt dieser Mangel an Publizität? Er liegt in der Geschichte der Familie begründet. Ungewöhnlich ist die Dynastie der d’Affrys wegen der Funktionen, die sie nacheinander wahrnahmen und die in der Geschichte unseres Volkes ihresgleichen suchen. Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793) war der einzige Schweizer, der das Amt des Administrators der schweizerischen Truppen in Frankreich so lange und in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte Frankreichs ausgeübt hatte. Ebenso fiel es seinem Sohn Louis d’Affry (1743–1810) zu, die Grundlagen für die Neuregelung anhand der Mediationsakte von 1803 des Ersten Konsuls zu legen – eine Aufgabe, die sich anderen Landammännern nicht stellte.
1 Porträt von Louis d’Affry, nach seinem Tod geschaffen.
Die Familie d’Affry ist in der Schweiz seit über einem Jahrhundert ausgestorben, ihre Archive aber sind fast vollständig erhalten geblieben. Dennoch hat sich bislang niemand ernsthaft die Mühe gemacht, sich in sie zu vertiefen und eine erschöpfende Darstellung der beiden geschichtlichen Hauptgestalten dieser Familie zu erarbeiten. Der Grund dafür lag offenbar in der umstrittenen Rolle, die Louis Auguste Augustin d’Affry, der Vater des späteren Landammanns, gespielt hat. Der Vater war unter Ludwig XVI. informeller Botschafter des Corps helvétique in Frankreich. Niemand verstand es besser als er, die oft widersprüchlichen Interessen und Ansprüche der Kantone mit dem Willen des Königs und seiner Minister in Einklang zu bringen. Besser als sonst jemand brachte er es fertig, die französischen Anliegen seinem Land und umgekehrt die seines Landes Frankreich diskret zu vermitteln. Das hatte zur Folge, dass er oft als zögerlich erschien und immer wieder gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Wobei ihm das Spielen im Blut lag: Seine Nachfahrin Adèle d’Affry, ihres Zeichens Bildhauerin unter dem Pseudonym Marcello, schreibt in ihren Memoiren, ihr «Ahnherr trat in Sceaux bei der Herzogin du Maine in Anwesenheit von Madame de Deffand als Komödiant auf. Diesem Vergnügen musste er aber entsagen, sich zu seinem Vater begeben und unter seinem Befehl den Italienfeldzug mitmachen.»1 Vater d’Affry gestaltete sein Leben als Theaterstück. Aus unseren Recherchen ergibt sich die ganze Vielschichtigkeit eines Mannes, der mithilfe des französisch-schweizerischen Bündnisses vor allem das Überleben der Eidgenossenschaft zu bewahren suchte. Dennoch muss seine Persönlichkeit auf die Verfechter des Wahlspruchs «Ehre und Treue» – die eine einseitige und an Heiligenverehrung grenzende Auffassung vom Militärdienst in Frankreich haben – gelinde gesagt verwirrend wirken. In der Freiburger Historiografie hat sich im Übrigen das Bild einer Familie festgesetzt, die Frankreich bedingungslos ergeben ist.2 Zweihundert Jahre nach der Mediationsakte soll sich die vorliegende Studie mit der Persönlichkeit von Louis d’Affry befassen, dem Mann, der in der Dynastie den höchsten Rang erreicht hat. Bis zum Tod des Vaters im Jahr 1793 lebte Louis in dessen Schatten. Er setzte dessen Werk fort, und auf seinen Schultern lastete ein schweres Erbe. Beim Tod des Vaters ist Louis fünfzig Jahre alt und hat nur noch siebzehn Lebensjahre vor sich. Ohne die unter dem Ancien Régime gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse hätte Louis d’Affry niemals die Rolle übernehmen können, die ihm Napoleon Bonaparte 1803 zuwies. Mit Letzterem setzte er die pragmatische Politik fort, die sein Vater begonnen hatte. Einem König, der das stillschweigende Einigungsprinzip für die Schweizer Kantone personifizierte, stand ein langjähriger Landammann als privilegierter Mittler zwischen Kantonen und König gegenüber, und diese Rolle spielte Vater d’Affry hingebungsvoll. Napoleon als ausgewiesener Mediator der Eidgenossenschaft hatte einen Landammann zum Partner, der in Frankreich als Sprecher der Schweizer und in der Schweiz als Sprecher der Franzosen auftrat – ein makelloser Mittler ohne Fehl und Tadel, wie es d’Affry Sohn, der bevorzugte Gesprächspartner der Franzosen, war. Die Geschichte der d’Affrys, Vater wie Sohn, veranschaulicht die lange französische diplomatische Suche nach einem einzigen Gesprächspartner in einer Schweiz, deren Exekutivorgane traditionell weit verzweigt, aber dennoch einigermassen handlich sind. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts träumt von einem Präsidenten der Eidgenossenschaft mit eingeschränkten Vollmachten. Den Schweizern der damaligen Zeit graute es noch vor dieser Vorstellung.
2 Ansicht der Stadt Freiburg Ende des 18. Jahrhunderts nach Emmanuel Curty.
3 Das grosse Schloss der d’Affry in Givisiez ausserhalb von Freiburg ist um 1539 erbaut worden. Es ist heute eine Altersresidenz.
Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz sind durch eine grosse Besonderheit gekennzeichnet: Jeder verdankt dem andern derart viel, dass wir vielleicht die Erinnerung daran scheuen. Ist der gewichtige Beitrag des Auslands zum Bau unserer eidgenössischen Geschichte auch der rote Faden unserer Nationswerdung, so verschweigen wir ihn doch gerne. Dennoch lag die Neutralisierung eines natürlichen Raums zwischen Rhein und Rhône, Alpen und Jura schon seit dem 13./14. Jahrhundert im Interesse aller europäischen Grossmächte – insbesondere Frankreichs. Lange bevor sich Napoleon Bonaparte den Titel zulegte, übten die Könige Frankreichs die Rolle von Mediatoren in der Eidgenossenschaft aus. Doch an der Wende zum 19. Jahrhundert reiht sich in der Schweiz eine Gründungsetappe an die andere. Der Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 18013 ist ein aussergewöhnlicher Augenblick in der Existenz der Schweiz, der sich durchaus mit dem Westfälischen Frieden vergleichen lässt. Hatte der Vertrag von 1648 dank der guten Dienste Frankreichs die Eidgenossenschaft vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation faktisch getrennt, so musste sich Österreich mit dem Frieden von Lunéville endlich dazu bequemen, die Unabhängigkeit der Schweiz in aller Form anzuerkennen. Es ist offensichtlich, dass der «General Erster Konsul» damit in der Eidgenossenschaft das Werk zu Ende führte, das die französischen Könige schon mit dem Westfälischen Frieden in Angriff genommen hatten, der zwar nicht die Unabhängigkeit der Schweiz anerkannte, die Frankreich im Sinne hatte, aber doch eine fast völlige Freiheit und Herausnahme aus dem Reich bewirkte. Tatsächlich ging mit der Revolutionszeit und ihren Folgen das offizielle Ende des österreichischen Einflusses auf Schweizer Boden einher: Abschaffung der verbliebenen Hoheitsrechte des Reiches über die Klöster und Bischöfe, Eingliederung des Fricktals und der österreichischen Enklaven des Fürstentums Tarasp im Unterengadin und der Baronie von Rhäzüns in die Schweiz. Die schon 1648 faktisch erreichte Lostrennung war endlich auch de jure besiegelt.
4 Guillaume d’Affry (1425–1493).
WURZELN UND FAMILIÄRES UMFELD
Die Familie d’Affry stammt aus Avry-sur-Matran im Kanton Freiburg und nicht etwa, wie der Dictionnaire historique de la Suisse4 irrtümlich vermerkt, aus Avry-devant-Pont. Seitdem sich Guillaume d’Affry 1476 in der Verteidigung Murtens gegen die Heere Karls des Kühnen hervorgetan hatte, ist der Bekanntheitsgrad der Familie unablässig gestiegen. In seinem Adelsbuch des Schweizer Militärs schreibt Abbé Girard 1787 über die Familie d’Affry, «man zählt sie zu Recht zu den erlauchtesten der Schweiz»,5 «den ältesten Häusern Freiburgs», die über eine «lange militärische Erbfolge»6 verfüge, denn schon seit dem 16. Jahrhundert waren die Geschicke der d’Affrys mit dem Dienst in Frankreich verwoben. Louis Auguste Philippe d’Affry war ein Nachfahre von drei Freiburger Schultheissen, Louis und François d’Affry und Peterman de Praroman, und eines Schultheissen von Solothurn, Wilhelm von Steinbrugg, sowie zweier Gouverneure von Neuenburg. Beaujon, Genealoge der Orden des Königs, wird am 8. April 1766 über diese Familie sagen, ihr eigne «vor allem der in diesem Volk seltene und vielleicht einmalige Vorteil, seit 230 Jahren ununterbrochen für Frankreich die Waffen getragen und niemals einer anderen Macht gedient zu haben.»7 Louis Nicolas Hyacinthe Chérin, Genealoge der Orden des Königs von 1787 bis 1790, schreibt seinerseits, «das Haus d’Affry im Kanton Freiburg in der Schweiz ist seit 1181 bekannt und hat sich seit 244 Jahren durch steten Dienst um Frankreich verdient gemacht».8 Nach der zur besonderen Auszeichnung verliehenen Ehrenwürde als Staats- und Kriegsrat im Jahre 1756 bescheinigt der Staat Freiburg am 15. November 1760 «die Anciennität des Hauses» und erklärt, «die Familie zählt zu jenen, denen die Republik den Adelsstand einräumt».9
5 François Pierre d’Affry (1667–1734).
Schon ab Ende des 17. Jahrhunderts dienten die d’Affrys Frankreich in sehr hohem Rang. François-Pierre d’Affry, geboren am 6. Mai 1620 in Freiburg, tritt 1648 im Rang eines Leutnants der Kompanie von Praroman in die Schweizergarden ein und wird 1659 Hauptmann einer Kompanie im Dienste Frankreichs. 1666 erhält er eine Freikompanie, danach wird er von 1670 bis 1679 und von 1682 bis 1686 Gouverneur von Neuenburg. Der Vater von sieben Kindern stirbt am 14. Mai 1690.10 Sein Sohn François Pierre Joseph d’Affry (1667–1734)11 trat sechzehnjährig als Kadett dem Regiment der Schweizergarden bei. Er wird Major im Regiment von Surbeck, sodann Oberstleutnant im Regiment Braendlé, Oberst im Regiment Greder, schliesslich Generaladjudant des Herzogs von Burgund und befehligt dann endlich ein Regiment, das seinen Namen trägt. Nach der Aufteilung der Güter seines Vaters in Freiburg am 8. Juli 1699 wird er Eigentümer der in Granges und Freiburg (Place Notre-Dame) gelegenen Häuser und der Hälfte der Wälder und Zehnten von Givisiez und Granges.12 Am 31. Juli 1700 ehelicht er Marie Madeleine von Diesbach-Steinbrugg (1678–1755),13 Tochter von Jean Frédéric von Diesbach, Bürger von Freiburg, und Marie Elisabeth von Steinbrugg aus Solothurn.
6 Der Vater des Landammanns: Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793), Oberst der Schweizergarde in Paris und Gesandter von König Ludwig XV. in den Niederlanden.
1719 wird er zum Maréchal de Camp (Brigadegeneral) ernannt und dient unter Luxembourg und de Villars. Bei Beginn des polnischen Erbfolgekriegs wird er am 1. August 1734 Generalleutnant der Königlichen Armeen und nimmt an der Seite des Königs von Sardinien am Italienfeldzug gegen die Kaiserlichen teil. Am 19. September 1734 fällt François Pierre d’Affry «beim letzten Sturmangriff in der Schlacht von Guastalla, der weitgehend den Sieg in dieser Schlacht bewirkte», wie sein Sohn feststellt.14 Am 20. September wird er in der Kollegkirche St-Pierre von Guastalla beigesetzt.15
7 Marie Elisabeth d’Alt (1714–1777), Gattin von Louis Auguste.
LEHRJAHRE
EINE BEISPIELHAFTE MILITÄRISCHE LAUFBAHN
Man kann sich dem Leben des künftigen Ersten Landammanns nicht zuwenden, ohne zuvor die herausragende Persönlichkeit seines Vaters zu beleuchten. Manchmal wurden die beiden verwechselt, weil ihre Vornamen so ähnlich klingen. Einige Vornamen wiederholen sich in dieser Familie, so etwa Guillaume, Louis oder François. Man begegnet ihnen schon im 15. Jahrhundert, noch ehe sie in Frankreichs Dienst eintreten. Dennoch darf man annehmen, dass die Wahl des Vornamens Louis 1713 für den Vater und 1743 für den Sohn nicht nur in der Familientradition begründet war, sondern auch eine Hommage an die Könige von Frankreich sein sollte.
8/9 François Pierre von Diesbach-Torny und seine Ehefrau Madeleine d’Affry, Schwester von Louis d’Affry.
Der am 28. August 1713 unter dem Versailler Ludwig XIV. geborene Louis Auguste Augustin d’Affry,16 erster Graf d’Affry, ist der Sohn des Brigadegenerals in Frankreich, François Pierre d’Affry, mit Marie Madeleine Alexis von Diesbach-Steinbrugg. Er macht eine aussergewöhnliche militärische Karriere.17 Am 15. April 1725 tritt er zwölfjährig als Kadett ins Regiment der Schweizergarden ein und erlebt einen schnellen Aufstieg: 1729 wird er Fähnrich, im Februar 1733 Hauptmann der Obristenkompanie des Regiments d’Affry, am 21. Januar 1734 Hauptmann zu Fuss bei den Schweizergarden. Er nimmt an zahlreichen Feldzügen und Schlachten teil. 1733 ist er bei der Belagerung der Festung Kiel dabei. Während des polnischen Erbfolgekriegs befindet er sich in Italien beim Angriff auf Colorno, bei den Schlachten von Parma und Guastalla. Am 3. Oktober 1734 übernimmt er das durch den Tod seines Vaters frei gewordene Kommando über die Halbkompanie der Schweizergarden und die Kompanie des Regiments Wittmer. Am 21. Mai 1740 zum Ritter von Saint-Louis ernannt, nimmt er am österreichischen Erbfolgekrieg teil, kämpft am 27. Juni 1743 in Dettingen. Am 2. Mai 1744 wird er zum Brigadier ernannt, befehligt 1745 ein Bataillon der Schweizergarden, ist bei der Belagerung von Tournai und der Schlacht von Fontenoy dabei, wo er das erste Gardebataillon befehligt, und wird am 11. April 1746 zum Oberstleutnant befördert. Am 16. Juli 1745 wird der damalige Gardehauptmann und Brigadier für eine Pension vorgeschlagen: «Ein sehr verdienter und mutiger Offizier. Er befehligte das Regiment in der Schlacht von Fontenoy und zeichnete sich dabei besonders aus.»18 Schon verkehrt d’Affry mit Literaten und ist mit Voltaire gut bekannt, der ihm 1745 ein Exemplar seiner Bataille de Fontenoy schenkt.19 Anstelle von Jean Henry de Salis20 wird vom Fürsten des Dombes, Sohn des Herzogs von Maine, «als die Position des Oberstleutnants durch Rücktritt des Sieur de Bachmann wegen Dienstunfähigkeit frei geworden ist, dem König der Lagerhauptmann Sieur d’Affry als Ersatz vorgeschlagen, obwohl dieser in der Anciennität dem Sieur de Salis nachsteht».21 Er nimmt in der Eigenschaft als Brigadegeneral, die ihm am 1. Januar 1748 verliehen wurde, an der Belagerung von Maastricht teil. Nun erlangt er am 1. Mai 1758 den Grad eines Generalleutnants. 1759 ernennt ihn Ludwig XV. zum Botschafter bei den Generalstaaten der Vereinigten Provinzen; diese Funktion übt d’Affry bis 1762 aus. Anschliessend wird er im Rang eines Generalleutnants zur Hessen-Armee entsandt, wo er seinen Ruf uneingeschränkt wahrt.22 Er begnügt sich mit dem Höflichkeitstitel eines Grafen, der, wie bei Nichttitelträgern üblich, mit der Ernennung zum Botschafter einhergeht.23 Der Adelsstand war d’Affry durch Freiburg am 15. November 1760 zuerkannt worden.24 A. Daguet zufolge «hätte d’Affry mehr als Louis Pfyffer den Titel als König der Schweizer im Dienste Frankreichs verdient.»25 Darauf bedacht, die ohnehin schon das Gleichgewicht des Corps helvétique störende Macht Berns nicht noch weiter zu verstärken, wacht d’Affry über die Belange des Freiburger Gegengewichts. So übermittelt er beispielsweise 1767 nach Choiseul die Freiburger Befürchtungen wegen einer möglichen Einverleibung von Neuchâtel und Valangin, weil diese eine vollständige Einkreisung des Kantons Freiburg zur Folge hätte.26 Mit der Ernennung zum Administrator der Schweizer und Graubündner Truppen erlangt er 1771 die denkbar höchste Würde, die einem Schweizer zuteil werden kann. Am 22. Dezember 1771 vertraut ihm Ludwig XV. die Administration im Rang eines Generalobersten der Schweizer für die Dauer der Minderjährigkeit des Grafen von Artois an.27 In Ausübung dieser Eigenschaft als Generaladministrator der Schweizer und Graubündner dient er von 1775 bis 1789 dem Grafen von Artois als «Berater und Stellvertreter».28 Tatsächlich wollte sich der Bruder des Königs nicht mit einer schweren Aufgabe belasten und begnügte sich mit der Unterzeichnung der Vorlagen, inspizierte auch einmal im April 1773 das Schweizergarderegiment in seiner Kaserne in Courbevoie29 und nahm einmal jährlich dessen Parade in der Sablons-Ebene ab.30
10 Courgevaux, Landsitz der von Diesbach, 1796.
Louis Auguste Augustin wird am 22. März 1776 in die Akademie für Architektur aufgenommen. Den Höhepunkt seines Ruhms erreicht er im Jahrzehnt vor der Revolution, das sich für den angesehenen Schweizer Soldaten ungemein segensreich anlässt. May de Romainmôtier zufolge war er der einzige Schweizer, der je das «Blaue Band»31 des Ordens vom Heiligen Geist erhielt; dies geschah am 1. Januar 1784 in der königlichen Kapelle von Versailles.32
11 Brief von Louis d’Affry an seine Schwester Madeleine vom 3. Februar 1803 anlässlich der Consulta in Paris.
KINDHEIT IN FREIBURG, JUGEND IN PARIS
Louis Auguste Augustin d’Affry ehelicht mit Vereinbarung vom 2. Juli 1738 Marie Elisabeth Françoise, Baronin von Alt (1714–1777), Dame de Saint-Barthélémy und Prévondavaux, Tochter eines Regimentsobersten im Dienst des Königs von Sardinien, Joseph Prothais, Baron von Alt von Prévondavaux aus Freiburg, und Marie Françoise de Malliard. Damit wird d’Affry Herr von Prévondavaux, Brétigny und Saint-Barthélémy in der Vogtei Echallens, der Güter also, die seine Gemahlin als Mitgift einbrachte.33 Das Schloss von Prévondavaux wird am 21. Januar 1779 verkauft. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Marie Madeleine (1739–1822), die 1762 François Pierre, Fürst von Diesbach Torny, heiratet, der im vorliegenden Buch behandelte Louis sowie ein zweiter Sohn, Jean Pierre (1751–1782), der, was in der Familie selten ist, eine Französin ehelicht: Adélaïde de Garville.
