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Der blinde Passagier 1

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Gilles Mauvoisin blickte vor sich ins Leere, er hatte rote Augen und eine gereizte Haut wie jemand, der viel geweint hat. Dabei hatte er gar nicht geweint.

Kapitän Solemdal hatte ihm gesagt, er solle sich in der Offiziersmesse bereithalten, wo er während der Schiffsreise seine Mahlzeiten eingenommen hatte.

Gilles wartete in dem langen schwarzen Mantel, der ihm nicht gehörte, eine schwarze Fischottermütze auf dem Kopf und seinen Koffer neben sich, wie im Gang eines Zuges kurz vor der Ankunft, in der Hand ein Taschentuch, weil er sich verkühlt hatte.

Und jetzt lag das Schiff im Frachthafen, ohne dass er auch nur das geringste bisschen von La Rochelle erspäht hätte. Vielleicht befand sich das Bullauge auf der falschen Seite? Kurz vor der Einfahrt war man an roten und schwarzen Bojen vorbeigekommen, die wohl die Fahrrinne markierten. Dann waren Tamarisken ganz nahe am Rumpf der Flint vorbeigeglitten, und die Landungsmanöver hatten begonnen, das Läuten des Telegraphen, halbe Fahrt, stopp, zurück, stopp, vor …

Noch immer war weit und breit nichts von der Stadt zu sehen. Während sich die Flint mitten im Hafenbecken zu drehen begann, erblickte er nur Geleise, Waggons, die wie ausrangiert wirkten, ein altes Schiff, dessen Schweißnähte mit Mennige überstrichen waren, dann eine kahle Böschung und Kühlhallen.

Es würde bald dunkel werden. Ja, es war schon beinahe dunkel. Ein gelblicher Nebel barg das letzte Sonnengleißen. Wieder Eisenbahngeleise, ein Fasswagen und dort, direkt vor Gilles, ganz nahe vor ihm, ein engumschlungenes Liebespaar neben einem Fahrrad, das an dem Waggon lehnte.

Kurz, dieses Liebespaar war das Erste, was Gilles Mauvoisin von La Rochelle zu sehen bekam. Der Mann drehte ihm den Rücken zu. Er trug einen gelben Regenmantel. Er hatte keinen Hut auf, sein braunes Haar war sehr dicht. Von dem Mädchen sah Gilles nur Haare, die ebenfalls braun waren, und ein weit geöffnetes Auge, das ihn anblickte, während ihre Lippen an die ihres Gefährten gepresst blieben.

In diesem nicht enden wollenden Kuss lag etwas Merkwürdiges, vor allem aber in diesem Auge, dessen Blick gewissermaßen zu Gilles in die Offiziersmesse vordrang.

Er zuckte zusammen. Die Flint hatte festgemacht, und Solemdal stand vor ihm, glatt rasiert wie immer, wenn er an Land ging, sein blondes Haar roch nach Kölnischwasser, und sein Oberkörper steckte in einer neuen Jacke mit goldenen Knöpfen.

»Wir sind so weit«, kündigte er an.

Und Gilles fand nicht die richtigen Worte. Er hätte ihm danken wollen. Er empfand überschwängliche Dankbarkeit gegenüber diesem schönen, lebenstüchtigen Kapitän, der ihn fast wie eine Mutter umsorgt hatte. Am liebsten hätte er sich ihm an die Brust geworfen. Aber Solemdal hätte das nicht gerngehabt. Linkisch drückte er ihm die Hand. Er zog die Nase hoch. Sein Schnupfen. Er wagte nicht, sein Taschentuch hervorzuziehen, das er in die Tasche gesteckt hatte. Seinen Koffer in der Hand, ging er zur Treppe.

Der Nebel hatte sich aufgelöst, nur ein letzter blauer Schleier mit violetten Schattierungen lag über dem Hafen. Auf hohen Masten brannte die Hafenbeleuchtung.

Ein Matrose erwartete Gilles auf dem Deck an der Reling, auf der dem Quai abgewandten Seite. Gilles machte einen großen Schritt, stieg die Lotsenleiter hinab und stand im Heck eines Bootes, den Koffer zu seinen Füßen.

Er wirkte so noch größer, magerer, schmaler. Sein allzu langer Mantel verstärkte diesen Eindruck, und auch die Tatsache, dass er Trauerkleidung trug. Die Ruder klatschten in das Wasser, das die Lichter der Lampen langgestreckt spiegelte, und jetzt, in dem Augenblick, in dem Gilles an Land springen wollte, sah er direkt vor sich den gelben Regenmantel wieder, den Rücken des Verliebten und das Auge des Mädchens. Man hätte meinen können, es sei immer noch derselbe Kuss.