Am 8. Februar 1743 erblickt Louis Auguste Philippe Frédéric François in Freiburg das Licht der Welt, «wird am selben Tag zu Hause getauft» von Kaplan Vullerette. Louis d’Affry wird später schreiben: «Ich wurde schwächlich geboren; mein erstes Lebensjahr war schwierig, und wegen ziemlich seltener Umstände konnte man mich erst 1744 in die Kirche Saint-Nicolas zur Taufe tragen»34 – genauer: am 6. April 1744. Taufpate war kein Geringerer als Louis, Fürst des Dombes und General der Schweizer, der vertreten wurde von Frédéric, Graf von Diesbach, Brigadegeneral und Oberst eines Regiments im Dienste des Königs, Komtur des Militärordens von St. Louis; als Patin fungierte die «Edeldame Victoire Lora Thérèse, Gräfin de Pharaone aus Messina, Fürstin von Diesbach».35
«Von mütterlicher Seite fliesst ihm die Erbmasse eines Staatsmannes, Diplomaten und Administrators zu. Die aus Cormagens in der unmittelbaren Umgebung Freiburgs stammende Familie von Alt, die dort noch Velliard hiess, verdeutschte ihren Namen zu Beginn des 15. Jahrhunderts, als sie in die Bürgerschaft der Stadt der Zähringer aufgenommen wurde. Die von Alt waren zunächst Tuchmacher, wurden dann Venner und Ratsherren. Der Ururgrossvater von Louis d’Affry, Porthais von Alt, war Kanzler der Republik und gehörte zu der Gesandtschaft, die 1663 mit Ludwig XIV. die Erneuerung des Ewigen Bundes unterzeichnete. Sein Urgrossvater Jean Jacques Joseph von Alt, Oberst eines Regiments im Dienste Savoyens, Ritter der Hl. Moritz und Lazarus, erhält Anfang des 18. Jahrhunderts den Titel eines Barons des Hl. Römischen Reiches. Sein Grossonkel ist François Joseph Nicolas von Alt, Schultheiss von Freiburg und Chronist; er ist der Verfasser der zehnbändigen Histoire des Helvétiens, connus aujourd’hui sous le nom de Suisses».36
Die Kindheit in Freiburg, die Jugend in Paris, diese beiden Bestandteile des seelischen und geistigen Erwachens, die Verwurzelung im Land seiner ersten zehn Lebensjahre und die Heranbildung in der Kulturmetropole des Ancien Régime werden ihn ein Leben lang prägen.37 In einer autobiografischen Aussage38 meint er schnörkellos:
«Ich wurde am 8. Februar 1743 in Freiburg als adliger Sohn von Louis Auguste d’Affry, Hauptmann bei den Schweizergarden des Königs von Frankreich, und Elisabeth von Alt aus Freiburg in der Schweiz geboren. Meine Familie reicht weit zurück und wurde noch vor dem Beitritt Freiburgs zur Eidgenossenschaft als adlig anerkannt. Meine Vorfahren waren fast immer mit der Familie Diesbach verbunden, die vor der Reformation in Bern wohnte, sowie mit der Familie Praroman in Freiburg [...]. Meine Kindheit war wie alle Kindheiten, eine Zeit des Dahinvegetierens und der Bedeutungslosigkeit. Als die Zeit der Bildung erreicht war, wurde ich zu Hause in die Hände eines Geistlichen gegeben, des Ortspfarrers. Dieser brave Mann stammte aus dem Dorf Corserey und hiess Abbé Prin. [...] Da er sich im Wesentlichen mit dem Wissen seines Berufsstandes befasst hatte, besass er nur wenige Kenntnisse anderer Wissensgebiete [...] Er lehrte mich lesen, schreiben und Religion; als ich diese drei Dinge beherrschte, wusste ich darin genauso Bescheid wie er.»
Louis verbrachte die Kindheit zusammen mit seiner älteren Schwester Madeleine, mit der ihn ein Leben lang tiefe Zuneigung und Einverständnis verband, wie nachstehende muntere Episode ihrer kindlichen Spiele auf dem Lande veranschaulicht:
«Ich fühlte mich besonders zu Pferden hingezogen und hatte mir ein bizarres Spiel mit ihnen angewöhnt, an dem auch meine Schwester mit gutem Erfolg teilnahm. Wir begaben uns gemeinsam auf die Wiesen, auf denen die Pferde des Dorfes weideten; jeder von uns beiden hielt etwas Brot in der Hand, und in der Tasche versteckten wir ein kleines Zaumzeug. Wir waren noch zu klein, um auf die Pferde zu springen, die sich vom Brot anlocken liessen, von dem wir zwei Stücke auf den Boden legten; sobald sie es aufnahmen, setzten wir uns ihnen rücklings auf den Hals, und wenn sie den Kopf hoben, sassen wir auf. Dann trabten wir, mit oder ohne Zaumzeug, auf ihnen kreuz und quer, solange sie Lust hatten; wollten sie nicht mehr oder waren wir müde, sprangen wir ab, fest entschlossen, das Spiel am nächsten Tag zu wiederholen. Die braven Tiere gewöhnten sich problemlos an den vorübergehenden Verlust ihrer Freiheit, und wenn sie uns kommen sahen, rannten sie schon herbei, weil sie sich an unser Brot gewöhnt hatten. Diese Fabel kann den Menschen eine Lehre sein, sie haben es im Allgemeinen nötig.»
Wen wundert es, dass Madeleine und Louis ihr Leben lang eine Vorliebe für die Freuden eines einfachen Landlebens im Schoss der Familie bewahrten? Während seiner militärischen Laufbahn in Frankreich wird Louis auf seinem Halbjahresurlaub bestehen, der es ihm erlaubt, zum Heuen und zur Weinlese in die Schweiz zu kommen, sogar im tragischen Sommer 1792, der die Vernichtung des Regiments der Schweizergarden mit sich bringt.
Sein in Versailles geborener Vater entscheidet, es sei an der Zeit, seinen Sohn aus dem Freiburger Landleben herauszunehmen. Die erste Phase seines Daseins beschreibt Louis so: «So lebte ich unter den Augen meiner Mutter, die mich zärtlich liebte, bis zu meinem zehnten Lebensjahr, als ich nach Paris abreisen musste, wohin mich mein Vater rief, damit ich dort meine Ausbildung beginne.» In Lons-Le-Saulnier trifft er seinen Vater, der ihm aus Paris entgegengekommen ist. Eine seltene Gelegenheit für die Familie, ein paar Tage zusammen zu erleben. In Dijon muss er sich von seiner Schwester trennen, die ins Lyzeum der Ursulinen eintritt, gleich danach von seiner Mutter, die nach Freiburg zurückkehrt. Erstmals sieht er Paris aus der Kutsche seines Vaters, in der er in die Stadt der Lichter einfährt, nicht ohne eine gewisse Beklemmung:
«Die Kutsche meines Vaters erschien uns herrlich, hatte sie doch einen goldenen Fond, wie damals üblich. Mein Erstaunen war gross, denn bis dahin hatte ich nur Pillers Freiburger Kutsche gekannt, die Jahr für Jahr Offiziere aus dem Halbjahresurlaub nach Paris zurück beförderte, und bislang hatte ich geglaubt, schönere könne es nicht geben [...]. Wir genierten uns etwas über unser Aussehen. Ich trug einen roten Plüschanzug. Auf meinem Kopf thronte eine grässliche und völlig unfrisierte Perücke, die man mir in Freiburg verpasst hatte, um meinen kahlen Schädel zu verdecken, den man mir nach einer Krätze rasiert hatte, an der ich sterben zu müssen meinte.»39
Der kleine Louis findet sich in einer komplett fremden Welt wieder. Bei der Ankunft gleich neben der Porte des Feuillants in der Rue St. Honoré, wo sein Vater damals wohnt, sieht er diesen im Gespräch mit einem sehr schönen Mann, den das Kind für den König von Frankreich hält, weil er ein blaues Ordensband trägt; es ist aber Fürst Ludwig von Württemberg, Generalleutnant im Dienste Ludwigs XV., «der mit meinem Vater sehr verbunden war, sehr gelehrt», wie Louis erkennt, aber «von philanthropischen Gedanken beherrscht». Die Naivität des Jungen veranlasst den Vater, ihm schon am Tag der Ankunft einen Streich zu spielen:
«Mein Vater, der sich an unserem Erstaunen und unserer Unwissenheit ergötzen wollte, nahm uns noch am selben Abend in seinem schönen Gefährt mit, um uns die grossartige Beleuchtung der Quais zu zeigen. Sie bestand aber aus nichts anderem als den Laternen, die damals Paris beleuchteten und nicht mehr hergaben als den Schein der armseligen Kerze, die in ihnen steckte; mit dem geringen Erstaunen, das das in uns hervorrief, war Vater ganz und gar nicht zufrieden. Er wollte es am nächsten Tag dadurch gutmachen, dass er uns ein Spektakel sehen liess, von dem wir keine Vorstellung haben konnten. Er führte uns in die Oper. Diesmal war seine Idee ein voller Erfolg. Ich verstand zwar rein gar nichts, war aber trotzdem entzückt. Abbé Prin, der an sich schon der Umgebung in unserer Loge ein Schauspiel war, meinte, die Ballette würden von Engeln getanzt, und sagte zu meinem Vater, was er sehe, vermittle ihm eine Vorstellung vom Paradies. Meinen Vater freute das überaus und er lachte sein Leben lang jedesmal, wenn die Rede darauf kam.»
Sehr erstaunt ist Louis darüber, dass man um drei Uhr isst. «Ich weiss noch, wie lächerlich ich es fand, dass man in Paris um drei Uhr dinierte, weil ich meinte, am selben Tag habe in Freiburg alle Welt um elf Uhr gespeist.» Aber «die Zeit der Vergnügungen und Abwechslungen dauerte nur ein paar Tage.» Die zwei folgenden Jahre verbringt Louis in Pension bei Herrn Renoir in Picpus. Marie, die Tochter des späteren Landammanns, hat uns eine Beschreibung des Verhaltens ihres Grossvaters in der Familie hinterlassen: «Er war ein geistvoller Zuchtmeister, verfügte über grosse Mittel und verdankte die bedeutende Stellung, die er erlangte, seiner Intelligenz und seinem Geschick. Nach den Mahlzeiten liess er seine Kinder und die Offiziere, die sich bei ihm zum Dienst befanden, seine schlechte Laune spüren.»40 Und über den Voltairianer fügt sie hinzu: «Die Angelegenheiten, mit denen er sich befasste, und die Gesellschaft der Philosophen hatten die religiösen Prinzipien seiner Kindheit geschmälert.»
Louis wird in das angesehene Jesuitenkolleg Louis-le-Grand eingeschult, das über 3000 Schüler hat, darunter Mitglieder des königlichen Geschlechts und Söhne sehr hoher Herren. Dort erhält er eine solide humanistische Bildung und lernt sittliche Werte achten, ebenso erlernt er die französische Redekunst und Lebensart, Höflichkeit und Raffinement, die im Übrigen seinem Charakter entgegenkommen; später heben zahlreiche Zeitgenossen sein Taktgefühl und seine «Zartheit», Diskretion und Aufmerksamkeit anderen gegenüber hervor. Während seiner Ausbildung bei den Jesuiten zusammen mit dem Prinzen de Conti setzt sein Vater seine brillante militärische Laufbahn fort, die auch seinem Sohn zum Vorteil gereichen wird. Andere Einflüsse bilden ein Gegengewicht zu denen der Jesuiten und sorgen dafür, dass sich bei ihm jener Geist der Offenheit und des Ausgleichs heranbildet, der ihm später erlaubt, schwierige Entscheidungen zu treffen. Als sein Vater 1755 zum ausserordentlichen Gesandten in Holland ernannt wird, wird Louis der Fürsorge von Madame Geoffrin41 anvertraut, die einen der grössten literarischen Salons von Paris unterhält; dort verkehrt er mit Gelehrten und Philosophen. So darf man sich den jungen Burschen vorstellen, wie er aufmerksam den Worten des 25 Jahre älteren Herrn d’Alembert lauscht. Später geht im Stadthaus der d’Affry in der Rue du Bac der gesamte Adel ein und aus, ein wahrer Reigen von Herzögen: Rohan, Cossé, Quélen, Damas, die Herren von d’Aumont, die Villequier sowie einige vielversprechende Generalpächter. Bald wird er den Umgang mit ebenso vielen Politikern und künftigen Ministern pflegen: Vergennes, Malesherbes, Turgot, Montmorin, Necker, Loménie de Brienne, mit Diplomaten, darunter einem Nuntius, mit dem Residenten von Genf in Paris, zahlreichen höheren Offizieren, unter anderem dem Grafen von Saint-Germain, mit Luckner, Narbonne, La Fayette, dem Marschall von Biron, den Louis Auguste d’Affry freitags anlässlich des militärischen Diners empfängt, des sogenannten «Wisc», an das sich Musik und Spiele anschliessen; Umgang auch mit Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern: Raynal, Mallet-Dupan, Delille, Barthélemy und Dr. Tronchin, die der Vater mittwochs empfängt. Das Konversationsvergnügen setzt sich bei Tischgesprächen fort, und allezeit gibt es Neues zu hören, das bei d’Affry nicht auf taube Ohren stösst.42 Auf diese Weise entsteht ein wertvolles, dichtes Netz, das ihm zu gegebener Zeit zugute kommen wird.
EINFÜHRUNG IN DIE DIPLOMATIE IM JAHRE 1759
Der Vater unseres Louis begnügt sich nicht damit, im Rahmen des Schweizergarderegiments, der Schweizer Elitetruppe im Dienste Frankreichs, Karriere zu machen. Seine diplomatischen Qualitäten tragen ihm 1755 die Ernennung zum ausserordentlichen Gesandten ein, sodann 1759 zum Botschafter bei den Generalstaaten der Niederlande in Den Haag43 durch Ludwig XV., womit d’Affry Gelegenheit erhält, den berühmten Casanova kennenzulernen und sich mit einem gleichrangigen Gesprächspartner in der Kunst der Manipulation zu messen.44 Casanova erwähnt ihn – grosse Ehre für d’Affry – mehrfach in seinen Memoiren. Der gerissene Casanova schafft es nicht, den pfiffigen d’Affry zu täuschen, der sogar dem Herzog von Choiseul schreibt und ihm mitteilt, Casanova sei ihm im Gespräch höchst indiskret, bei seinen Unternehmungen leichtsinnig und beim Verbergen der wahren Gründe seiner Reise höchst geschickt erschienen.45 Der königliche Botschafter nimmt das zum Anlass, seinen Sohn Louis als Kammerherrn, was etwa unseren Botschaftsattachés entspricht, in die Diplomatie einzuführen. Fred von Diesbach schreibt: «Derzeit ist die Diplomatie sein Metier, das er unter der sachkundigen Leitung seines Vaters erlernt und in dem er später brillieren wird.» Letzterer macht ihm alles vor: Demarchen beim ausländischen Hof, hartnäckiger Kampf gegen die gegnerische Diplomatie, Intrigen mit undurchsichtigen Personen, von denen man nie recht weiss, ob sie Geheimagenten Ludwigs XV. sind. Unter ihnen finden wir den Alchimisten Cagliostro sowie «einen Unbekannten, der sich Graf von Saint-Germain nennt»,46 ein berühmter Abenteurer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Graf d’Affry vertritt die Interessen Frankreichs in Den Haag sehr geschickt und gekonnt. Nicht nur erledigt er erfolgreich seinen Auftrag, die Vereinigten Provinzen neutral bleiben zu lassen, obwohl man ein Bündnis der Vereinigten Provinzen mit dem König von Preussen erwartet hatte, sondern bringt sie sogar dazu, den Durchmarsch der französischen Truppen, die Hannover einnehmen sollen, durch Namur und Maastricht zu gestatten. Trotz heftigen Protesten Londons und Berlins drücken die Niederlande die Augen zu. Der Siebenjährige Krieg hat begonnen.
Louis Auguste Augustin d’Affry wird mit Ehren überhäuft. So erfahren wir am 26. Juni 1757: «Seine Majestät, in Kenntnis des Eifers und der Klugheit, die der Graf d’Affry, sein ausserordentlicher Gesandter bei den Generalstaaten der Vereinigten Provinzen, unter Beweis gestellt hat, seitdem er sich in Holland befindet, und da seine Dienste eines Zeichens der Zufriedenheit bedürftig erscheinen, hat Seine Majestät ihm die Summe von 4000 Pfund als Jahres- und Witwerpension zuerkannt und geschenkt, die ihm zeit seines Lebens gezahlt werden sollen.»47 Als Auszeichnung für seine Verdienste in Holland gelangt d’Affry 1771 in den Genuss einer weiteren Pension von 3625 Pfund, dazu kommt am 24. November 1771 eine zusätzliche Pension von 6041 Pfund, 13 Sols und 4 Deniers, zahlbar in Paris.48 Am 27. November desselben Jahres vermacht «Seine Majestät, in der Absicht, den Grafen d’Affry, Oberst des Schweizergarderegiments, in Anbetracht sowohl seines Eifers und seiner Dienste, als auch der Hingabe, die seine Vorfahren nacheinander der Krone unter Ausschluss jeglicher anderer Macht seit über zwei Jahrhunderten erwiesen haben, dem genannten Louis d’Affry persönlich und unumkehrbar eine Pension von 10 000 Pfund Silber Frankreichs, die Sie verlieh, unbeschadet der Fonds, die Sie in Solothurn den Schatzmeistern der Schweizer Vereinigungen übergab.»49 Am 15. Januar 1772 hatte ihm der König «die Detailaufgaben eines Generalobersten der Schweizer» anvertraut, «bis Monsieur le Comte d’Artois das Alter erlangt, sie selbst ausüben zu können»; gleichzeitig setzt Ludwig XV. für ihn «eine Sonderzuteilung» für die Dauer der Ausübung dieser Funktion aus. So kann d’Affry über «eine Jahressumme von 24 000 Pfund aus den Kriegsmitteln für den Unterhalt des Schweizergarderegiments» verfügen.50 Eine am 1. September 1779 zu seinen Gunsten ausgesetzte Pension von 16 000 Pfund verschönt seine alten Tage zusätzlich. Zudem gewährt ihm der König ab 1. Januar 1773 «einen jährlichen Betrag von 4 000 Pfund für die Wohnungnahme in Paris».51 Dieses Geld kommt ihm umso gelegener, als seine in der Schweiz verbliebene Frau Schulden über Schulden macht, worüber er sich 1768/69 mehrfach bei seiner Tochter, der Gräfin von Diesbach, beklagt.52 Vater d’Affry hatte eine fälschlicherweise «für sehr reich gehaltene von Alt» geheiratet, erzählt seine Enkelin Marie, die etwas später fortfährt: «Madame d’Affry widmete sich ganz und gar ihrer wohltätigen Neigung; sie machte Schulden, um schenken zu können; aber diese überzogene Grosszügigkeit wurde durch ihre Kinder und Enkelkinder belohnt, die allesamt wohlhabende Ehen eingingen.» Marie geht sogar so weit, aus ihrer Mutter eine Art Sankt Martin zu machen, denn nachdem sie alles verschenkt hatte, «nahm sie Bettvorhänge ab und brachte sie einem Armen, damit er sich daraus eine Kleidung schneidere.»53 Der Administrator der Schweizer Truppen muss sich auch mit dem Treiben seines jüngeren Bruders Jean Pierre54 auseinandersetzen, der, wie uns seine Nichte Marie berichtet, «Mademoiselle de Garville, Tochter eines französichen Financiers, ehelichte, die für sehr reich galt. Mein Onkel war sehr verschwenderisch veranlagt; binnen zweier Jahre zehrte er seine ganze Habe auf, und mein Vater und meine Tante sahen sich gezwungen, seine Schulden zu begleichen.»55 Seine Frau war nicht weniger ausgabefreudig, wie uns ihre Schwägerin belehrt: «Sie war von den Personen, die ihr zu schmeicheln verstanden, so hingerissen, dass sie in keiner Angelegenheit mehr klar sah. Sie starb in Armut.» Hier ist festzustellen, dass die Geschicke der Familie d’Affry lange vor Ausbruch der Französischen Revolution vielfachen Prüfungen ausgesetzt waren.