Auf der Schulter des jungen Mannes erkannte Gilles jetzt eine Hand, kleine, zierliche Finger, und diese Finger begannen, an dem Gabardinestoff zu zerren.

Gilles hatte das Gefühl, als spüre er die Wärme der beiden Körper, als schmecke er den Speichel dieses Kusses, der nicht aufhören wollte, als streife das Haar über seine Wange. Die kleine Handbewegung bedeutete:

Lass mich los …

Der Verliebte, der dem Hafenbecken den Rücken zudrehte, drückte sie nur noch fester, und sie zuckte wie ein Vogel, der sich aus der Hand, die ihn gefangen hält, zu befreien versucht.

Sie sträubte sich offenbar heftig. Gilles sah nun das Gesicht fast ganz, ein so junges Gesicht, dass es ihn verlegen machte. Hörte er? Hörte er nicht? Jedenfalls war er sicher, dass sie sagte:

»Schau mal, der da!«

Sie zeigte auf ihn, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ungewöhnlich diese heimliche Landung, wie unerwartet seine lange Silhouette, seine Fischottermütze und sein lächerlich kleines Köfferchen wirken mussten.

Eingeschüchtert verfing er sich mit dem Fuß in Tauen, konnte sich gerade noch fangen, erreichte endlich das Ende des Quais, von wo aus er zwischen den Lagerhallen die Lichter der Stadt entdeckte und den fahlen Leuchtturm, der die Häuser am Quai Vallin so eigenartig überragt.

Am Anfang des Quais, an der Ecke gegenüber der Stadt aus Holz, befindet sich ein kleines, gemütliches Lokal mit einer hohen Theke aus Mahagoniholz, einigen Hockern, einigen Tischen, Kristallgläsern auf Wandregalen.

Raoul Babin thronte dort mit seinem ganzen Gewicht, den Sitz unter seiner Masse regelrecht zermalmend.

Er tat nichts. Er saß stundenlang so da, steckte sich eine Zigarre nach der andern an, und alle diese Zigarren hatten schließlich einen bernsteinfarbenen Kreis in den grauen Haaren seines Bartes und seines Schnurrbartes hinterlassen.

Kein Gast kam herein, ohne sich nach ihm umzudrehen. Die einen nahmen ihren Hut ab; andere berührten die Hutkrempe, wieder andere streckten ihm die Hand hin. Babin streckte die seine kaum aus, begnügte sich, die Fingerspitzen zu berühren.

In der Ville en Bois, der Stadt aus Holz entlang dem gegenüberliegenden Ufer, steht Babins Name an einem Dutzend Werkstätten, Schmieden und Sägewerken, Werkstätten für Netzreparatur und Motorenmontage, und im Hafenbecken, das Gilles gerade verlassen hatte, trugen zwanzig Fischdampfer an ihrem Schornstein das Pik-Ass, das Babins Markenzeichen war.

Jede Stunde mindestens kam ein Lastwagen vorbei, ein Lastwagen von Babin, der Salz, Roheis oder Kohle transportierte, und am Bahnhof sowie in La Pallice hatte Babin Lagerhäuser.

Von Zeit zu Zeit läutete das Telefon in der Bar Lorrain.

»Sagen Sie Monsieur Babin bitte, dass …«

Babin verließ seinen Platz nicht, gab seine Anweisungen, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen, und schaute dann seufzend nach draußen.

Er hatte die Stirn gerunzelt, als er sah, wie sich vom schwarzen Rumpf der Flint ein Boot löste. Als Gilles mit seinem Koffer in der Hand vorbeiging, zog er ein wenig den Vorhang zurück, um ihn besser zu sehen.

Aber er wusste genau, dass er sich nicht zu bemühen brauchte. Er wusste alles. Er kannte das Räderwerk der Stadt und des Hafens, als sei er ihr großer Uhrmacher gewesen. Tatsächlich näherte sich schon zehn Minuten später Solemdal, und Babin brauchte nur drei Schritte zu tun, um sich an der Türschwelle zu postieren.

»Solemdal!«

Der Norweger streckte die Hand aus.

»Gehen Sie zu Plantel? Der ist nicht vor acht Uhr zu Hause. Er ist nach Royan gegangen, um sich eines seiner Schiffe anzusehen, das einen Motorschaden hat. Was trinken Sie? Wer ist denn dieser junge Mann, den Sie an Land gesetzt haben?«

»Ein Franzose, dessen Eltern soeben in Trondheim gestorben sind und der dort völlig mittellos dastand … Gilles Mauvoisin …«

»Gaston!«, rief Babin, der den Wirt wie einen seiner Angestellten behandelte, einfach. »Rufen Sie doch mal in den Hotels an, um herauszubekommen, ob ein gewisser Gilles Mauvoisin …«

Am Turm der Großen Uhr stand Gilles im warmen Licht der Schaufenster und lauschte dem Französisch der Passanten. Er verstand tatsächlich alles, was sie sagten, und er drehte sich unwillkürlich neugierig nach ihnen um.