An Arbeit fehlt es Vater d’Affry jedenfalls nicht. Von Versailles aus erläutert er seiner Tochter am 31. Mai 1759, er habe «ein so ruheloses Dasein, dass mir auch ohne grosse Aufgaben kaum ein Moment für mich bleibt.»56 Ein Blick in die travail du Roi belehrt uns, welche Überzeugungskraft d’Affry besitzt, der die Macht gewonnen hat, Karrieren aufzubauen oder zu zerbrechen und Dynastien von Berufssoldaten in Gang zu setzen.57 In diesen Bänden wird die wahre Macht deutlich, die der Administrator der Schweizer und Graubündner Truppen ausübt, speziell d’Affry zwischen 1772 und 1792. Dank seinen zahlreichen Funktionen in unmittelbarer Umgebung von König und Hof ist d’Affry faktisch, wenn auch nicht de jure, Minister der Schweizerischen Militärangelegenheiten in Frankreich, informeller Botschafter der Schweizer Nation in Frankreich. Die Eidgenossenschaft selber unterhält keinerlei diplomatische Missionen im Ausland. D’Affry, offiziöser Vertreter der Kantone, begnügt sich entgegen einer häufig vertretenen Meinung nicht damit, den immerhin ausschlaggebenden Teil des Bündnisses zu verwalten. Keiner versteht es besser als er, die oft widersprüchlichen Interessen und Ansprüche der Kantone mit dem Willen des Königs und seiner Minister in Übereinstimmung zu bringen. Als Motor der Vereinheitlichung einer nur lose verbundenen Konföderation, die zu der Zeit nicht im Traum daran denkt und es auch technisch nicht vermocht hätte, einen Botschafter zu entsenden, der offiziell im Namen der gesamten Eidgenossenschaft handelte, übt d’Affry diskret, aber wirkungsvoll die Rolle des Vertreters der schweizerischen Interessen in Frankreich aus. Allein die Lektüre der diplomatischen Korrespondenz der die Eidgenossenschaft bildenden Orte mit Frankreich lässt uns die Bedeutung seines Handelns erkennen. D’Affrys Briefwechsel mit dem Tagsatzungskanton Zürich enthält nicht nur militärische Informationen. So ist es beispielsweise d’Affry, der in einem Schreiben vom 23. Dezember 1791 den neuen Botschafter Barthélemy vorstellt, der Ende Januar 1792 in Basel eintrifft.58 Er unterrichtet die Orte über alles, was in Frankreich passiert. Am 19. März 1792 informiert er die Schweizer von den neuesten Veränderungen im Kabinett. Da er professionelles diplomatisches Arbeiten gewohnt ist, eignet er sich in besonderer Weise dazu, seinen Landsleuten verständlich zu machen, was Frankreich ihnen zu sagen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als Dumouriez am 27. März 1792 seinen Botschafter in der Schweiz auffordert, den Freiburger Patriziern «die gerechte Erregung der Nation und des Königs wegen ihres übereilten Entwurfs einer Antwort auf die Schreiben der aufrührerischen Fürsten» zu verdeutlichen, antwortet Barthélemy, man solle die Sache lieber über den Grafen d’Affry erledigen, mit dem er vor Übernahme der Botschaft in der Schweiz bewusst zusammengetroffen sei.59 D’Affry ist ein alter Bekannter von Barthélemy, der 1779 beim Grafen d’Artois eine Pension von 2000 Pfund «für die Einkünfte und Bezüge seiner Aufgabe als Generaloberst der Schweizer und Graubündner» locker gemacht hat.60 D’Affry Sohn wird diese wertvolle Beziehung zu seiner Zeit zu nutzen wissen. Barthélemy, der von 1792 bis 1796 in der Schweiz weilte, weiss besser als sonst jemand, wie wenige Staatsmänner die Schweiz besitzt, die in der Lage wären, die Angelegenheiten des Landes insgesamt zu regeln. Als man anlässlich der Consulta einen sucht, muss Barthélemy dazu raten, auf die Karte des Sohnes des so bewährten Mannes zu setzen. Der mit Ehren und Auszeichnungen des Königs überhäufte Graf d’Affry wird gegen Ende des Ancien Régime Gegenstand schweizerischer Eifersüchteleien. Die Tagsatzung verdächtigt ihn des übermässigen Entgegenkommens gegenüber Frankreich, das den Privilegien der Fremdendienst-Regimenter abträglich sei. Sie fordert ihn auf, künftig energischer auf der Aufrechterhaltung dieser Vorteile zu bestehen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sich die Schweizer Positionen in Frankreich völlig unabhängig vom Willen ihres Vertreters unablässig weiter aushöhlen.
DER ERGEBENE SOHN
Ganz wie sein Vater und sein Grossvater beginnt der junge d’Affry 1753 offiziell eine militärische Laufbahn als Kadett der Schweizergarden.61 Gleichzeitig bildet er sich weiter. Als sein Vater von seinem Auftrag in den Niederlanden nach Frankreich zurückkehrt, hat Louis d’Affry sein Studium abgeschlossen. Ohne seinen Vater hätte der junge d’Affry seine glänzende Militärkarriere nicht gemacht. Am 18. Februar 1758 lässt ihn der Vater als ausserplanmässigen Fähnrich in die Oberstenkompanie der Schweizergarden eintreten.62 Eine Gefälligkeit, denn seit dem Vorjahr ist die Zahl der Fahnen auf zwei Bataillone reduziert worden. Es erstaunt nicht, dass der Einfluss von Vater d’Affry immer grösser wird. Manchmal tut er zugunsten seines Sohnes auch des Guten zu viel. In einem Aide-Mémoire, das er Ludwig XV. am 8. März 1761 vorlegt, äussert Graf d’Affry «den angelegentlichen Wunsch, Eure Majestät möge die Güte haben, den Befehl über Seine Oberstleutnant-Kompanie zwischen seinem Neffen, dem Chevalier de Maillardoz, der ihn bereits ausübt, und seinem ältesten Sohn, Sire Louis-François, aufzuteilen, der seit drei Jahren überplanmässiger Fähnrich im Regiment ist und zwei Feldzüge als Adjutant absolviert hat. Der junge Mann ist im 18. Lebensjahr; er ist vielversprechend und man versichert mir, dass er eine Truppe führen kann.»63 Der Rapport stützt sich weitgehend auf die Verdienste des Vaters; «Abwarten» lautet die Marginalie. Der Siebenjährige Krieg liefert Graf d’Affry eine letzte Gelegenheit zum Kampf und Louis eine der seltenen Chancen, sich selbst auszuzeichnen. Der Vater verlässt Holland am 4. Juni 1762 und dient im Bas-Rhin als Generalleutnant. Louis zieht 1759 ins Feld. 1760 befindet er sich in Aire-sur-la-Lys. Anschliessend dient er sich in der Rheinarmee hoch. Er wird Adjutant des Generalleutnants Graf von St. Germain64 und nimmt an den Feldzügen von 1759 bis 1762 in Deutschland im Regiment der Schweizergarden teil. Der Sohn d’Affry setzt seine Karriere im Schatten des Vaters fort, aber die lange Friedenszeit, die nach 1763 einkehrt, bietet ihm keine Möglichkeit, sich im Feld zu bewähren. Am 19. Februar 1766 wird er befehlsführender Hauptmann im Rang eines Obersten, am 6. November 1774 Hauptmann zu Fuss und erhält die Grenadierkompanie von Reynold und am 5. November 1775 nach dem Tod von Rodolphe-Ignace de Castella die der Füsiliere. Am 21. Januar 1772 wird der Befehlshabende Hauptmann der Oberstenkompanie mit dem Ritterkreuz des Königlichen Militärordens von St. Louis ausgezeichnet. Am 5. November 1775 schlägt Graf d’Affry seinen ältesten Sohn zum Hauptmann der Grenadiere vor, damit er die Kompanie von Rodolphe-Ignace de Castella wieder übernehmen kann: «Die Kompanien des Garderegiments sind keinem Kanton zugeordnet, und Seine Majestät besitzt alle Freiheit, sie bei Freiwerden dem Offizier der Schweiz oder eines mit der Schweiz verbündeten Landes zu übertragen, die Seine Majestät für richtig befindet.» Ludwig XVI. nimmt d’Affrys Vorschlag an, womit der Kanton Freiburg eine dritte Kompanie erhält.65 Dennoch muss Louis bis zum 1. März 1780 warten, bis er zum Brigadier ernannt wird, und bis zum 1. Januar 1784, bis ihm der Rang eines Brigadegenerals verliehen wird. Am 30. Mai 1779 erhält er eine Pension von 1000 Pfund aus der königlichen Schatztruhe, wie ihm sein Vater mitteilt, «aufgrund des Berichts, den ich dem König über Eure Verdienste und Eure Anciennität als Hauptmann der Schweizergarden [...] erstattete. Ihr werdet sicherlich das Vergnügen abschätzen können, das ich empfinde, Euch diese Gnade verkünden zu dürfen, und ich beglückwünsche mich dazu, Euch dazu mit verholfen haben zu können.»66 Über Ludwigs «Reifejahre» gibt es wenig Bedeutsames zu berichten. Nach einem Leben entsprechend seines Gesellschaftsstandes verkehrt er in langen Zeiten der Musse in der guten Gesellschaft. Er ist gerade zwanzig Jahre alt, als Frankreich am Ende des Siebenjährigen Krieges in eine lange Friedenszeit auf dem Kontinent eintritt, und als 1792 wieder Krieg ausbricht, beeilt sich Louis d’Affry, in die Schweiz heimzukehren. Beim Antritt seines Urlaubs in Freiburg nimmt er, wie es sich für einen Edelmann seines Zuschnitts gehört, seinen Sitz im Grossen Rat ein.
Es überrascht wenig, dass seine militärische Laufbahn ebenso wie seine Ehe vom väterlichen Willen diktiert erscheinen. Im 18. Jahrhundert spielte sich das Gefühlsleben nicht notwendig im familiären Rahmen ab. So ist es kaum erstaunlich, dass weder zwischen Louis’ Eltern noch zwischen ihm und seiner Gemahlin (die Vernunftheirat ist fraglos an der Tagesordnung) besonders tiefe Gefühlsbande zu bestehen scheinen; hingegen weist ein ganzer Briefwechsel auf ein ausgeprägtes geschwisterliches Einvernehmen zwischen Louis und seiner Schwester Madeleine, Gräfin von Diesbach, ebenso auf eine spätere Empfindung des Vaters für seine jüngste Tochter Minette hin. Wann immer ein Heim gegründet werden soll, wenden sich die d’Affrys ihrem Heimatland, der Schweiz, zu. Louis hat sich in ein acht Jahre jüngeres Mädchen verliebt, Louise Charlotte von Diesbach; warum kommt es nicht zu dieser passenden Verbindung? Hat Vater Louis d’Affry eine grosse französische Heirat im Sinn, und hat sich der Sohn widersetzt? Louise Charlotte ist nicht vemögend – vielleicht ist das eine Erklärung. Jedenfalls ehelicht Louis d’Affry am 4. Juni 177067 eine seiner Kusinen, Marie Anne Constantine von Diesbach-Steinbrugg.68 Ghislain von Diesbach meint dazu grimmig: «Die Rasse musste schon ungewöhnlich solide sein, um solcher Inzucht zu trotzen.»69 1771 wird der Sohn Charles geboren, dem zwei Mädchen folgen: Julie 1774 und Elisabeth 1775, und 1779 kommen der zweite Sohn Guillaume und schliesslich 1781 Marie, die Minette gerufen wird. Zu Beginn der Ehe wohnt die gesamte Familie – der Vater, die junge Familie und der zweite Sohn Jean Pierre – im Winter im väterlichen Stadthaus in der Rue du Bac. Sie führen ein spendierfreudiges und prunkvolles Leben. Im Sommer geniessen sie die Landluft von Saint-Barthélémy. Aber in seinen Gefühlen leidet Louis d’Affry weiterhin, denn wie es das Schicksal will, heiratet die Frau, die er liebt, den Bruder seiner Ehefrau, wodurch sie einander wieder näherkommen und ihre Empfindungen neu geweckt werden. Eine Situation wie in einer klassischen Tragödie: Alle Welt ist unglücklich, aber die Ehre ist gerettet. Das Ganze löst sich auf traurige, damals allerdings nicht ungewöhnliche Weise auf: 1773 stirbt Louise Charlotte70 bei der Geburt eines Sohnes.71
Gab es einen verdeckten oder offenen Vater-Sohn-Konflikt? Bildete die unerlaubte Liebe von Louis zu Louise Charlotte den Zankapfel in der Familie? Jedenfalls enthalten zwei Briefe von 1779 Andeutungen von «jugendlichen Verirrungen» und lassen seitens des Sohnes eine Mischung aus Liebe und Furcht erkennen. In einem Brief vom 20. November 1779 aus Saint-Barthélémy erweckt Louis den Anschein, als wolle er sich gegenüber seinem Vater rechtfertigen: «Ich hoffe, dass Euch mein Verhalten seit langem keinen Anlass zur Unzufriedenheit bietet und ich nicht zu befürchten brauche,72 dass Ihr Euch je über mich zu beklagen habt. Die ungestümen Zeiten meiner Jugend sind längst vorbei. Ihr wart so gütig, meine Fehler zu vergessen (die ich korrigiert zu haben glaube),73 und das Unrecht, das ich in meiner Jugend beging, ist wiedergutgemacht (dank Eurer Güte).»74 Der Vater spricht ihm am 9. Dezember 1779 umgehend seine Zuneigung aus: «Ihr wisst, dass ich Euch versprach, gewisse Verirrungen der Jugend voll und ganz zu vergessen, und ich habe Wort gehalten; im Übrigen ist Euer Verhalten in jeder Beziehung gut, seitdem die aufrichtigste Freundschaft und wahre Hochachtung meinerseits an die Stelle der kleinen Unzufriedenheiten getreten sind, die mir die Jugend, der Leichtsinn und Unvorsichtigkeiten verursacht haben mögen, und ich Euch seit mindestens zehn Jahren als meinen Freund ebenso wie als meinen Sohn empfinde.»75 Was für «Unvorsichtigkeiten», welche «Verirrungen»? Belassen wir den Protagonisten das Geheimnis ihrer Meinungsverschiedenheiten.
DIE ROLLE VON LOUIS D’AFFRY WÄHREND DER FREIBURGER UNRUHEN
Der im Wesentlichen oligarchische Stadtstaat Freiburg war eine auf einige wenige alteingesessene Familien beschränkte Gemeindedemokratie. Bis in die 1780er-Jahre hinein, schrieb Fred von Diesbach, «kümmerte sich Louis d’Affry kaum um die Angelegenheiten seiner Geburtsstadt. Seine Pariser Laufbahn nahm ihn vollkommen in Anspruch. Zumal der französische Hof unvergleichlich prächtiger war als die kleine Freiburger Republik [...]. Freilich gab er sein Land weder auf, noch vergass er es. Bislang hatte er das Nötigste unternommen, indem er im Alter von zwanzig Jahren, wie vordem schon sein Vater und Grossvater, sein Bürgerrecht erneuerte und damit zum Mitglied im Rat der Zweihundert ernannt wurde, in dem sein Vater gedanklich in den Reihen der ‹Bürger und souveränen Herren des Banners von Neuveville› sass. Die d’Affrys hatten auch den Besitz des Gebäudes am Place Notre-Dame erneuert, Louis Auguste Augustin d’Affry wurde während seiner Zeit in Holland zum Mitglied des Kriegsrats der Republik ernannt, und 1765 wurde sein Sohn Mitglied des Rats der Sechzig, dem er bis zur Revolution 1798 angehörte. Darauf beschränkten sich die offiziellen Funktionen beider.»76
12 Das Schloss Saint-Barthélémy unweit von Echallens auf einer Ansicht von 1796. Der Stammsitz der Familie der Ehefrau von Louis August Augustin d’Affry, Marie Elisabeth d’Alt, wird Landsitz der Familie d’Affry.
13 Das kleine Schloss der d’Affry in Givisiez, Ansicht aus dem frühen 19. Jahrhundert.
Die Schweizer Kompanien in Frankreich konnten zur Not als Abschreckung auch innenpolitisch wirksam werden. So bat beispielsweise Freiburg am 8. April 1782 den französischen Botschafter, wegen der Unruhen in der Stadt bei Hofe einen Verlängerungsurlaub für die Offiziere zu erwirken, die sich vor Ort befanden. Die Verfügungsgewalt über diese Truppen lag bei Graf d’Affry, der sich bereithielt, die Männer nach Freiburg zu entsenden, die der Stadtregierung nützlich sein konnten. Fürsprech Blanc sagte auf der Consulta: «Einzig die Macht Frankreichs verhinderte Aufstände oder erstickte alle Forderungen, vor allem jene, die 1781 und 1782 gewaltsam ausbrachen, und es wäre äusserst falsch, anzunehmen, die Völker des Kantons hätten sich dem freiwillig ergeben.»77 Die d’Affrys wollten unter keinen Umständen, dass sich die in Freiburg herrschende politische Struktur änderte, wenngleich sie eine Aufwertung der Position des Adels wünschten. Diese herkömmliche Machtverteilung stand allerdings rechtlich auf schwachen Füssen, wie Fürsprech Blanc zwanzig Jahre später betonte: «Die gänzliche Usurpation der Rechte aller durch die Einzelpersonen einiger Familien wurde 1627 entworfen und 1681 endgültig gekrönt. Man glaubte, ein halbes Jahrhundert zuwarten zu müssen, ehe man dieses ungewöhnliche Dekret veröffentlichte, das von Anfang an als Geheimbourgeoisie qualifiziert wurde [ ]. Ab dem Jahre 1681 war das Interesse der Regierenden und der Regierten nicht mehr dasselbe.» Erstere «kümmerten sich nur um die Ausweitung ihrer Privilegien; alles, was der Kanton nach innen und aussen, insbesondere Frankreich, leisten und beschaffen konnte, betrachteten sie als ihr exklusives Eigentum. Gesetzgebung, Handel, Erziehung, Landwirtschaft – alles wurde verächtlich beiseite geschoben; es galt einzig, Positionen und Patriziat, von denen sie lebten, zu wahren und ihre Untertanen daran zu hindern, sich die Mittel zu verschaffen, mit denen sie das erniedrigende Joch hätten abschütteln können; all das stand im Widerspruch zu den Prinzipien, die sich aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickeln sollten.»78
Jahrelang wachte Versailles aufmerksam über alle Vorgänge in Freiburg, wie uns Hunderte Seiten von Agentenberichten lehren.79 Vater d’Affry dürfte die wahre Lage im Kanton Freiburg gekannt haben und sich der Anfälligkeit bewusst gewesen sein, die diese Berichte hervorheben, die aber von Amtes wegen ignoriert wurden. Er wusste besser als sonst wer, dass gewisse Reformen unerlässlich waren, wenn man das an den Ufern der Saane geltende Regime erhalten wollte. Sein Sohn würde sich diese Lektion zu Herzen nehmen und in seinem Kanton die Mindestneuerungen durchführen, die es brauchte, um das Regime am Ruder zu halten. Eine erste Gelegenheit dazu bot sich schnell, ganz als handle es sich um einen Probegalopp, mit dem Louis erstmals alle Vorteile aus den Aktivitäten des Vaters zog.
Als die Affäre Chenaux ausbrach (benannt nach dem Greyerzer Aufrührer, der an der Spitze eines Bauernaufstandes beinahe die Stadt Freiburg eingenommen hätte), befand sich Louis d’Affry in Paris. Doch gleich nach der Heimkehr im Mai 1781 «spielt er eine Schlüsselrolle in den anschliessenden Unruhen in der Stadt Freiburg, bei denen sich Adel, Patrizier und gemeine Bürger gegenüberstanden».80 Am 17. Mai 1781 warnte er den Schultheiss und Rat Freiburgs, Fürsprech Castella, einer der Anführer der Verschwörung habe soeben die Franche-Comté durchquert. Sodann stellte er gemeinsam mit anderen jungen Adligen und Patriziern seinen Degen in den Dienst der Republik. Diese als «Messieurs d’Etat» bekannte improvisierte Garde verteidigte, «um jeder Überraschung vorzubeugen»,81 am 12. November 1781 das Rathaus. Dann wechselt d’Affry das Fach. Im Anschluss an die Chenaux-Revolte übernahm er 1781/82 den Vorsitz in den Versammlungen des Adelskorps und intervenierte bei den Mediationskantonen Bern, Luzern und Solothurn. Fred von Diesbach schrieb: «Das Adelskorps, wie man es damals nannte, beriet über die Berufung ihrer Sprecher. Auf diese Weise wurde Louis d’Affry ihr Hauptvertreter kraft seiner bekannten Qualitäten: Erfahrung (er ist schon 38 Jahre alt), Sinn fürs Geschäft, Takt, Mässigung; obwohl nicht in Freiburg anwesend, ging es ihm in dieser Angelegenheit weniger um den Eigennutz als den Adligen, die für gewöhnlich dort wohnten.» Der ihm eingeräumte Rang und die bei diesen heiklen Aufträgen unter Beweis gestellten Fähigkeiten brachten ihm allerdings in einer von Kleinlichkeit geprägten Kaste, aber auch in der Familie allerlei Eifersüchte ein. Sein Neffe Baron Marie François von Alt, Sohn des Schultheissen von Alt, stellt Louis d’Affry in seinen unveröffentlichten Erinnerungen vom Herbst 1792 als «einen ehrlichen Mann, hochmuterfüllt und für eine ruhmreiche Rolle wie geschaffen» dar, der «mit seiner ganzen Süffisanz» an die Spitze des Adels trat.82 Er fügt hinzu: «Sie betrachteten ihn als ihren Retter und waren ihm und seinen Fehlern zugetan, wie Ertrinkende sich an jeden Strohhalm klammern.»83 Fred von Diesbach meinte dazu: «Halten wir von diesem von offenkundiger Böswilligkeit diktierten Urteil lediglich die herausragende Rolle fest, die d’Affry in den Unterhandlungen spielte. Er wusste sich durchzusetzen, und gewillt, sich nützlich zu zeigen, ging er augenblicklich ans Werk.»84 D’Affry nahm an der Versammlung der Adligen Freiburgs teil.85 Angesichts der Böswilligkeit von Schultheiss Werro «schickten die Adligen am 7. Dezember 1781 ihre Vertreter, je zwei pro Familie, zum Grafen von Diesbach-Steinbrugg, d’Affrys Schwiegervater». Die Versammlung, in der 33 Personen tagten, darunter Louis d’Affry und sein Schwager François Pierre von Diesbach, der in die Unterdrückung der Unruhen verwickelt war, zog Bilanz über den Adelsstand und verabschiedete einen Antrag, in dem sie «Gleichheit der Aufteilung der Mandate im Einklang mit der Gerechtigkeit und dem Wohl der Republik forderte».86 Adel und Patrizier beharrten auf ihrer Position. «In dieser eigenartigen Phase der Geschichte Freiburgs» spielte d’Affry «eine beträchtliche Rolle».87 Ihm werden die heikelsten Aufgaben übertragen. So «beschlossen die neunundzwanzig Vertreter der Versammlung der Adligen, als ihnen die Schmähreden, die sich ihre Gegner im Rat der Zweihundert gegen sie erlaubten, zu viel wurden, dem Schultheissen mitzuteilen, bei der nächsten Beleidigung sollte man die Schandmäuler mitten in der Sitzung am Kragen packen, und Louis d’Affry wurde gebeten, dieses sonderbare Ansinnen im Verein mit dem vom sächsischen Hof heimgekehrten Kammerherrn Philippe Griset de Forell auszuführen.»88 D’Affry riet seinen Amtskollegen zu mehr Flexibilität und Diplomatie.
Die Verhandlungen89 schlossen am 17. Juli 1782 mit der Unterzeichnung eines «Vertrags» zwischen Adel und Bürgertum in Murten. Der Adel verlor alle ausländischen Titel und erhielt Zugang zu sämtlichen Mandaten. Das Bürgertum sollte fortan diese Titel tragen, als wäre es geadelt worden. «Die Herren haben sich vergöttlicht!», meinte dazu Friedrich II., König von Preussen und Fürst von Neuchâtel. Die «Verordnung bezüglich der Einführung der Gleichstellung der Patrizierfamilien und ihre Titelführung»90 ist ein Musterbeispiel für einen Kompromiss. Ganz im Sinne eines d’Affry. Die Vertragsunterzeichner hatten begriffen, dass «die Feststellung der vollkommenen Gleichheit aller Bürger unserer Hauptstadt, die zur Regierung fähig sind», das einzige Mittel war, «gegenseitiges Vertrauen unter den Bürgern» zu wecken, heisst es in der Präambel. Dennoch: Die Mehrzahl der Forderungen seitens der Landgegend und des ländlichen Bürgertums war abgelehnt worden. 1782 schaffte das der Adel, indem er sich auf das Bürgertum stützte, «dem er sich durch seine Grosszügigkeit und seine freundlichen Manieren sympathisch zu machen verstanden hatte. Erstaunlicherweise behielt der Adel auch dann noch seine Beliebtheit, als er seine Verbündeten und Hilfstruppen im berühmten Vertrag von Murten geopfert hatte.»91 Marius Michaud stellte fest: «Obwohl ihn damals die jedem Entgegenkommen feindseligen Patrizier verfluchten, galt Louis d’Affry in den Augen der Massen als Liberaler.»92 Für den künftigen Staatsmann war es der erste Versuch des «Unternehmens Charme». Auf gleiche Weise verfuhr er in grösserem Umfang 1802/03 anlässlich der Consulta, wo es ihm gelang, einen Grossteil der Vollmachten der Patrizier wiedereinzurichten und zugleich das brave Volk einzulullen. «Wie dem auch sei, Louis d’Affry zog aus dieser politischen Erfahrung gewisse Lehren, die sich für ihn auszahlten. In dieser recht müssigen Debatte, die sich im Grunde um eine Frage des Vorrangs drehte, gewann er Einsichten, die ihm sehr nützlich werden sollten. Er kehrte zu seinem Metier, der militärischen Laufbahn, zurück. Im Herbst 1782 geht er wieder nach Paris.»93 Anlässlich dieser Abmachungen wurde eine Liste der Mitglieder der fünfzehn als adlig anerkannten Familien der Republik verfasst. Auf ihr befanden sich fünf d’Affrys: Louis Auguste Augustin, Louis Auguste und sein Bruder Jean Pierre Nicolas, der wenig später verstarb, sowie die Söhne des künftigen Landammanns, Charles Philippe und Guillaume.94
DER LIEBE PRÜFUNG
Im Herbst 1782 kehrt Louis nach Paris zurück. «Der Vorhang geht auf für eine andere Kulisse, die der Erfahrung der Liebe. Die Präromantik liegt in der Luft. Ein seltsames Gemisch aus Sentimentalität und Vernunft scheint an die Stelle der leichten Sitten der vergangenen Jahrzehnte zu treten. Auch Louis d’Affry entgeht nicht der lieblichen und grausamen Prüfung einer romantischen Liebe.»95 Ghislain von Diesbach erinnert sich, er sei «den Reizen von Madame de La Briche erlegen, die als junges Mädchen im Grafen d’Affry und Botschafter in Holland ein lebhaftes Gefühl erweckt hatte, aber freilich nun zu alt war, um noch Gefallen zu finden. Louis d’Affry hatte mehr Glück als sein Vater, und seine von der Gesellschaft akzeptierte Liaison mit Madame de La Briche machte ihn zu einem Romanhelden ganz nach dem Geschmack der Zeit.»96 Bei aller Diskretion, die die Familienangelegenheiten umgibt, ahnt man eine Rivalität zwischen Vater und Sohn. Überlassen wir das Wort seiner Nachfahrin, die das Thema der d’Affry’schen Liebesabenteuer mit Feingefühl und Vorsicht behandelt. «Bei Beginn seiner Romanze mit Madame de La Briche ist Louis 37 Jahre alt. Sie zählt 27 Lenze und ist mit einem viel älteren Mann verheiratet, mit dem sie eine Vernunftehe schloss, nachdem auch sie eine unglückliche Liebe hinter sich hatte. Ihr Mann kann ihr nicht die Zärtlichkeit geben, die sie braucht, aber das Paar, das ein glänzendes Gesellschaftsleben führt, gehört zum Freundeskreis der d’Affrys. Adélaïde de La Briche betört nicht so sehr durch ihre Schönheit als mit der Fülle ihrer Qualitäten. ‹Sie fällt nicht durch direkten Glanz auf, aber sie bleibt nicht lange unbemerkt. Wem sie auffällt, der fühlt sich zu ihr hingezogen, verfällt alsbald ihrem Charme und beginnt sie zu lieben.› So schildert ihre Schwägerin Madame d’Houdetout die Frau, die Louis’ Herz im Sturm erobert. Natürlich ist er nicht der Einzige, der ihrem Charme erliegt; zudem beherrscht sie, wie später Juliette Récamier, meisterhaft die Kunst, Sehnsucht zu wecken, indem sie sich verweigert, und macht jenen, die sie lieben, deutlich, dass sie ihre Gegenwart – die sie zuvor genossen, ja gesucht hat – nur erlaube, wenn sie niemals die von ihr gesetzten Grenzen überschritten!
14/15 Eine akzeptierte Liaison: Louis d’Affry nach einer Zeichnung von Fouquet, gestochen 1792, zusammen mit seiner Geliebten Adélaïde de la Briche (1755–1844).
Madame de La Briche (1755–1844), geborene Adélaïde Prévost, hinterliess umfangreiche Erinnerungen und eine ebenso grosse Korrespondenz, die Graf Pierre de Zurich in der 1934 in Paris veröffentlichten Biografie verwertet hat.97 Louis d’Affry nimmt darin breiten Raum ein.
Tatsächlich schlittert er in diese Liebesgeschichte, ohne es zu merken. Er begegnet der jungen Frau häufig in den Salons, beobachtet sie und stellt fest, sie sehe traurig aus, sorgt sich darum und wagt es eines Abends, sie zu fragen, ob sie etwas bedrücke. Sie verneint, er dringt nicht weiter in sie, aber sein aufmerksames Mitgefühl hat sie angerührt. Durch diesen Vorfall gehen ihm die Augen auf: ‹Schon liebte ich sie, aber ich war mein einziger Vertrauter›, schreibt er in sein Tagebuch, das er ihr eines Tages schenkt und das Pierre de Zurich in den Archiven der Familie Barante fand. Von nun an sucht er möglichst oft ihre Gegenwart, ohne ihr freilich die Art seiner Gefühle zu gestehen.
Drei Jahre sind für Louis d’Affry von der Gegenwart der Frau erfüllt, die fortan seinen heimlichen Herzensgarten besetzt. Doch im Sommer 1785 wird das labile Gleichgewicht, das er in sich errichtet hat, auf eine harte Probe gestellt. Während einer Reise mit seiner jungen Frau in die Schweiz erkrankt Herr de la Briche schwer an Pocken und stirbt in einem Zürcher Hotel. Der schnell unterrichtete Louis d’Affry eilt herbei, um seiner unglücklichen Freundin beizustehen. Er sorgt für sie, tröstet sie und trifft die nötigen Vorkehrungen, damit sie den Ort des Unheils verlassen kann. Adélaïde beschreibt in ihren Memoiren einen Spaziergang bei Sonnenuntergang zu einer Felswand, von der wilde Wasserkaskaden stürzen. Schweigend und gedankenversunken betrachten sie das Naturschauspiel – welch romantische Szene, beruhigend für sie, aufwühlend für ihn! Zunächst bringt er sie ins Landhaus seiner Schwester Madeleine von Diesbach in Courgevaux; um den Anschein zu wahren, begibt er selbst sich zu seiner Familie in Saint-Barthélémy, wo er sie etwas später für etwa zehn Tage willkommen heisst. Sie geniesst die familiäre Atmosphäre, das einfache, stille Leben, ‹die Freundschaft des Grafen Louis [ ], der innerlich froh ist und den seine Verwandten, seine Bauern und jeder anbetet, der sich ihm näherte›. Die wachsende Intensität von Louis’ Gefühlen für sie scheint sie noch nicht wahrzunehmen.
Wieder in Paris, empfängt sie anfänglich nur ihre engsten Freunde, darunter den bis über beide Ohren verliebten Louis d’Affry, der hofft, nunmehr werde sie seine Liebe freier erwidern können. Doch er wird grausam enttäuscht, denn der Graf de Crillon, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte, bittet sie um ein Wiedersehen und weckt in ihr erneut Gefühle; in ihrer Not bittet sie d’Affry um Rat. Sosehr er sich bemüht, seinen Kummer zu verhehlen – es gelingt ihm nicht, und schliesslich gehen Adélaïde die Augen auf, und sie provoziert eine für ihn völlig überraschende Aussprache, die zwar nichts ins Lot bringt, aber wenigstens befreiende Wirkung hat. Sie erkennt klar, dass er sie liebt, und welche Grenzen sie seiner Leidenschaft auch unentwegt setzen mag (‹Unter einem kühlen und ruhigen Äussern verbirgt sich in mir ein glühendes Herz und ein sehr lebhafter Kopf›, gesteht er ihr), er zieht es vor, sie zu sehen und zu leiden, um wenigstens in ihrer Gegenwart zu sein. Seine mehrfachen Zeichen uneigennütziger Hingabe rühren sie zutiefst. Zu guter Letzt bremst sie den allzu forschen Grafen de Crillon, und ihre Tür steht jederzeit offen für d’Affry, den Vertrauten, den Ratgeber, den engen Freund, für den sie schliesslich selbst mehr als Freundschaft empfindet. Sie lässt es ihn spüren, und er ist glücklich. Die Jahre 1787/88 bilden den Höhepunkt ihrer Liebesfreundschaft, sodass Louis ihr sogar schreiben kann: ‹Endlich liebt Ihr mich so, wie ich es brauche. [...] Seien wir das ungewöhnliche, aber schlagende Beispiel, dass die Liebe in zwei ehrlichen und empfindsamen Herzen die Tugend nicht zerstört.› Dieses Glück währt indes nicht lange, denn schon Anfang 1790 erobert ein jüngerer und skrupelloserer Mann das Herz von Madame de La Briche, die nunmehr ihrerseits die Stacheln der Leidenschaft erlebt. Für Louis ist dies das Ende eines existenziellen Abschnitts seines Gefühlslebens, der seine Persönlichkeit mit Sicherheit unauslöschlich geprägt hat.»98 Nach der Zeit der Liebesblitze folgte nun der Moment, kriegerische Blitze zu schleudern. Die Revolution katapultierte d’Affry, den Administrator der Schweizer Truppen, ins Rampenlicht und setzte seinen Sohn dem Grauen der immer neuen politischen Turbulenzen aus, ausgerechnet ihn, der zu dieser Zeit nur von Ruhe und Zufriedenheit träumt.
DIE ZEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION99
DIE D’AFFRYS ERLEBEN DIE ANFÄNGE DER REVOLUTION IN VORDERSTER REIHE
Am Vorabend der Revolution bleibt Louis d’Affry keine Gelegenheit mehr, das süsse Pariser Leben zu geniessen. Am 1. April 1788 übernimmt er das Kommando einer Infanteriebrigade in der Franche-Comté im Rahmen der 10. Militärdivision unter dem Oberbefehl von Generalleutnant Graf de Chambert. Gerade will er seinen Posten in Besançon antreten, da beschliesst die Regierung nach dem vorrevolutionären Tag von Tuiles am 7. Juni 1788, ihn mit zwei zur Brigade unter seinem Kommando zusammengefassten Schweizer Regimentern (Sonnenberg und Steiner) zur 11. Division in die Dauphiné zu entsenden, mit dem Ziel, die örtlichen Aufstände einzudämmen und den revolutionären Geist im Keim zu ersticken. Schon im Juni 1788 hatte sich gezeigt, dass man der Truppen nicht mehr sicher sein konnte, sodass die Schweizer nach Grenoble zu Hilfe gerufen werden mussten.100 Auf den Marktplätzen werden die Schweizer weitgehend dazu eingesetzt, die völlig überforderten Polizeiwachen zu unterstützen. Nach dem 28. Juni 1788 zieht das Regiment Sonnenberg in Grenoble ein, wo am 2. Juli 1788 das Regiment Steiner zu ihm stösst.101 D’Affry nimmt seinen Sohn Charles als Adjutanten mit. «Im Fort Barreau errichtete er sein Hauptquartier und befriedete das Land mit mehreren geschickten Manövern. Seine Aufgabe war ungemein schwierig. Zusammenstösse sowohl mit der Menge als auch mit aufrührerischen französischen Einheiten waren an der Tagesordnung. Eine eiserne Hand im Samthandschuh war vonnöten. D’Affry war tolerant und höflich, wusste sich aber zu behaupten. Mal stellte er seine Stärke zur Schau, um sich ihrer nicht bedienen zu müssen, mal gab er nach, um in mehreren erfolgreichen Schritten wieder die Oberhand zu gewinnen.»102 Am 3. Oktober musste das Regiment Steiner den Abmarsch von 200 Mann des Burgunder Regiments decken, «die die Volksmasse nicht weglassen wollte.» Ein anderes Mal wird er von Luckner beauftragt, drei Meilen von Grenoble entfernt den Staatsanwalt von Nogaret zu verhaften, was die Schweizer «nicht ohne Mühe erledigten, da sie mehrfach von Horden von Bauern und Bäuerinnen angegriffen wurden, die sie mit Kolben- und Bajonettstössen zurücktrieben». Im November 1790 wurden Truppenteile zur Grenzkontrolle nach Savoyen entsandt, insbesondere nach Echelles, um den heimlichen Getreideexport zu unterbinden. Am 24. Dezember 1790 schreibt der Syndikus und Generalprokureur an den Verwalter des Distrikts Grenoble, Margot, und bittet ihn, nach Entre-Deux-Guiers zu kommen, wo auf Befehl des Departementdirektoriums eine Schweizer Abteilung lagert, die den Getreideschmuggel mit Savoyen verhindern soll. Er teilt ihm mit, die Bevölkerung und die Behörden der Gemeinde versuchten, «den Schweizern dieser Garnison das Leben schwer zu machen, indem sie ihnen die nötigen Lieferungen verweigern [ ], anstatt die braven Soldaten, die man ihnen geschickt hat, dankbar aufzunehmen». Da «wir wissen, wie wichtig es ist, diese Abteilung an der Grenze zu halten», fordert er ihn auf, den Schweizern alles Nötige zukommen zu lassen.103 Unter diesen problematischen Umständen spielt d’Affry Sohn eine höchst diskrete Rolle. Ganz wie sein Vater schickt er sich an, dem revolutionären Sturm zu trotzen, ohne sich zu exponieren.
Man weiss nicht recht, wer zu Beginn der Revolution tatsächlich das Schweizergarderegiment befehligte, Vater d’Affry oder Major Karl Joseph von Bachmann (1734–1792), denn Baron de Besenval ist seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis kaum noch im Rennen. Ohnehin stirbt er im folgenden Jahr. Um die administrative Seite kümmert sich im Wesentlichen Oberstleutnant Jean-Roch de Maillardoz. Als sich im Spätsommer 1789 der Sturm einigermassen gelegt hat, bemüht sich d’Affry, sein Regiment nicht vorzeitig abziehen zu lassen. Wenn Major Churchill vorbringt, «der alte Graf d’Affry, der den neuen Ideen zuneigt und offenbar zu den Freimaurern gehört, [habe] praktisch das wirkliche Kommando über sein Regiment abgelegt»,104 übersieht er, dass d’Affry seine Funktionen delegiert, aber dennoch über die Elite der Schweizer Truppen in Frankreich die Oberhand behält, denn sie ist sein bester Trumpf. So weigert sich d’Affry, als das Schweizer Regiment von Unruhen erfasst wird, es trotz der «allgemeinen Verwirrung», wie Hauptmann de Loys schreibt, aus Paris abzuziehen.105 D’Affry verfügte über ein engmaschiges Netz familiärer, persönlicher und obrigkeitlicher Beziehungen. Seine ganze Familie wird herangezogen. Sein Sohn Louis, der künftige Landammann, soll als Mittelsmann zwischen ihm und Lafayette gedient haben, der die Nationalgarde befehligt und mit dem er in Briefwechsel tritt, um Befehle «für das Regiment» zu erlangen, während Marquis de Maillardoz, ein Neffe d’Affrys, darauf beharrt, sie persönlich auszuführen.
Alles in allem spielt Louis eine zurückhaltende Rolle. Aus Grenoble zurückgekehrt, nimmt er seinen Dienst bei den Schweizergarden wieder auf, wo er die 2. Kompanie des 2. Bataillons kommandiert. Man glaubt, eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Als gewiefter Beobachter immer schwerer zu beherrschender Ereignisse entdramatisiert er, gibt sich aber keiner Täuschung hin. Am 4. November 1789 schreibt er aus Paris an seine Schwester, die Gräfin von Diesbach, nach Courgevaux: «Die Nationalversammlung hat dekretiert, der Besitz des Klerus gehöre der Nation. Das erweckt grosses Aufsehen. Die Nationalversammlung hat den Parlamenten des Königreichs jede weitere Funktion untersagt. Auch das erregt grosses Aufsehen. [...] Über vieles tröste ich mich mit den italienischen Possenreissern hinweg, die die Weltbesten sind, aber wegen Dir und der Meinigen bin ich in grosser Sorge. Radau ist mir verhasst, und ich befinde mich mitten drin», klagt er wenig später. «Ich rauche meine Pfeife und bleibe zu Hause, soviel ich kann. Es regnet in Strömen, und gleich reite ich los. Wir nähern uns der Entscheidung. Noch weiss ich nicht, welche Rolle ich in dem sich abzeichnenden Stück spielen werde.»106 Louis d’Affry scheint sich abwartend zu verhalten. Inzwischen legt er Distanz zwischen sich und Paris und kehrt erst Anfang Oktober 1790 aus dem Urlaub zurück. Am 4. Oktober lässt er seine Schwester wissen, er habe den Vater «im Grunde bei guter Gesundheit, aber doch sehr geschwächt» angetroffen. «Er braucht Ruhe, und ich hoffe, er kann sie sich verschaffen.» Doch noch ist das Schlimmste nicht vorüber. Oberst d’Affry kann fortan allmählich auch auf seinen Enkel Charles Philippe, 3. Graf d’Affry, zählen, der am 7. April 1772 in Freiburg als Freiburger Bürger geboren wurde und 1786 seine militärische Laufbahn als Kadett bei den Schweizergarden beginnt. Dort wird er am 7. April 1787 Fähnrich und danach Adjutant seines Vaters in der Dauphiné (1788/89), am 8. Juni 1789 2. Unterleutnant der Oberstenkompanie, am 22. Mai 1791 1. Unterleutnant der Generalkompanie. Anfang August 1792 wird er sich bei der Lenkung der in die Normandie entsandten Abteilung der Schweizergarden besonders hervortun.
DIE UMSTRITTENE ROLLE DER FAMILIE D’AFFRY WÄHREND DER REVOLUTION
Um den Mann, den ein Berner Offizier des Regiments Ernst 1791 «Papa d’Affry» nannte, ranken sich zahlreiche Legenden.107 Eine der hartnäckigsten, die den Beteiligten selbst während der Revolution ergötzte und die er mit Vergnügen kolportierte, ist die vom ruhmreichen, gichtgeplagten alten Trottel, der seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen konnte. Wenn der sieche d’Affry seine Krankheit dazu benutzte, um bei Besuchern Eindruck zu schinden, hatte er sich offenbar Voltaire zum Vorbild genommen. Bis zum letzten Atemzug besass d’Affry weitgehend seine geistige Klarheit, wie Augustin de Forestier, Schatzmeister und Quartiermeister der Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fidel Zurlauben bestätigte.108 Der kränkliche Greis verstand es hervorragend, sein Alter und seine Gichtanfälle so zu dosieren, dass er sich nicht kompromittierte oder – neben seinen persönlichen Belangen – seinen Auftrag gefährdete, nämlich die Schweizer Interessen in Frankreich zu verteidigen, kurzum: das französisch-schweizerische Bündnis, die territoriale Integrität und die Neutralität der Eidgenossenschaft inmitten des aufgewühlten Europa zu bewahren. Am 1. April 1791 wurde ihm die schwere Aufgabe übertragen, die Militärdivision von Paris und der Ilede-France zu befehligen. Wie auch immer, 1792 fiel das Alter des Generalleutnants im Verhältnis zur Unersetzlichkeit seiner Persönlichkeit kaum ins Gewicht, war er doch der einzige Schweizer, der die unterschiedlichen Tendenzen, die sowohl Frankreich wie seine Heimat spalteten, zu meistern verstand. In einem Schreiben des französischen Aussenministeriums vom 25. April 1792 (fünf Tage nach der Kriegserklärung an Österreich) wurde vorgeschlagen, «d’Affry zum Marschall Frankreichs zu ernennen und ihm die Administration der Schweizer Regimenter zu übertragen, die gegebenenfalls die Grenzen zu verteidigen haben.»109 So war dieser unersetzliche Freiburger von Versailles praktisch der einzige Schweizer, dem diese höchste Ehre für einen Soldaten zuteil wurde.110
D’AFFRYS ENTSENDUNG NACH HUNINGUE IM JANUAR 1791111
Damals wünschte sich Louis ein Kommando, das seinem Dienstgrad entsprach, wobei er zum Generalleutnant aufzusteigen hoffte, wie er am 12. Januar 1791 von Paris aus seine Schwester wissen liess. Er schrieb: «Die Ungewissheit des Schicksals von Herrn de B[esenval] bedeutet eine grosse Unsicherheit für das meinige. Ich werde mich je nach den Umständen verhalten.» Er reichte seinen Rücktritt aus der 17. Militärdivision ein. Am 9. Dezember 1790 wandte sich der des Stationsdienstes überdrüssige d’Affry an Kriegsminister Du Portail (Duportail) mit der Bitte um Ernennung in der Armee und er erhielt am 1. Januar 1791 die Beauftragung als Brigadegeneral in der XVIII. Militärdivision beim Oberbefehl über die im Departement Haut-Rhin stationierten Truppen. Damit befand er sich am Samstag, 22. Januar 1791, an der Spitze der Militärregierung von Haut-Rhin in Huningue. Er war dem Marquis de Bouillé unterstellt, dessen Hauptquartier sich in Metz befand und der die Rhein- und Mosel-Armeen befehligte. Du Portail empfahl ihm, «dem, was im Ausland geschieht, ebenso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie den Grenzvorkommnissen», denn man befürchtete Umtriebe des Grafen von Artois. Bouillé seinerseits arbeitete insgeheim einen Fluchtplan für die königliche Familie nach Osten aus. Ein d’Affry in Huningue bot praktisch die Gewähr, dass sich auf dieser Seite nichts Illegales tat, aber im Fall, dass der König Erfolg gehabt hätte, konnte man sich immer noch auf die Seite des Siegers stellen. Mit der Abriegelung der Grenze zu Basel wurde sichergestellt, dass die Schweiz nicht etwa einen nunmehr verfemten König aufzunehmen brauchte, dessen Anwesenheit das subtile, regimeunabhängige Bündnis der Schweiz mit Frankreich gefährden konnte. Auf gleiche Weise reagierte Basel, als es sich im September 1792 kategorisch weigerte, das im Dienst der Fürsten stehende Regiment Châteauvieux passieren zu lassen. Die Entsendung des Freiburgers auf die französische Grenzseite war für die Basler eine momentane Beruhigung. Am 14. Januar vertraute d’Affry seiner Schwester an: «Ich reise ins Oberelsass ab, dessen Kommando ich innehabe. Die Sache ist heikel.» Fred von Diesbach schrieb dazu: «Als sich Louis d’Affry in Huningue niederlässt und dort sein Hauptquartier aufschlägt, brodelt es in der Region. Ihm obliegt es, die Ordnung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Grenze zu überwachen. Unverzüglich trifft er seine ersten Massnahmen und schickt in die Grenzdörfer Detachemente, die am Flussufer entlang patrouillieren. Gleichzeitig organisiert er die Nachrichten- und Befehlsübermittlung. Es müssen Unterkünfte, Wachkorps, Küchen bis hin zu Feldlazaretten eingerichtet werden, denn wenn der Soldat beim Einwohner logiert, sind die Einheiten verstreut.»112 Von Amts wegen musste er, wie er Bouillé am 13. Januar 1791 brieflich mitteilte, «sich Übelwollenden widersetzen, deren Umtriebe im Departement Haut-Rhin der Aufrechterhaltung der Ruhe schaden könnten.»113 Augenblicklich stellte er fest, dass die Bewohner «sehr geteilter Meinung» seien und die Garnison «schwach», denn dem königlichen Regiment «mangelt es an Disziplin». Am 23. Januar 1791, einen Tag nach seiner Ankunft, bat er Bouillé um die Entsendung eines Schweizer Regiments. Nun waren damals die Schweizer im Elsass ganz und gar nicht willkommen. Am 13. Oktober erklärte der Strassburger Abgeordnete in der Nationalversammlung, Etienne François Joseph Schwendt, in einem Schreiben an den Kriegsminister, zwar wünsche er sehr wohl die Verstärkung der Garnisonen im Elsass, «um dort die öffentliche Ruhe, die Eintreibung der Steuern und die Einhaltung der Gesetze sicherzustellen», doch sei er der Meinung, «diese weise und vielleicht notwendige Massnahme würde für die Bewohner unheilvoll, wenn diese Garnisonen aus Schweizer Regimentern bestünden, die alle nötigen Handwerker bis hin zu den Marketendern mitbringen und [somit] den ortsansässigen Handwerkern keinerlei Ressourcen bieten.»114
Der Dienst war alles andere als ein Spaziergang. Auf einen Brief vom 28. Januar 1791, in dem sich das Direktorium des Departements Haut-Rhin besorgt zeigte wegen «der Ansammlung gefährlicher Leute in der umliegenden Gegend», antwortete d’Affry, «im Interesse des Landes und seiner Sicherheit» halte er es für «geboten, nicht von den Befehlen von Mr Bouillé abzugehen und ohne dringende Notwendigkeit keinerlei Waffen auszuliefern». Bei gleicher Gelegenheit betonte er, «dass der Patriotismus die Grundlage meines militärischen Vorgehens bildet und ich keine Gelegenheit ungenutzt lasse, dies augenfällig unter Beweis zu stellen».115 Der Basler Peter Ochs bemerkte am 2. Februar 1791 in einem Brief an seinen Freund Meister: «Die Franzosen trauen ihm nicht recht über den Weg. Ich halte ihn im Grunde für einen guten Aristokraten, habe aber keinen Zweifel, dass er stets als seiner Pflicht und seinem Eid treuer Beamter handeln wird.»116 Am 27. Februar 1791 verlangte Louis d’Affry von den Behörden des Departements Haut-Rhin, dass sie den am Rhein gelegenen Gemeinden befehlen, dafür zu sorgen, dass in der Nacht kein Kahn den Fluss überquert.117
LOUIS D’AFFRY VERSUCHT AB DEM FRÜHJAHR 1791, HAUT-RHIN ZU VERLASSEN
Konnte sich d’Affry in Ostfrankreich wirklich auf seinen Sohn verlassen?118 Der Junior fühlte sich in der Umgebung so unwohl, dass Graf Mirabeau schon am 5. Februar 1791 aus Basel schrieb: «Herr d’Affry, unser Nachbar, hat grosse Angst, vor 4 Tagen war er in Colmar, wo er so übel empfangen wurde, dass er unentwegt glaubte, das ganze Elsass sitze ihm im Nacken.»119 Welch ein Unterschied zu seinem Vater, der sich im Übrigen in einem Brief vom 4. Februar 1791 an seine Tochter wegen seines Sohnes beunruhigt zeigte: «Ich habe keine Ahnung, wie die allgemeine und meine Lage in zwei Monaten aussehen werden. Am besten, ich nehme jeden Tag, wie er kommt. Ich hatte Glück, dass sich alles zum Guten wendete, ohne die geringste Sorge. Die habe ich nur wegen der Lage meines Sohnes, die nicht gut ist, aber er hat sie sich gewünscht, er ist tapfer und hat mich bei meinem Weggang vor allem gebeten, wegen der Ereignisse absolut ruhig zu sein.»120 Der mutige, aber keineswegs verwegene Sohn d’Affry fühlte sich in seiner Funktion nicht wohl. Er versuchte, den Posten schnell loszuwerden, während ihm sein Vater, wie er ihn am 29. April hoffen liess, offiziell einen weniger exponierten Posten zu verschaffen suchte, beispielsweise im Departement Nord. Am 18. April vertraute Oberst d’Affry seiner Tochter an: «Mein Sohn ist nicht so stark, wie ich es mir gewünscht hätte, was mich sehr verärgert, aber es ist unmöglich.»121 Dennoch weist die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn auf eine tiefe gegenseitige Zuneigung oder auch eine gewisse Komplizenschaft hin. Der Vater zeigte sich aufmerksam, beruhigte ihn nach Kräften und sagte zu ihm ganz offen: «Ihr teilt das Vergnügen, das es mir bereitet, Euch bei mir zu haben in einer recht mühseligen Laufbahn, in der Ihr mich aber entlastet und in die mich starke Motive gezwungen haben.»122 Am 23. Mai 1791 erhielt er von Minister Du Portail eine negative Antwort: «Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass es mir derzeit sehr ungelegen käme, Ihren Herrn Sohn aus dem Departement Haut-Rhin abzuziehen. Seine Talente und seine Umsicht haben ihm die Hochachtung und das Vertrauen der Bürger eingebracht, und es erscheint mir richtig, ihn noch einige Zeit dort zu lassen.»123 Schon am folgenden Tag, am 24. Mai, stellte ihm Vater d’Affry eine Beförderungschance in Aussicht: «Es kann sein, dass Ihr bald Generalleutnant werdet. Falls dieses Glück eintritt, kommt es wesentlich darauf an, ununterbrochen einsatzbereit zu sein. Lasst mich möglichst schnell Eure Wünsche hinsichtlich einer dieser drei Möglichkeiten wissen: eine Division im Elsass, eine an Maas oder Mosel oder eine der meinigen benachbarte.»124 (Generalleutnant wurde er freilich nie, entgegen der Behauptung einiger Autoren.125) Einige Zeit noch musste er an seinem Posten ausharren, trotz seinen mehrfachen Versetzungsgesuchen. Diese Provinz, die den mit den Schweizern im Kontakt stehenden Kaiserlichen gegenüberliegt, musste unbedingt gehalten werden, zumal Graf d’Artois von Turin aus gemeinsam mit Antraigues unter Ausnutzung der Agitation seitens der «princes possessionnés» einen Generalaufstand im Elsass angezettelt hatte.126 François d’Uffleger hält fest, sein Verhalten in Huningue erscheine «verdächtig, während er sich in seine Heimat zurückzieht und von fast niemandem gesehen wird». Uffleger ging hart mit ihm ins Gericht: «Er wagte nichts zu unternehmen, ohne sich vorher mit seiner Schwester, der Gräfin Diesbach, beraten zu haben, die in Paris als geistvolle und zugleich höchst intrigante Frau bekannt ist.»127 Nach der fehlgeschlagenen Flucht der Königsfamilie, an der er offenbar keinerlei Anteil hatte, war seine Anwesenheit an den Pforten Basels nicht mehr von Nutzen. Charles schien noch einige Zeit in der Gegend geblieben zu sein, wenn man Peter Ochs glauben darf, der damals in Paris weilte und am 27. Juli 1791 den Basler Behörden in einem Brief mitteilt: «Gestern sah ich im Lager der Freiwilligen, die sich auf den Weg zur Grenze machen, den jungen d’Affry mit drei anderen Leutnants der Schweizergarden – allesamt in Uniform – rauchen und Bier trinken.»128 Dieser Dickschädel nahm unruhige Zeiten gelassener als sein Vater, wusste seine Schwester Marie: «Mein Bruder Charles, der Älteste in der Familie, hatte eine nicht leichte Art; er war so lebhaft wie mein Grossvater, freilich weniger diplomatisch und militärischer; eine Kleinigkeit konnte ihn aufregen, eine Kleinigkeit beruhigen.»129
LOUIS D’AFFRY ZIEHT SICH IM JUNI 1792 ZURÜCK
Nach dem völligen Fehlschlag der Flucht des Königs reichte Louis d’Affry seine Demission ein und erhielt am 1. Juli die schon drei Monate zuvor erbetene Ernennung zum Ersten Gardehauptmann des Schweizergarderegiments. Darum begab sich d’Affry nach Paris, beneidete allerdings gleichzeitig Garville, der in die Schweiz zurückreiste. So vertraute er seiner Schwester am 2. November 1791 von Paris aus an:
«Ich neide ihm sein Schicksal und stöhne übers meinige. Ich halte Wache am Schloss, und was ich dort am besten bewache, ist meine Ecke am häuslichen Feuer, die ich keinem abtrete. Der Winter ist in Paris eingekehrt, von dem Ihr sicherlich in der Schweiz ein Gutteil abbekommt [...]. Tag für Tag erhalten wir recht ungute Nachrichten, aber am heimischen Feuer besänftigt sich alles. Mein Vater ist überlastet. Das spürt er sehr wohl und will dennoch keine Entlastung. Insoweit denken wir nicht gleich.»
Der Sohn schien dem Vater wahrlich keine grosse Hilfe zu sein. Am 17. Februar 1792 gab sich Louis offen fatalistisch:
«Wir geniessen das Glück der Anarchie, aber bei vollem Bewusstsein betrachtet, ist es ein gemeines Glück. Trotzdem hindert es mich an nichts, heute Abend speise ich wie gewohnt in der Stadt. Man gewöhnt sich an alles. Allerdings wäre ich froh, wenn das alles endlich vorbei wäre.»
Am 22. Februar teilte er seiner Schwester mit, «hier wird der Wirrwarr von Tag zu Tag schlimmer». Und stellt ironisch fest, «die Morde vervielfachen sich in Paris, dass es eine wahre Freude ist.» Am Ende drückte er die Hoffnung aus, bald wieder bei der lieben Schwester zu sein: «Gott weiss wann! Ich wünschte, man wendete in Prehl das Heu nicht ohne mich.» Am 7. März 1792 erhielt Brigadegeneral d’Affry gleichzeitig mit Maillardoz das Grosskomturkreuz des Ordens von Saint Louis oder, wie man es damals nennt, den zweiten militärischen Auszeichnungsgrad.130 Und wie üblich unterrichtete er davon am 11. März den Grossrat von Freiburg und empfing dessen Glückwünsche. Zu der Zeit verhielt er sich derart diskret, dass Pierre de Zurich anlässlich seiner Recherchen über Louis d’Affry am 6. Januar 1932 im Historischen Dienst nachfragte, was Louis zwischen dem 29. Juni 1791, als er den Posten in Huningue verliess, um nach Neubreisach zu gehen, und dem 10. August 1792, wo er zum Urlaub in seinem Anwesen in Prehl bei Murten eintraf, denn wohl getrieben haben könnte.131
Am 4. April 1792 verkündete Louis seiner Schwester, sein Vater habe «allerdings noch gesundheitlichen Kummer, der einzig mit seinem Alter zu tun hat. Der Lauf der Dinge und seine Position sind ihm ein Horror. Er möchte alles in der Hand behalten, aber die Ereignisse überrollen ihn.» Höchste Zeit, sich vom Pariser Sumpf zu lösen, schrieb Louis seiner Schwester am 25. April: «Ich habe immer noch vor, am 2. Mai abzureisen, sofern, wie ich hoffe, nichts dazwischenkommt. Ich warte wie auf heissen Kohlen aus Sorge, ich könnte mich nicht auf den Weg machen. [...] Wir befinden uns in einer ernsthaften Krise.» Als er von der ersten französischen Niederlage bei Tournai erfuhr, bedauerte d’Affry am 2. Mai, nicht schon weg zu sein. Am 9. Mai befand er sich immer noch in Paris und «tobt innerlich». Am 16. Mai teilte er seiner Schwester mit, die Nationalversammlung versuche, das Schweizergarderegiment aus Paris zu entfernen: «Ich weiss nicht, wie das alles noch enden wird, bin aber darauf gefasst, dass es für uns bald etwas Neues gibt.»
Der Sohn d’Affry war von den Ereignissen höchst enttäuscht und wurde von ihnen überrollt. Vielleicht begriff er nicht, warum sein Vater unbedingt in Frankreich bleiben wollte, und zweifellos entgingen ihm teilweise auch die Feinheiten seiner Politik. Der Administrator der Schweizer Truppen regelte allein die wesentlichen Aspekte des Frankreichdienstes und schien seinen Sohn nur selten ins Vertrauen zu ziehen, vielleicht aus Angst, ihn zu kompromittieren. Ob er damals grundsätzlich anderer Meinung war als sein Vater, lässt sich nicht sagen. Der zwangsläufig bald ins 19. Jahrhundert eintretende Sohn d’Affry schien den neuen Ideen gegenüber nicht so aufgeschlossen gewesen zu sein wie sein Vater. Wobei man die Modernität des Letzteren auch nicht überbewerten darf.
Zu guter Letzt traf d’Affry Sohn, der es nicht erwarten kann, sich endlich zu «erholen» – sprich, sich auf seine Ländereien zurückzuziehen, um dort über das Unglück seiner Zeit nachzudenken, am 24. Juni 1792 in Freiburg ein.132 Soeben hatten die Revolutionäre den Tuilerienpalast gestürmt und damit gewissermassen die Generalprobe zum 10. Mai geliefert. Wie heiss kündete sich der Sommer in Paris an, und wie strahlend an den Ufern des Murtensees! Louis würde in aller Ruhe heuen können.
DIE D’AFFRYS AM 10. AUGUST 1792
Louis d’Affry verfolgte die letzten Monate der alten Monarchie aus der Ferne, während sein Vater ihrem dramatischen Sturz in vorderster Reihe beiwohnte. Louis, der Sohn des Obristen, und Charles, dessen Enkel, wurden rechtzeitig vom Schauplatz der Ereignisse entfernt. Louis d’Affry hatte Frankreich in der zweiten Maihälfte 1792 verlassen, während sein Sohn Charles am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandt wurde. Kein d’Affry fand also den Tod in den Tuilerien. Wie ist es nach den Ereignissen vom 10. August zu verstehen, dass der Regimentsoberst und die übrigen Familienmitglieder, die doch alle wichtige Funktionen im Garderegiment ausübten, nicht als «wahre Patrizier»133 an der Spitze ihrer Truppen starben? Der Vater von Oberst d’Affry, Generalleutnant François d’Affry, hatte beim siegreichen Angriff an der Spitze seines Regiments in der Schlacht von Guastalla am 19. September 1734 den ruhmreichen Heldentod erlitten. Dass seinen Sohn 1792 nicht das gleiche Schicksal ereilte, hätte nicht ins Bild gepasst. Darum galten die d’Affrys, einer nach dem andern, lange Zeit logischerweise als im Kampf gefallen.134 So sehr kam es Revolutionsfreunden wie -feinden gleichermassen anfänglich gelegen, sie für tot auszugeben. Aufseiten der Revolutionäre, die dem Volk den Umfang des, wie es damals hiess, «Verrats» der Schweizer vor Augen führen wollten, ging es gar nicht anders, als deren Chef mit einzubeziehen.135 Auf Schweizer Seite schmälerte das Überleben des Schiffskapitäns den Opfergang der Offiziere. Nach den September-Massakern wurde d’Affry Vater in der Schweizer Presse erneut als gefallen ausgegeben.136
16 Das Stadthaus in Freiburg erwarb Louis d’Affry im Jahr 1777. Es war die offizielle Residenz des ersten Landammanns der Schweiz.
Die Erwähnung des Todes eines d’Affry-Sohns am 10. Mai reichte bis in eine anonyme, maschinenschriftliche Seite im persönlichen Dossier des Generalleutnants d’Affry im Kriegsarchiv in Vincennes hinein.137 Diese Legende hielt sich so hartnäckig, dass sogar der Autor der Notiz über seinen Sohn, der künftige Landammann der Schweiz, berichtete, «von Gefühl und Schmerz über den Verlust eines seiner beim Angriff auf die Tuilerien gefallenen Sohnes gebrochen, zog sich Augustin d’Affry in sein Schloss in Saint-Barthélémy zurück.»138 Nun hatte d’Affry nur zwei Söhne, von denen einer 1782 starb. Der am 4. November 1751 geborene Vicomte Jean Pierre Nicolas Charles Joseph d’Affry war am 15. Juli 1766 als 2. Unterleutnant in der Kompanie Castella ins Regiment der Schweizergarden eingetreten und hatte dann am 12. Oktober in die Generalleutnantskompanie gewechselt.139 Er heiratete mit Ehevertrag vom 4. Oktober 1780140 in Paris die 1763 geborene Adélaïde Louise Perrette Gigot de Garville, die ohne Nachkommen 1799 in Créssier starb; sie war die Tochter von Pierre François Claude Symphorien Gigot de Garville und Marguerite Charlotte Justine Soubeyran.141 Am 16. Januar 1780 erhielt er das Patent als Hauptmann der nach Graf d’Affry fortbestehenden Obristenkompanie des Regiments.142 War er wie geschaffen für das angebliche Opfer des 10. August? Unmöglich, denn er starb am 23. Oktober 1782 in Bern und wurde am 25. Oktober in Freiburg in der Familiengruft der d’Affry im Franziskanerkloster Freiburg beigesetzt.143 Es war also sehr wohl der künftige Landammann, den man für am 10. August 1792 gefallen ausgab. Nun befand sich aber Louis d’Affry während des ganzen Sommers offiziell auf Urlaub am Murtensee, während sein Sohn Charles an einer Eskorte in die Normandie teilnahm. Was Generalleutnant d’Affry anbelangt, so befand er sich am 10. August nicht etwa in den Tuilerien, sondern im von ihm gemieteten Haus von «Pont l’abbé» in der rue des Saint-Pères Nummer 9.144 Vermutlich meinten die Augenzeugen beim Anblick der Ordensbänder von Maillardoz und Bachmann, einer der beiden könne nur der Gardeoberst sein. D’Affry wurde zu seinem Schutz zum Sektionskomitee der Vier Nationen geschickt, wo man ihm riet, sich im Gefängis Abbaye als Gefangener zu stellen. Am selben Abend wurde d’Affry verhaftet, wiederum, um ihn vor dem wütenden Volk zu schützen, und an einen geheimen Ort verbracht.
17 Erinnerungstafel am Stadthaus von Louis d’Affry, angebracht zum 200-Jahr-Jubiläum der Mediation am 10. März 2003.
Am 19. August 1792 bringt der «Vertreter der Anklage der zweiten Sektion des für die Ermittlungen über die Ereignisse vom 10. August eingesetzten Gerichts» schwere Vorwürfe gegen d’Affry Vater vor: «Nach Prüfung der Aussagen der heute von der genannten Sektion des Anklagevertreters gehörten Zeugen ergibt sich, dass am 10. August die im Tuilerienschloss diensttuenden Schweizergarden sowohl mit Artilleriegeschossen als auch mit Schrot und Kugeln auf die Nationalgarde, die Föderierten, die Nationalgendarmerie sowie auf alle anderen Bürger geschossen haben, von denen viele getötet oder verwundet wurden; aus den vom genannten Vertreter erhaltenen Erklärungen und aus dem öffentlichen Aufsehen, das bis zur Demonstration reichte, ergibt sich, dass der Stab des genannten, im Schloss diensttuenden Schweizer Regiments den Befehl zur Eröffnung des Feuers erteilt hat und es die Herren d’Affry, Bachmann und Maillardoz sind, die besagten Schweizern die genannten Befehle erteilt haben. Womit die Geschworenen zu befinden haben, ob die genannten d’Affry, Bachmann und Maillardor [sic] des Feuerbefehls anzuklagen sind. Die Erklärung der Geschworenen lautet auf ja, sie sind anzuklagen.»145
18 Das Haus in Prehl in der Nähe von Murten.
Zehn Tage vor den Septembermassakern scheint für d’Affry alles verloren. Nach revolutionärer Logik stand ihm das gleiche Schicksal bevor wie seinen im September massakrierten Untergebenen, ihm, der alles darangesetzt hatte, die Entfernung der Schweizergarden aus Paris zu verhindern, welche die Nationalversammlung seit Wochen an die Grenzen zu entsenden suchte. Behörden und Presse kennen die Dickköpfigkeit, mit welcher d’Affry und sein Stab das Regiment der Schweizergarden in Paris halten wollten. Liest man den Pressebericht vom 10. August, so droht d’Affry das Schlimmste. Nach ausführlicher Schilderung der Verhaftung «dieses Schweizer Höflings» glauben Les Révolutions de Paris ankündigen zu können, «dass ihm zweifellos der Prozess gemacht werden wird; diesen blutrünstigen Greis darf man nicht aus den Augen lassen», und etwas weiter erfährt man, das Volk habe sich «in das Gefängnis L’Abbaye begeben, um d’Affry seinen hingerichteten Soldaten nachfolgen zu lassen».146 Doch am 29. August kommt der grosse Überraschungscoup; der in Paris ansässige Bankier François Gédéon Jain (1748–1819) aus Morges kann seinem Bruder berichten, dass «am 22. Herr d’Affry verhört wurde; am 23. des Monats wurde er, wie man mir eindeutig versichert, von der Anklage entlastet; ich kenne allerdings Leute, denen das nicht behagt.»147 Zu guter Letzt schreibt er ihm am 6. September, «alle in der Abbaye befindlichen Offiziere und Unteroffiziere der Schweizergarden sind hingerichtet worden, ausser Oberst d’Affry, der vom Volk gerettet und nach Hause gebracht wurde.»148 Was war geschehen? Nach einer allzu einfachen Lesart «wurde Herr d’Affry seines hohen Alters wegen als entlastet erklärt.»149 Haben etwa «seine weissen Haare» allein die künftigen Septembriseurs besänftigen helfen? Oder ist es, weil d’Affry, der am 14. Juli und auch am 10. August krank ist, «durch eine brüske Kehrtwendung der öffentlichen Meinung dem Massaker entkam und in die Schweiz flüchten konnte»?150 Eine zu simple Erklärung! Trotz dem 10. August oder gerade wegen des dadurch ausgelösten Schocks in der Schweiz musste unter allen Umständen das Symbol der französisch-schweizerischen Freundschaft gerettet werden. Zu diesem Zweck trennte die revolutionäre Macht den Fall d’Affry vom übrigen Stab ab, dem die gesamte Verantwortung für die Tragödie auferlegt wurde. Betont wurde überdies die Unschuld der einfachen Soldaten, nicht nur, weil sie immer noch nützlich sein konnten, sondern auch, weil sie aus einem traditionell mit Frankreich befreundeten Volk kamen, wie wenige Monate später der doch alles andere als freundliche Robespierre betonte. Hingegen wurden die beiden Untergebenen des alten Obristen, Bachmann und Maillardoz, erbarmungslos hingerichtet. Ende August wurden die mittlerweile im Dienst der Mächtigen stehenden Zeitungen ersucht, d’Affry positiv darzustellen.151 Da aber dennoch irgendein d’Affry als, und sei es nur virtuelles, Opfer gesucht werden musste, verfiel man auf seinen Sohn Louis, den man als gegenüber der königlichen Familie «aufgeschlossener» porträtierte, der den Schiessbefehl gegeben und dies mit dem Leben zu bezahlen habe.152 So verlieh man Louis d’Affry die Gabe der Allgegenwart und stellte ihn in die vorderste Linie. Fast niemand konnte glauben, dass sich der Sohn d’Affry bereits auf seine Güter zurückgezogen hatte. Ein auf dem Revolutionsaltar geopferter d’Affry, das war, als habe schon sein Vater für seine Haltung genug gebüsst. Am 5. September erfuhren die Nordisten, dass am 1. in Paris «die Instruktion des Prozesses von Herrn Bachmann, Major der Schweizergarden, vor dem Sondergericht begonnen hat»,153 und am 9. September, «Herr d’Affry sei vom Volk gerettet und nach Hause gebracht worden.»154
RETTET DEN SOLDATEN D’AFFRY!
Kaum war die neue Staatsgewalt etabliert, erwies sie sich insofern als würdige Nachfolgerin des verblichenen monarchischen Regimes, als sie keinerlei Interesse daran hatte, mit den Schweizern zu brechen. Wenn schon nicht weniger als vier Deputationen der Pariser Kommune nötig waren, um die Nationalversammlung zur Schaffung eines Gerichts zu zwingen – die Brissot vergeblich bis zur Einrichtung der Convention zu verhindern suchte –, war es durchaus natürlich, dass der Vertreter der Schweizer Interessen in Frankreich Gegenstand aufmerksamer bis intensiver Fürsorge war. Nach der Überlieferung wurde d’Affry am 2. September 1792 im Triumph zu seiner Wohnung getragen von demselben Volk, das an diesem Tag in den Gefängnissen brutal wütete. Diese unglaubliche Randnotiz zu den Septembermassakern wird von ernstzunehmenden Dokumenten bezeugt, so etwa dem Bulletin du tribunal criminel vom 10. August, das zu diesem Thema nichts anderes aussagt, als was im Freispruch vom 18. Oktober nachzulesen ist.155 So fielen die Zeitgenossen zwar nicht über d’Affry her, aber seine erstaunliche Rettung entging ihrer Aufmerksamkeit nicht. Am 3. September 1792 um 11 Uhr morgens, wenige Stunden nach der Hinrichtung des Majors der Schweizergarden, schickte Madame Pacquement Bachmanns Bruder dessen letzten Brief. Die Massaker kommentierte sie so: «Von unserem Seelenzustand spreche ich nicht. Er entspricht dem uns umgebenden Unheil. 6000 [sic] Gefangenen wurden diese Nacht die Köpfe abgeschnitten. Als Einziger entkam Herr d’Affry. Das wütende Volk hat es so gewollt, ohne das Urteil abzuwarten.»156
Was ging an dem berüchtigten 2. September 1792 vor sich? D’Affry verdankte seine Rettung der Staatsraison. Hier ist zu betonen: Eine Beseitigung d’Affrys wäre einem Bruch mit den Schweizer Kantonen gleichgekommen. Die Abtrennung seines Falles vom übrigen Stab trug zur Wahrung der Überreste der mehrhundertjährigen Allianz mit den Eidgenossen und zur Erleichterung der stillschweigenden Entlassung von rund zehn noch in Frankreich stationierten Schweizer Regimentern bei.
Die neu etablierte Staatsmacht wollte den Anschein und den möglichen Rest des Bündnisses mit den Schweizern wahren, und darum versah sie den Freispruch d’Affrys mit besonderem Glanz, um den schädlichen Eindruck der Septembermassaker auf die öffentliche Meinung in der Schweiz zu mildern, gleichzeitig aber auch die fanatischen Revolutionäre zu besänftigen. Ein Grossteil der Soldaten wurde diskret gerettet, die Offiziere wurden augenfällig geopfert, der Regimentsoberst namens der Staatsraison ausgespart und seine Befreiung prompt mit grossem Gepränge verkündet. Am 10. September 1792 präzisierte Lebrun sorgfältig: «Von den 9 oder 10 in Haft befindlichen Schweizer Offizieren war Herr d’Affry der einzige, der verschont blieb und vom jubelnden Volk nach Hause begleitet wurde.»157 Der Fall d’Affry veranschaulicht die Vielschichtigkeit dieser Septembertage. Dass d’Affry unter dem Deckmantel des Vorspiels zum Massaker, des Happy Beginning – wenn man diesen Neologismus zur Beschreibung eines Grossereignisses nutzen darf, das hier seinen Anfang nimmt (und nicht sein Ende findet) –, aus der Conciergerie herauskam, lässt einerseits den Schluss zu, dass die Behörden die Dinge kaum in der Hand hatten. Andererseits ist die Tatsache, dass d’Affry im letzten Moment gerettet wurde, nachdem die Nachricht von seiner Befreiung schon seit einer Woche kursierte, ein Hinweis darauf, dass die provisorischen Behörden mindestens teilweise überrascht wurden. Sie konnten weder die einfachen, in der Abbaye vergessenen Schweizer Soldaten – von denen manche an den Ereignissen vom 10. August gar nicht beteiligt waren – noch die in der Conciergerie inhaftierten Stabsoffiziere retten. Immer vorausgesetzt, dass die neuen Machthaber sie wirklich der Wut des Volkes entziehen wollten.
Doch wie bei Besenval 1790 musste man die Spannungen sich erst legen lassen, ehe am 18. Oktober 1792 das endgültige Urteil gefällt werden konnte. Indem sie den Freispruch d’Affrys um einige Wochen verzögerte, behielt die Regierung der blutjungen Französischen Republik zudem einen d’Affry in der Hand, der ihr gegenüber umso willfähriger war, als er ungeduldig auf die Genehmigung zur Rückkehr in die Schweiz wartete. Der Freispruch vom 18. Oktober, der ihm in aller Ruhe die Heimreise anzutreten erlaubte, besagt, nach Bezeugung von 180 Personen habe d’Affry sein Regiment gar nicht wirklich befehligt. Das Urteil huldigte geradezu jenem, der Grösse und Verfall des Dienstes in Frankreich symbolisierte, und legte den Grundstein zu einer höchst erstaunlichen Biografie. Der als völlig unschuldig anerkannte d’Affry wurde gewissermassen als ein über den Parteien stehender Weiser dargestellt, den das vom ehrwürdigen Staatsdiener erbaute Volk selbst unter seinen Schutz stellte.
DIE REAKTION IN DER SCHWEIZ
Der Fall des Obersten der Schweizergarden entfesselte im Patrizierkreis einen Sturm der Entrüstung. Seine scheinbare Haltung erbitterte Henri Meister (1744–1826), dem es am 10. September gelang, Paris zu verlassen, und der in einem Brief vom 21. Baron Zurlauben fragt: «Was halten Sie, M[onsieur], vom Verhalten des M[onsieur] d’Affry? Ich kenne Ihre Meinung.»158 Sehr freundlich dürfte diese nicht gewesen sein, sodass Forestier, der Schatzmeister der Schweizergarden, der am 10. August immerhin einen Sohn verloren hatte, sich dem berühmten Zuger Offizier am 18. September 1792 zu schreiben veranlasst fühlte, er setze sich «allen gegenüber» für d’Affry ein, den er für «untadelig» halte: «Eifersucht und Neid gebären eine ungeheure Verleumdung; wie können Sie, teurer General, angesichts Ihrer Erfahrung mit dieser Wahrheit den Absurditäten über diesen unglücklichen Greis Glauben schenken, die bis zu Ihnen durchgedrungen sind. Wer dem auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkt, verkennt völlig seine Überlegenheit. Glauben Sie mir, seine Seele ist viel zu edel, als dass sie sich so gemein beschmutzen würde. Gewiss verdankt er seine Rettung nur seiner allseitigen Beliebtheit und der Überlegenheit seines Verhaltens. Seien wir vor solchen Absurditäten auf der Hut.»159
Louis d’Affry harrte in seinem Prehler Zufluchtsort der Dinge. Er wusste, dass sich der Vater gegen Wind und Wetter für die Schweiz eingesetzt hatte. In diesem Beispiel würde er die Kraft finden, es ihm zu gegebener Zeit unter völlig anderen Gegebenheiten gleichzutun. So würde er zehn Jahre später die Schweiz der Mediationsakte begründen und aufbauen. Vorderhand aber war wohl der Ruf seiner Familie auf immer ruiniert, weil sich die Vorwürfe gegen seinen Vater zu verfestigen schienen. Durch einen Glücksfall hatten die Schweizer alles Interesse, das schmerzliche und heikle Kapitel vom 10. August 1792 abzuschliessen. Erst während der Restauration wurde es wieder aufgeschlagen. Bis dahin schwieg man sich über d’Affry am besten aus und verhinderte damit gleichzeitig ein Aufheizen der Rolle eines Teils der herrschenden Elite. D’Affry gegenüber übte man sich in der alten Kunst der damnatio memoriae. Man begnügte sich mit der schamhaften Feststellung, der die Schweizer Truppen im Dienste Frankreichs befehligende d’Affry sei im August und September auf offenbar unerklärliche Weise dem Massaker seines Schweizergarderegiments entkommen. Für die d’Affrys war der Augenblick gekommen, sich ein paar Jahre lang möglichst still zu verhalten. Die Freiburger Patrizier vergassen sie trotzdem nicht.
D’Affry wurde eher wegen seiner gemässigten Haltung während der Revolution verurteilt als wegen seiner Nichtteilnahme am 10. August. In diesem Zusammenhang wird übrigens übersehen, dass sowohl der am 2. September massakrierte Oberstleutnant Jean Roch Frédéric de Maillardoz als auch der am 3. September guillotinierte Major Charles Leodegar von Bachmann den König zur Nationalversammlung begleiteten und danach nicht ins Schloss zurückkehrten, um sich an die Spitze ihrer Männer zu stellen. Manche Autoren geben vor, diese seien bei der Ankunft in der Nationalversammlung verhaftet worden, was nicht zutrifft. Desgleichen behaupten sie, diese höheren Offiziere seien verpflichtet gewesen, bei ihrem König zu bleiben. Doch am 20. Juni 1792 waren sie nicht dort, denn da war der König nur von seinen schlimmsten Feinden umgeben. Wenn hingegen der von den französischen Patrioten verabscheute Baron Bachmann als Hauptverantwortlicher für die Verteidigung der Tuilerien galt, so zu Recht. Er drängte den König, Widerstand zu leisten, und verwechselte seine politischen Überzeugungen mit den Interessen seines Landes. Diese hätten ihn zu viel mehr Zurückhaltung in seiner konterrevolutionären Haltung veranlassen sollen.
IM SEPTEMBER 1792 1ST D’AFFRY WIEDER AUF SEINEM POSTEN
Wider alles Erwarten tritt Administrator d’Affry vorübergehend wieder in seine alte Funktion ein, ein Aspekt seiner Laufbahn, der gemeinhin schweigend übergangen wird. Kaum sind die Septembermassaker in der Hauptstadt zu Ende, ist Kriegsminister Servan in einem Schreiben an d’Affry vom 5. September damit einverstanden, dass er seinen Auftrag wieder wahrnimmt: «Ich habe, M[onsieur], den Brief erhalten, mit dem Sie mich am 29. letzten Monats beehrten und der französischen Nation anbieten, noch in Paris zu bleiben, falls man Ihre Anwesenheit für die späteren Vorkehrungen hinsichtlich der Entlassung der Schweizer Regimenter für erforderlich hält. Dieses neue Dienstangebot habe ich eiligst dem Provisorischen Exekutivrat vorgelegt, der ihm zustimmt und mich ermächtigt hat, Sie zu bitten, mit den Personen Ihres Büros weiterhin die Einzelheiten der Administration zu regeln, mit der dieses Büro beauftragt war. Insoweit verlässt sich der Exekutivrat auf den Patriotismus, die Klugheit, den Eifer und die Hingabe, die Sie bei allen Anlässen an den Tag gelegt haben, die Ihnen die Möglichkeit boten, sich um die Belange Frankreichs bei den Schweizer Kantonen zu kümmen. [ ...] Demzufolge wird vorgeschlagen, dass der Kriegsminister ausdrücklich beauftragt wird, Herrn d’Affry zu schreiben, man bitte ihn, mit den sein Büro bildenden Personen weiterzumachen.»160 D’Affry selbst wollte sich möglichst schnell zurückziehen. Am 4. September schreibt Aussenminister Lebrun an den französischen Botschafter in der Schweiz, Barthélemy, und teilt ihm die Befürchtung Frankreichs mit, Bern könnte den österreichischen Truppen ein Durchmarschrecht gewähren, und bittet ihn, der «derzeit versammelten» Tagsatzung «die Absicht der französischen Nation nahezubringen, die glückliche Harmonie aufrechtzuerhalten, die bislang zwischen den beiden Völkern herrschte.»161
Die Rolle d’Affrys ist ein weiteres Mal unklar. Soll er die Rückkehr der Soldaten seines Landes in die Schweiz ermöglichen oder aber ihre Einbeziehung in die neuen Armeen der Republik erleichtern? Das Verbleiben d’Affrys auf seinem Posten scheint allen Parteien recht zu sein. Denn auch aus Schweizer Sicht ist d’Affry im Augenblick unersetzlich. Die am 3. September in Aarau eröffnete ausserordentliche Tagsatzung schickt d’Affry ein Schreiben und beauftragt ihn, «Ihren Aufenthalt in Paris zu verlängern, um sich um das Wohl und den ehrenvollen Abzug aller Schweizer Truppen in Frankreich zu kümmern».162 In Unkenntnis seines momentanen Aufenthaltsorts schickt ihm die Tagsatzung der Schweizer Eidgenossenschaft am 5. September den Abberufungsbefehl für die im Dienste Frankreichs stehenden Schweizer Regimenter einschliesslich der Überreste des Garderegiments. Am 9. September teilt d’Affry Zürich seinen lebhaften Wunsch nach Heimkehr mit. Dies umso schneller, als er am 25. August vom Entlassungsdekret vom 20. Kenntnis erhielt. Er schreibt: «Von diesem Augenblick an war ich der Meinung, dass ich nach Erlöschen aller Funktionen als Generaladministrator und Oberst der Schweizergarden nur noch auf diesbezügliche Gewissheit oder Erklärung wartete, um die Freiheit zur Rückkehr in die Schweiz zu erbitten.»163 Wieder einmal führt d’Affry seine herausragende Funktion ins Feld, um die Freiheit zu erlangen, aber ebenso seinen Gesundheitszustand, um endlich seine Ruhe zu haben. Doch bei aller Erwartung der Heimkehr bleibt er keineswegs untätig. Insbesondere bemüht er sich um die Entfernung der Siegel im Wohnsitz des Schatz- und Quartiermeisters der Schweizergarden.164 Auf seiner 27. Sitzung macht sich der Provisorische Exekutivrat am 12. September die Mühe, sich diesbezüglich zu äussern: «Der Kriegsminister verlas ein Schreiben des Herrn d’Affry, vordem Oberst der Schweizergarden, der hinsichtlich der Entlassungsmassnahmen seine guten Dienste anbietet und darum ersucht, die auf den Registern und Papieren der Regimentsverwaltung sowie an der Kasse angebrachten Siegel möglichst bald zu beseitigen. Der Rat beschliesst, dass der Kriegsminister sich diesbezüglich an die Pariser Kommune sowie an den Allgemeinen Sicherheitsrat der Nationalversammlung wendet.»165 Am 13. September erklärt d’Affry in einem Schreiben an die Tagsatzung in Aarau, er habe «keine Mühe gescheut, um die französische Regierung zu veranlassen, die am schnellsten wirksamen Massnahmen zu treffen, damit die Unglücklichen, die vom Schweizergarderegiment noch übrig sind, geschützt werden und ihre Heimkehr gesichert wird.»166
Seinen Wunsch nach schnellstmöglicher Rückkehr in die Schweiz beantwortet die Tagsatzung mit der Bitte, seinen Aufenthalt in Paris zu verlängern und «sich um das Wohl und den ehrenhaften Abzug aller unserer Truppen in Frankreich ebenso wie all der Schweizer, die sich ihnen anschliessen, zu kümmern».167 Wenigstens kann sich d’Affry dank diesem amtlichen Mandat von dieser Seite her abdecken. Fortan kann ihm niemand mehr vorhalten, er sei in Frankreich, das seinen König abgesetzt hat, geblieben. D’Affry will sich nicht mehr als nötig mit der eben eingesetzten Regierung der Republik einlassen und präzisiert am 21. September in einem Brief nach Freiburg: «Ich fange an, mich für ein paar unselige Überreste des Regiments nützlich zu machen, will mich aber bewusst in nichts einmischen, sondern werde von Herrn de Servan zwei Kommissare der Versammlung erbitten, um die Siegel beim Major, an der Schatztruhe und an den Kontrollbeständen zu entfernen. Sie werden, jeder zu seinem Teil, das Nötige tun.»168 Am 28. September erfährt nunmehr der Kanton Solothurn, dass d’Affry der Frage der Nachfolge Besenvals nicht mehr nachgehen kann: «Meine Gesundheit wird so schwach, dass ich, sobald ich das für das Schweizergarderegiment Nützliche erledigt habe, darum bitten werde, heimkehren und dort die Ruhe finden zu können, derer ich dringendst bedarf.»169
DIE HEIMKEHR VON D’AFFRY VATER IM OKTOBER 1792
Nun ist auch das letzte noch verbliebene Schweizer Regiment, das Zürcher, in guter Form entlassen. Offiziell verbleibt keine Schweizer Truppe mehr in der Republik. D’Affry braucht nur noch zu packen und muss niemandem mehr seine Aufwartung machen. Sobald die Verwaltungsdinge liquidiert sind, verlässt d’Affry am 20. Oktober 1792 Paris, wohin er nie mehr zurückkehrt, und findet eiligst procul negotiis (fern der Angelegenheiten) zu sich selber. Louis d’Affry und seine Schwester reisen am 24. Oktober ab und gesellen sich zu ihrem Vater in Saint-Barthélémy, wo er am 28. erwartet wird.170 Am 30. Oktober finden wir ihn bei seinem Sohn im Schloss der Vogtei d’Echallens, um dort endlich seinen, wie man zu sagen pflegt, wohlverdienten Ruhestand zu geniessen. Am 2. November teilt d’Affry von dort aus dem Staat Freiburg mit, sein Gesundheitszustand gestatte ihm nicht, nach Freiburg zu kommen, und äussert die Hoffnung, dass Ihre Exzellenzen ihn von der Anwesenheit dispensieren.171 Er weiss, dass er in der Stadt der Zähringer nicht gerade willkommen ist. D’Affry kommt nicht nach Freiburg und die Patrizier gehen ihm aus dem Weg. Auch ihm liegt nicht besonders viel daran, sie wiederzusehen. Seine letzten Lebensmonate scheint er friedlich verbracht zu haben, wobei er sich über die Heimkehr seines Enkels Charles freut, nachdem das am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandte Detachement der Schweizergarde am 17. September 1792 in Dieppe entlassen wurde.172 Bis zum letzten Atemzug ist d’Affry weitgehend im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten, wie seine Korrespondenz und die Aussage de Forestiers, des Schatzmeisters der einstigen Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fridel Zurlauben bestätigen. Darin beschreibt er seinen letzten Besuch beim einstigen Obersten vor einigen Tagen in dessen Schloss von Saint-Barthélémy, «wo wir den Chef in einem Zustand antrafen, dessen Zerfall trotz aller Kunst Tissots bevorzustehen scheint. Aber er besitzt immer noch seine Fröhlichkeit, seine Geistesruhe und sein volles Gedächtnis.»173 Ein klarer Widerspruch zur Legende eines d’Affry, der sein Leben von allen geächtet und von Gewissensbissen geplagt beendet habe. Anfang Mai erleidet er einen Schlaganfall, aber gegen Ende des Monats scheint sich sein Zustand wieder zu bessern. Am 10. Juni 1793 stirbt er friedlich in seinem Bett, auf den Tag genau zehn Monate nach der schrecklichen Niederlage seines Regiments. Er wird nicht an dem für die d’Affrys reservierten Ort in der Klosterkirche in Freiburg beigesetzt, sondern «in der Pfarrei St-Germain in Assens, Landvogtei d’Echallens, den Kantonen Bern und Freiburg unterstellt.»174 Als Jean Nicolas Elie Danse,175 sein treuer Pariser Mitarbeiter, die Nachricht erfuhr, schrieb er am 21. Juni an Louis d’Affry: «Er starb in der Gewissheit, in seiner Heimat vor allem viele glücklich und nicht wenige undankbar gemacht zu haben. Seine einzige Sorge war, leidend zu sterben, denn den Tod hat er nicht gefürchtet. Gott hat seine Bitte erhört, denn er starb, ohne leiden zu müssen.»176
Ein Grabstein an der Mauer der Kirche von Assens im Kanton Waadt ruft den Mann in Erinnerung, der sich diese Beschriftung erbeten hatte: Hic quies. Nach 80 Jahren auf Erden starb ich am 10. Juni 1793 in meinem Schloss Saint-Barthélémy umgeben von meinen Kindern und Enkeln. Gratus exivi. Louis Auguste d’Affry. «Gratus exivi» – was will diese Inschrift genau besagen? Der erste wahrhaft helvetische Botschafter in Frankreich und letzte Oberst der Schweizergarden verblich in Seelenfrieden. Glücklich, gelebt, und zufrieden, seinen Auftrag erfüllt zu haben, sieht er nun furchtlos den Vorhang fallen über einem Leben, das ihm alles in allem viel Abwechslung bot. Sein Sohn wird ihn nur um siebzehn Jahre überleben.
DER EDELMANN VON MURTEN (1792–1802)
VON DEN TUILERIEN NACH PREHL
Das Ableben von Generalleutnant d’Affry befreite seinen Sohn vom Schatten des Kommandeurs. Nun war er voll und ganz Louis d’Affry, wie er fortan genannt wird. Waise war er im doppelten Sinne, denn seit je lebte seine Familie im Spannungsfeld des französisch-schweizerischen Bündnisses. Für den enttäuschten, mittellosen und seiner traditionellen Bezugspunkte beraubten Fünfzigjährigen war es höchste Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch bevor er sich der Welt öffnen konnte, zog sich Louis zunächst auf seine Güter zurück. War der Kanton Freiburg, in den er heimkehrte, auch für die «fetten Kühe» bekannt, so brechen für d’Affry dennoch die Jahre der «mageren» an. Nach dem Tod seines Vaters verkauft Louis das Schloss Saint-Barthélémy und wohnt meist zurückgezogen in seinem Landhaus in Prehl bei Murten. War das Beste am Sohn der Vater gewesen, so war es nun auch das Schlimmste, wenn man sich die Ansichten der Zeitgenossen seiner Kaste zu eigen macht. Der in Freiburg zur persona non grata gewordene Louis nahm eine Wartestellung ein an einem Ort, von dem aus er beobachten konnte, ohne allzu nahe überwacht zu werden. Der Wohnsitz in Prehl entpuppte sich ganz offenkundig als naheliegendes Exil, wo er dafür sorgte, vergessen zu werden. Marius Michaud schreibt: «Bis 1798 verfolgt er dennoch die Entwicklung in Frankreich und in seinem eigenen Land sehr genau. Er spürt, dass sich die Revolution unausweichlich auf das übrige Europa ausbreiten wird.»177
Fred von Diesbach interpretierte d’Affrys Fernbleiben von Freiburg so: «Urplötzlich fand er sich mit allen ihm anhängenden Lasten in der Klemme. Für das, was ihm nun noch an Mitteln blieb, war Saint-Barthélémy zu drückend und zu kostspielig. Er verkaufte das Schloss zwei Jahre später und vergab einen Teil des Mobiliars sowie die Bibliothek, von der wenige Bruchstücke in Waadtländer Familien übrig sind. D’Affry ertrug diese Opfer mit viel Gleichmut und Gelassenheit. Aber er hatte kein Zuhause.»178 Zwar hatte er im Januar 1777 ein Haus in der Rue de la Préfecture179 erworben, aber es war an Emigrierte vermietet. Zuvor hatte sein Vater 1783 den Familienwohnsitz an der Place Notre-Dame verkauft. «Übrig blieben die (ihm über den Vany-Zweig überkommene) Domäne von Givisiez und der kleine Besitz in Prehl zwischen Salvagny und Murten, unweit von Courgevaux. Dort liess er sich nieder.»180 Auf Rosen ist d’Affry offenkundig nicht gebettet. Beim Sturz der Monarchie verlor er seinen Sold als Marschall und seine Pension.
Dennoch war Louis d’Affry nicht zu bedauern. Wie erwähnt, besass er ein Stadthaus in Freiburg.181 Volksnah und knapp bei Kasse, verwaltete Louis d’Affry seinen Besitz mit grosser Sorgfalt. So machte er sich beispielsweise am 14. März 1798 Sorgen um vier Weingärten, die er gemeinsam mit seiner Schwester, «Ehefrau des Bürgers Diesbach», in Aran in der Pfarrei Villette besitzt, die er eiligst bei Glayre, dem Vorsitzenden des Überwachungs- und Polizeikomitees von Lausanne,182 ebenso anmeldet wie ein Häuschen, das sein Winzer bewohnte.
Abgesehen von seinen Nachbarn de Greng und du Loewenberg, Garville und Tessé pflegte Louis nur sehr wenig Umgang mit französischen Emigranten, deren Sitten und Gewohnheiten zu wünschen übrig liessen und die sich im Übrigen auch vor ihm in Acht nahmen. Max von Diesbach dazu: «Wenngleich sich d’Affry dank seiner Bildung und den Beziehungen in der Jugendzeit in dieser gemeinhin eleganten und frivolen Welt gut zurechtfand, war er seiner Umgebung doch durch seinen gesunden Menschenverstand und die Familientradition überlegen, die ihm als Schutz dienten. Zudem hatte ihn die Natur mit einem Herzen gesegnet, das ihn schon für sich allein vor verächtlicher Voreingenommenheit bewahrte.»183 Der glänzende Soldat am Versailler Hof hatte nunmehr einem kleinen Landgutbesitzer Platz gemacht. So lautete das Zeugnis des Memoirenschreibers Norvins:
«Man muss ihn samt Frau und Kindern einmal in ihrem Landhäuschen in Prehl gesehen haben. Man hätte ihn glatt für den Sohn einer Familie von Kleinbauern gehalten. Nie hat mich eine Metamorphose mehr beeindruckt, mich, der sie als ihr Nachbar in Paris so wohlsituiert erlebt hat. Sie nahmen das Dorf ebenso zu Herzen wie vordem die Stadt und den Hof und besassen die grosse Gabe, sich in beiden doch so unterschiedlichen Positionen gleichermassen zurechtzufinden.»184
Mathieu Molé vervollständigte dieses Bild:
«Er besass eine feine Bauernart, gepaart mit viel gesundem Menschenverstand, eine Mischung aus Versailler Höfling und Berner Aristokrat, aus Grandseigneur und altem Soldaten, aus Geniesser und einfachem Schweizer, die aus ihm etwas Besonderes machten.»
Nachdem er den grössten Teil des Lebens unter dem Ancien Régime verbracht hatte, besass er eine stets äusserst würdige und feine Art; als Bourgeois des 19. Jahrhunderts liebte er die Bequemlichkeit im Interieur und war allen gegenüber, auch seinen Untergebenen, stets höflich.
Wie sein Vater entwickelte d’Affry eine schmiegsame und vielgestaltige Persönlichkeit, die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere Rollen zu spielen. Aufrichtig den einfachen Freuden zugetan, benahm er sich wie ein «gentleman farmer», den es von Zeit zu Zeit in die Stadt zog. Dennoch kann man nicht umhin zu denken, dass er sich auf seinem Stückchen Land ein wenig isoliert vorkam, zumal sein Sohn Charles schon früh nach der Rückkehr aus Paris den Kanton Freiburg zu verlassen suchte. Es ist behauptet worden, kein d’Affry habe je gegen Frankreich gekämpft. Dennoch gibt es eine Ausnahme. In den in Vincennes geführten «Etats de services successifs de campagnes de Monsieur le comte Charles Philippe d’Affry» (Verzeichnis der Feldzüge des Grafen Charles Philippe d’Affry) ist unter dem 1. Juli 1814 nachzulesen, nach der Entlassung in Dieppe am 1. September 1792 sei Charles d’Affry nach England gegangen. Er kämpfte in Belgien und Italien gegen die Franzosen. Im November 1792 stand er mit General von Diesbach vor Lüttich. Im Mai 1793 trat er als einfacher Kadett ins ungarische Regiment von Erzherzog Anton ein; im Oktober 1793 zum Fähnrich ernannt, wurde er im Januar 1796 Leutnant. Von 1793 bis 1795 kämpfte er in Italien.185 1793 nimmt er an den Kämpfen von Dégo teil, sodann an weiteren, so zum Beispiel am 24. und 27. Juni 1794 am Col de Sept Pain und St. Jacques, an der Schlacht von Loano am 23. November 1795, im Jahre 1796 an den Kämpfen bei Savona sowie an der Überschreitung des Po bei Lodi. Im August 1796 quittierte er den österreichischen Dienst.186
Wieder in der Schweiz, wurde er 1797 Stabshauptmann in der Miliz des Kantons Freiburg, was zeigt, dass er wieder in Gnaden aufgenommen war. Im Dienste der Koalition verpflichtete er sich den Gegenrevolutionären und stellte die Hingabe seiner Familie an das unter Beweis, was man in Freiburg die «gute Sache» nannte. 1797/98 war er Mitglied des Freiburger Grossen Rates und erwarb das Schloss Belfaux, wo er mehrere Umbauten vornahm, was auf eine fortan günstigere finanzielle Lage hindeutet. Den Giebel zierte das Wappen der d’Affry und Diesbach. Als sich das Ancien Régime in Freiburg dem Ende zuneigte, schien sich auch die Lage der Familie d’Affry sichtlich zu normalisieren.
VORSPIEL ZUR SCHWEIZERISCHEN REVOLUTION: ENDE DER DURSTSTRECKE
Louis d’Affry spaziert täglich mit der Pfeife im Mund über die Felder, im Alltagsgewand des Landedelmannes.187 Vermutlich ist es eine der schönsten Zeiten seines Lebens. Da er das Glück hat, in der Nähe der Landstrasse zwischen Lausanne und Murten zu wohnen, begegnet er am 23. November 1797 General Bonaparte, der auf dem Weg von Genf über Basel zum Rastatter Kongress die Schweiz durchquert. Zufall oder von langer Hand vorbereitete günstige Gelegenheit? Fred von Diesbach beschreibt uns einen Louis d’Affry, der «auf der feuchten Strasse an diesem eisigen Herbstmorgen vom 23. November in dem vom See aufsteigenden Nebeldunst auf und ab geht. Der Wind wirft die letzten Blätter von den Bäumen auf das reifstarre Gras. Der höchst einfach gekleidete Louis d’Affry [...] späht nach der Kutsche und ihrer Eskorte von Berner Dragonern im gelbroten Rock.
Der General hatte Lausanne am frühen Morgen verlassen. Es war noch dunkel. Er durchquert Moudon, dessen Schultheiss, Herr de Weiss, seit acht Tagen auf der Landstrasse auf und ab marschiert in der Hoffnung, einen Blick auf sein Idol werfen zu können. In Domdidier geht Bonaparte in ein Bauernhaus und macht sich eigenhändig ein einfaches Frühstück. Dann besteigt er wieder seinen Wagen, der durch das verlassene Land weiterfährt. Plötzlich gibt es einen Stoss; eine Feder ist gebrochen. Bonaparte steigt aus und sieht das Beinhaus von Murten: ‹Ah, ah, die Knochen der Burgunder›, sagt er und wendet sich an einen Adjutanten (Marmont). ‹Das ist was für dich, du bist doch Burgunder!› Während das Gefährt notdürftig repariert wird, wirft Bonaparte, der nie einen Augenblick verliert, einen scharfen Blick auf die Hügel und Wiesen, die einst ein Schlachtfeld gewesen waren.» Und wen erblickt er da plötzlich? Erlach, meint Barante in seiner Geschichte des Directoire. Aber es kann sich nicht um einen Berner handeln. General Bonaparte machte keinen Hehl aus seiner «feindseligen Einstellung» ihnen gegenüber. Er «sagte immer wieder, der Berner Adel, seine Interessen und seine Machtgelüste seien mit der Republik unvereinbar; seiner Meinung nach musste das damals Bestehende durch einen neuen Zustand ersetzt werden. Er vermied es deshalb sorgfältig, irgendwo in der Schweiz mit einer massgebenden Obrigkeit zusammenzutreffen, und beeilte sich deshalb, so gut es ging»,188 erinnert sich Marmot. «Ein Einwohner auf der Strasse, Herr d’Affry, ehemaliger Oberst des Schweizergarderegiments, gab dem General die Erläuterungen, nach denen er sich erkundigte; sie bezogen sich vor allem auf die Bewegungen der beiden Armeen und ihre jeweiligen Stellungen».189 Fred von Diesbach kommentiert: «Der General überlegt einen Moment lang, dann sagt er zu Marmont und Junot, die ihn begleiten: ‹Dieses Land kann man mit zweitausend Mann besetzen!›» Eine beunruhigende Aussage, von der man nicht recht weiss, ob sie rein spekulativ oder konkret gemeint ist.
Wenig später besteigt Napoleon Bonaparte seine Kutsche wieder und fährt schnell bis Murten weiter, wo eine längere Pause eingelegt werden muss, mindestens zwei Stunden, um die gebrochene Feder auszutauschen. Der dortige Schultheiss, Herr de Gottrau, bittet den General ins Schloss, wo ihn eine warme Mahlzeit erwartet. Er geht hin, traut aber wohl den Speisen nicht und nimmt nur Kaffee zu sich. Er ist von Würdenträgern umgeben, darunter Herr de Rougemont und der Pariser Bankier du Löwenberg, der an gewisse finanzielle Dienste erinnert, die er der Familie erwiesen habe. «Ach?», meint der General darauf nur. D’Affry, den Gottrau holen liess, bringt das Gespräch auf allgemeine politische Themen: «Die Schweiz ist ein glückliches Land», sagt Bonaparte, «daran soll man nicht rühren, sondern alles lassen, wie es ist. Die Neutralität der Schweiz ist ein grosses Glück für Frankreich.» Das wissen alle wohlmeinenden Franzosen. Der General stellt dann noch ein paar Fragen, denn er befindet sich auf kaum bekanntem Neuland, und ist erstaunt zu erfahren, dass Neuenburg dem König von Preussen gehört.
Während des Gesprächs beobachtet d’Affry den seltsamen, trockenen, sonnengebräunten Mann mit der gebogenen Nase, dem leicht olivfarbenen Teint und dem ungepuderten, zusammengebundenen Haar. Er ist mager, trägt einen einfachen Reiserock, nicht einmal eine Uniform. Aber von ihm geht eine unvergleichliche Anziehungskraft und Autorität aus, fast eine Faszination. Er ist der Held auf der Brücke von Arcole, den Gros unsterblich gemacht hat. In ihm steckt eine gewaltige Kraft. Man spürt, dass er die Ereignisse befehligen wird. Im Anschluss an das Gespräch verlässt Bonaparte Murten und erreicht noch am selben Abend Bern, das er hinter sich lässt, ohne an dem Bankett teilzunehmen, das ihm die «Oligarchen» bereitet haben.190
Diese Begegnung ist für d’Affry ein gutes Omen, und bald schon kommt die Stunde, da er wieder im politischen Rampenlicht stehen wird.
DIE FRANZÖSISCHE VORMUNDSCHAFT UND DIE IDEE DER MEDIATIONSAKTE
Heute wissen wir, dass die Idee der Mediationsakte 1803, als der Erste Konsul die Schweizer Frage regelte, nur insoweit etwas Neues ist, als sich die Mediation nunmehr für die Schweiz insgesamt und nicht mehr nur für diesen oder jenen Teil der Eidgenossenschaft aufdrängte. Die Neuheit lag in der späteren Betrachtung der Mediation als einer aussergewöhnlichen Zeit. Gern wird vergessen, dass die Schweiz in in traditioneller Weise mit Frankreich liiert war und von einer fremden Macht abhing. Für uns bezeichnet die Mediation den Moment, in dem die Frankreichhörigkeit ihren Höhepunkt erreichte und dabei die gesamte Schweiz umfasste. Zuvor hatten die einzelnen Stände unterschiedene Abhängigkeiten von den benachbarten Mächten. Die strukturelle Trägheit der Tagsatzung hatte dies recht gut ertragen.
Die Rolle des Vermittlers fiel Bonaparte sehr schnell zu. Der Basler Peter Ochs (1752–1821) forderte ihn zum Eingreifen auf, um das unitaristische System durchzusetzen, und bat ihn gar, sich zum «Gesetzgeber der Schweiz» zu erheben – ein Angebot, das der General zum damaligen Zeitpunkt ablehnte.191 Ochs übernahm es also, den Verfassungsentwurf zu formulieren, nachdem er die Ansichten von Daunou und Reubell eingeholt hatte.192 Anschliessend überarbeiteten Merlin de Douai, Reubeull und Ochs193 gemeinsam den Text, der nach Guyot alles in allem «viel weniger an der Verfassung des Jahres 3 ausgerichtet ist, als man gemeinhin meint.»194 Die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 errichtete eine in den Schweizer Annalen einmalige zentralisierte Republik.
STURZ DES CORPS HELVÉTIQUE (1798)
Zunächst musste ein Schlussstrich unter die Schweiz in ihrer ursprünglichen Gestalt gezogen werden. Dem Marschall d’Affry war bewusst, dass die Revolution, hätte sie erst einmal Einlass in die Schweiz gefunden, durch nichts mehr aufzuhalten sein würde und dass sein Vater lediglich Zeit gewann, indem er das Unvermeidliche hinauszögerte. Fünf Jahre Zeit, die kein Mensch dazu nutzte, irgendwelche Reformen einzuleiten. Louis d’Affry wurde zum herausragenden Akteur des Zusammenbruchs des Ancien Régime in Freiburg. Wie sehr musste es dem Kanton Freiburg an geeigneten oder mindestens zur Übernahme einer gewissen Verantwortung bereiten Männern mangeln, wenn man sich dazu entschloss, seine Dienste in Anspruch zu nehmen! Als sich die französische Bedrohung konkretisierte, hielten die drei Kantone Freiburg, Bern und Solothurn in Zofingen Kriegsrat ab, um die Verteidigung vorzubereiten. Dorthin begab sich Louis d’Affry am 10. Januar 1798 in Begleitung von Generalmajor Nicolas de Weck. Ihr Auftrag geschah in grösster Heimlichkeit. Fred von Diesbach rief uns in Erinnerung, dass die beiden Offiziere «ermächtigt waren, mit den Verbündeten einen gemeinsamen Verteidigungsplan aufzustellen, ohne dabei einem kompromittierenden Versuch des Staates Freiburg die Hand zu leihen und ohne sich den von Bern getroffenen Massnahmen anzuschliessen. Diesen strengen Massnahmen stand Freiburg ablehnend gegenüber. Die Republik erwies sich mal als hochfahrend und fest entschlossen, dann wieder als von Unentschlossenheit gelähmt und politisch gespalten.»195 Von seinem Vater wusste d’Affry um die traditionelle Unentschlossenheit der Kantone und gab sich darum hinsichtlich ihres kollektiven Abwehrwillens keinen Illusionen hin. Anfang 1798 breitete sich der Waadtländer Aufstand wie eine Pulverspur auf die Freiburger Vogteien aus. Louis d’Affry erhielt den Oberbefehl über die am 23. Januar von der Freiburger Regierung zur Verteidigung der Stadt und der Altländer ausgehobenen Truppen und nahm an den Beratungen des Geheim- und des Kriegsrats teil, der am 30. die Aushebung der Miliz dekretierte. Angesichts der Gefahr eines französischen Einmarsches beschloss der Freiburger Grosse Rat eine Verfassungsänderung, welche die Volkssouveränität zur Grundlage machte. Louis d’Affry gehörte also am 28. Januar 1798 dem Kriegsrat und dem Geheimen Rat an. Am selben Tag verabschiedete der Grosse Rat die Revision der für Freiburg gültigen Verfassung im Sinne der Volkssouveränität. Als sich die Waadtländer Kontingente am Stadteingang einfanden, verhinderte d’Affry, dass sich irgendjemand zeigte, und untersagte das Trommelrühren. Er liess sich gemeinsam mit Ignace de Montenach den Auftrag geben, mit den Ankömmlingen als Parlamentäre zu verhandeln, und zog danach «ein Lied trällernd» ab, wie ein Zeuge berichtet. Er redete mit den Waadtländern, gewann ihr Vertrauen durch Lieferung einiger Nahrungsmittel und erreichte, dass sie sich entfernten. Sie zogen in Richtung Belfaux ab. Freiburg atmete auf. Aber wenn es einem an Stärke fehlt, muss man diplomatisch zu handeln wissen. Indem er das Waadtländer Bataillon des Kommandanten Alioth aus Vevey zum Abmarsch bewegte, zögerte d’Affry eine vom Zusammenstoss zwischen Waadtländer und Freiburger Patrioten ausgelöste revolutionäre Bewegung um einige Wochen hinaus. Hier stellte d’Affry die ihm eigene, meisterhafte Kunst aus Umsicht und Geschicklichkeit unter Beweis, die er dazu benutzte, seiner Heimat die Geissel des Bürgerkriegs so weit wie möglich zu ersparen. Man fühlt sich an seinen Vater erinnert, dessen erprobte Rezepte er sichtbar angewendet hat, aber damit endet der Vergleich auch schon. Was ihm damals noch fehlte, war die politische Genialität. Dass d’Affry herbeigerufen wurde, zeigt, wie unverzichtbar er war. Als Mitglied des Geheimen Rates und Befehlshaber der Freiburger Truppen gab er sich alle Mühe, Freiburg die Schrecken eines nutzlosen Kampfes zu ersparen. Er wollte das schaffen, was seinem Vater am 10. August versagt blieb. Max von Diesbach unterstrich, «seiner charakteristischen Mässigung und seines ungebundenen Geistes wegen wurde er dazu berufen, mit dem kommandierenden General Brune zu verhandeln».196 Aber Ménards Nachfolger Brune brachte es fertig, die Regierenden einschliesslich Louis d’Affry einzuschläfern. Letzterer besass eindeutig nicht das Format seines Vaters. Fred von Diesbach schrieb: «Er liess sich von den Verhandlungen täuschen, die Brune mit ihm und seinen Nachbarn führte, um Zeit zu gewinnen. Für den Franzosen war das aber eine blosse ‹Finte›. Die Berner liessen sich trotz den Protesten ihrer Generäle einwickeln. Ihre Abgesandten, Schatzmeister Frisching und Oberst de Tscharner de St. Jean, kamen in Payerne an. Die Freiburger, Louis d’Affry mit dem Kanzler der Republik Simon Tobie de Raemy und Nicolas de Gady, gingen ebenfalls in die Falle. Ihre Weisungen waren nach Aussage Gadys ‹vage, fast sinnlos› und ‹liefen lediglich darauf hinaus, den General dazu zu bringen, dass er nicht in den Kanton Freiburg einmarschiere›, und er fügte hinzu, ‹Herr d’Affry legte unter diesen Umständen eine grosse Energie an den Tag, aber vergebens. Wir kehrten zurück, ohne ein anderes Ergebnis vorweisen zu können als die Gewissheit eines bevorstehenden Einmarsches in die Schweiz.›»197
Der zur 18. Halbbrigade der Invasionsarmee in die Schweiz gehörige spätere französische General Jean Baptiste Materre schrieb anlässlich der Einnahme Freiburgs im März 1798 über d’Affry: «Nach den üblichen Aufforderungen wurden einige Kanonenkugeln abgefeuert; das veranlasste die Einwohner, zum Kommandeur der französischen Division einen Bevollmächtigten zu entsenden, um mit ihm die Übergabe der Festung auszuhandeln; sie delegierten Herrn d’Affry, vor der Revolution Oberst eines Schweizer Regiments im Dienste Frankreichs, einen versierten Höfling, geübt in Intrige und Versteckspiel, der die Freimütigkeit unseres Generals [Pijon] geschickt auszunutzen verstand, um ihn hinzuhalten, die Dinge in die Länge zu ziehen und damit seinen Auftraggebern die Zeit zur Evakuierung der Festung zu verschaffen, das Schönste und Beste wegzubringen und den Rest praktisch einsatzunfähig zu hinterlassen. General Pijon merkte ein wenig zu spät, dass ihn dieser gerissene Unterhändler an der Nase herumführte, liess Sergeant Barbe den Schutzwall ersteigen, sich beim Kommandanten die Stadtschlüssel beschaffen und befahl uns die Aufstellung in Marschkolonne zum Einmarsch.»198 «Gerissener Unterhändler» – der Begriff war geboren. Freiburg fiel wie eine reife Frucht oder genauer wie eine teigige Birne. Als die Franzosen am 2. März endlich vor Freiburg auftauchten, oblag es wiederum d’Affry, die Übergabe auszuhandeln. Er übernahm das hässliche Geschäft, das ihm nur schaden konnte. Aber das gesamte Patriziat hatte sich gedrückt, nur d’Affry sprang ein. So hob sein Biograf hervor: «Ihm wurde oft vorgeworfen, Freiburg unverteidigt übergeben und so der Berner Armee die linke Flanke geboten zu haben.»
Wie hätte er denn die Verteidigung vorbereiten sollen, da er doch Chef der Kontingente und Unterhändler zugleich war? Selbst wenn er die Zeit gehabt hätte, einen Plan zu entwerfen, wäre dieser durch die Desertion der Vogteien, das Zögern der Verbündeten, die Langsamkeit der bis mitten in die Schlacht andauernden wirren Verhandlungen zunichte gemacht worden. «In Erkenntnis der Nutzlosigkeit eines bewaffneten Widerstandes verhielt sich d’Affry sehr umsichtig und trug dazu bei, seiner Geburtsstadt die Übel des Krieges und insbesondere jene zu ersparen, die in der Krise dem Zusammenprall der Parteien zu erwachsen pflegen.» Dieses sehr ausgewogene Urteil äusserten de Stapfer und d’Usteri, zwei seiner Gegner, in ihrem Artikel in der Biographie universelle.199 M. Michaud schrieb: «Er machte sich die den Umständen angemessene Schmiegsamkeit zu eigen und erreichte einige Erleichterungen bei der Kapitulation Freiburgs.»200 Im Klartext: Er lieferte die Stadt den Franzosen aus und rettete sie so vor der Zerstörung. Sein Biograf Fred von Diesbach bemerkte dazu: «D’Affry wollte gerade aus dem Romont-Tor heraus, als ein Soldat auf ihn schoss, ihn aber zum Glück verfehlte. Die Unterhaltung geschah im Châtelet, einem kleinen Pavillon auf einer Anhöhe ausserhalb der Schutzwälle. D’Affry zeigte sich ungemein flexibel, höflich, bester Manieren und erlangte damit ehrenhafte Bedingungen. Nicht nur das, sondern er brachte den französischen General dazu, die ihm erteilten Weisungen etwas abzumildern. Es wurde vereinbart, dass die Stadttore von den Franzosen bewacht, die Freiburger Milizen entlassen, der Sieger aber die notwendigen Truppen in der Stadt belassen würde, um dort die Ordnung sicherzustellen, die Religion, das Besitztum und die Personen unangetastet zu lassen. Die zur Garnison gehörigen Berner und Sensler konnten mitsamt ihren Waffen die Stadt verlassen und waren an die Kantonsgrenze zu bringen.»201
Kaum war die Stadt am 2. März 1798 eingenommen, trat d’Affry für ein paar Tage in die provisorische Regierung ein, bis er dann wie alle bisherigen Adligen und Patrizier von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wurde. Gleich nach Einrichtung der neuen Behörden wurde Louis’ Sohn Charles zum Statthalter des Präsidenten ernannt. Sein zweiter Sohn, Guillaume, trat dem Unterbringungskomitee bei. Er sollte sich eine Art Uniform zurechtgeschneidert haben und diente dem republikanischen General als Fremdenführer. Wieder waren die d’Affrys in Freiburg obenauf. Fern war die Zeit, als sich die Familie nicht mehr am Ufer der Saane aufzuhalten wagte. Sie rächten sich. Bei der Restauration geisselte Jean de Montenach die Haltung des Mannes, der «die Unverfrorenheit besass, wenige Tage nach dem Einzug der Franzosen mit den äusseren Anzeichen eines Adjutanten des Revolutionsgenerals verbrämt durch Freiburg zu stolzieren.»202 Kann man den d’Affrys einen Vorwurf machen, dass sie die Franzosen, nachdem diese nun einmal da waren, mit offenen Armen empfingen? Den d’Affrys lag es fern, vor den Unbilden der Zeit zu kapitulieren, sondern sie stellten sich den Gegebenheiten, während sich die anderen Regierenden irgendwo im Nebel aufgelöst zu haben schienen. Der pragmatische d’Affry schreibt: «Gewaltsame Mittel können die Ängste verlängern, während sanfte sie mildern und verkürzen können.» Louis d’Affry hielt die Revolution für ein unvermeidliches Übel, dem man sich aus eigenem Entschluss stellen musste und das man nicht durch Sturheit oder Verfolgung eigener Vorstellungen verlängern darf, wie Marcus Lutz sagt. Immerhin erweisen ihm die Franzosen einen guten Dienst, indem sie ihn in seiner Eigenschaft als adliger Patrizier aus seinem Amt jagen. Auf diese Weise kompromittiert er sich nicht mit dem Regime der Helvetik, die bald auf Widerstand traf, und man vergisst sogar mehr oder weniger, dass er an ihren Anfängen teilhatte. Die Besteuerung in Höhe von zwei Millionen, die am 19. Germinal des Jahres VI (8. April 1798) den Patriziern auferlegt wurde, traf ihn hart: «Das Kapital von Louis d’Affry, der zur höchstbesteuerten ersten Klasse gehörte, wurde auf 12 375 Ecus und seine Einkünfte auf fast 2000 Ecus angesetzt. Er wurde mit 7000 Ecus besteuert – 24 000 Franken in unserer heutigen Währung. Seine in die zweite Klasse eingereihte Frau musste 2000 Ecus hinlegen.»203 Sein Schwiegervater von Diesbach musste 20 000 Ecus zahlen. Sein künftiger Schwiegersohn, Jean Antoine Vendelin de Castella de Villardin (1765–1831) aus dem Berlens-Zweig, ein reicher Grossgrundbesitzer und 1787 Mitglied des Grossen Rates, der am 20. April 1800 d’Affrys Tochter Marie Anne Elisabeth Françoise d’Affry (1775–1831) ehelicht, musste nicht weniger als 30 000 Ecus hinblättern, womit er zu dem am höchsten Besteuerten der Zeit wird.204 Nach Aussage seiner Schwägerin Marie besass er «ein ungeheures Vermögen».205
Zum Rückzug ins Privatleben gezwungen, verhielt sich Louis d’Affry vorläufig still und verbrachte seine Zeit zwischen seinem kleinen Gut in Prehl, seinem schönen Haus von Givisiez und der Residenz seiner Schwester Marie-Madeleine von Griesbach Torny (1739–1822) in Courgevaux.206 In dieser Zeit war seine Tochter Minette bei ihm, die er sehr liebte.207
Für seinen ältesten Sohn Charles Philippe d’Affry war es an der Zeit, eine Frau zu finden. Mademoiselle de Garville war in Betracht gezogen worden. Letztlich heiratete er mit Vertrag vom 17. Januar 1799208 und kirchlich am 28. Januar209 die am 11. März 1777 im Schloss Achiet-le-Petit (Artois) geborene, am 24. März gleichen Jahres in der Kirche von Achiet getaufte Marie Adélaïde Philippine Dorothée, genannt Mimi, von Diesbach Belleroche (1777–1828), Dame de Sainghin-en-Mélantois und Cournillens, Tochter von Marie Claire de Baudequin Sainghin und Graf François-Philippe Ladislas, Baron von Diesbach Belleroche, Generalleutnant im Dienste Frankreichs, davor letzter Oberst und Eigner des Regiments Diesbach, den die Revolution zur Rückkehr ins Schloss de la Poya in Freiburg veranlasst hatte. Die beiden Familien verbanden sich damit ein weiteres Mal, aber Ladislas stand der Eheschliessung keineswegs wohlwollend gegenüber. In seinen 1819 verfassten Notizen stellte er fest, Charles d’Affry «setzte gemeinsam mit seinem Herrn Vater und seiner Frau Tante einen Ehevertrag auf, der das Gegenteil dessen enthielt, was ich und meine Tochter verlangt hatten.» Er fügte hinzu: «Beiläufig sei bemerkt, dass die Familie d’Affry es durch ihr Können fertigbrachte, die Güter der Steinbrueck, die sich auf vierzigtausend Pfund Rente beliefen, mit denen meiner Tochter zu vereinen, die nach mir 23 000 betragen, die Erwerbungen, die sie von Belfaux de Sonneville machte, nicht eingerechnet, ebensowenig schon über 63 000 f Rente, die in zwei Eheschliessungen von der Familie Diesbach auf die Familie d’Affry übergegangen sind, abgesehen von all dem, was meine Tochter jährlich von ihren Einkünften erspart.»210 Sie hatten vier Kinder.
Im Grunde führte Louis d’Affry in der damaligen Zeit ein scheinbar recht ruhiges Leben am Rande der Umwälzungen. Nach und nach wird er wieder an der Rampe zur Bühne auftauchen.