Kartenspieler hinter den Scheiben des Café Français … Ein Lederwarengeschäft … Dann, einige Häuser weiter, ein schlecht beleuchteter, großräumiger Laden, vollgestopft mit den verschiedensten Waren, Pakete mit Tauen, Laternen, Anker, Trosse; Teer- und Ölfässer; auch Lebensmittel, wie in einem Kolonialwarengeschäft. Man erriet, dass es im Innern stark und angenehm roch.

Auf dem Schaufenster: Witwe Éloi – Schifffahrtsbedarf.

Gilles, der auf dem Bürgersteig stehen geblieben war, nahm das alles in sich auf. Links im Laden war ein verglastes Büro, das sicherlich überhitzt war, denn der gusseiserne Ofen glühte rot. Eine große Frau, die ein bisschen wie ein Pferd aussah, mittleren Alters: Es war seine Tante, Gérardine Éloi, die Schwester seiner Mutter.

Sie trug ein Satinkleid mit Stehkragen, das mit einer goldgefassten Kamee geschmückt war. Sie sagte gerade etwas. Er hörte nicht, was sie sagte, versuchte, es ihr aber von den Lippen abzulesen. Ein Schiffskapitän, der mit übereinandergeschlagenen Beinen, seine Mütze auf den Knien, ihr gegenübersaß, nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Deine Tante … Éloi …«

Gilles schneuzte sich, aber er weinte immer noch nicht. Dabei machte dieser Schnupfen, den er einfach nicht loswurde, das Drama von Trondheim noch gegenwärtiger, ließ sogar dessen Geruch wieder aufleben.

Auch sein Vater war erkältet gewesen, als sie eines Abends, von den Lofoten kommend, wo sie die Tournee abgebrochen hatten, in Trondheim an Land gegangen waren. Sie hatten wie üblich ein kleines, billiges Hotel gesucht.

Sie standen alle drei auf der Straße, sein Vater, seine Mutter und er, mit dem sperrigen Gepäck. Vor ihnen zwei schwach beleuchtete Türen: zwei Hotels. Sie hatten die Wahl. Es gab keinen Grund, eher in das eine als in das andere zu gehen.

Leider hatte eines der Hotels eine dicke weiße Kugel als Aushängeschild, und Gilles’ Vater hatte, nach seiner Frau sehend, gemurmelt:

»Erinnert dich das nicht an etwas?«

Aber musste nicht jedes beliebige Hotel Erinnerungen in ihnen wecken? Seitdem das Paar La Rochelle verlassen hatte, noch bevor sie heirateten, waren sie unaufhörlich von Hotel zu Hotel, von möbliertem Zimmer zu möbliertem Zimmer gezogen.

Gilles wusste, obwohl er La Rochelle noch nie betreten hatte, dass er nur in die Rue de l’Escale zu gehen brauchte, eine alte Straße mit unregelmäßigem Kopfsteinpflaster, zwischen dem Gras herauswuchs, und mit die Bürgersteige und Arkaden hoch überragenden Häusern. Am Haus Nummer siebzehn war früher ein Kupferschild angebracht gewesen, auf dem stand: Monsieur und Madame Faucheron, Preisträger des Konservatoriums.

In diesem Haus wurde in allen Zimmern musiziert, denn die Eltern Faucheron hatten ein Privatkonservatorium.

Ein junger, magerer Mann, ein gewisser Gérard Mauvoisin, kam täglich vom Land, aus Nieul-sur-Mer, mit seinem Geigenkasten unterm Arm hierher.

Abends erwartete ihn eine der Töchter Faucheron, Élise, unter den Arkaden, und sicherlich standen sie dort ebenso eng aneinandergeschmiegt reglos im Dunkel wie das Paar, das Gilles bemerkt hatte, als er an Land gegangen war.

Sie hatten sich nach Paris abgesetzt. Gérard Mauvoisin hatte in Kinoorchestern gespielt, selten bei Konzerten, dann ging es von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel …

Ob in La Rochelle wohl jemand wusste, dass die Mauvoisins im Zirkus und in den Varietés mit einer Zauberdarbietung auftraten, Élise in einem rosafarbenen Trikot …

Denn Gilles sah seine Mutter immer in dem rosafarbenen Trikot vor sich, das ihre breiten Hüften betonte, wie sie seinem Vater, der im Frack auf der Bühne stand, die glitzernden Requisiten für seine Nummer reichte …

Trondheim … Die weiße Kugel des Hotels …

»Hör zu, Élise, du solltest ein eigenes Zimmer nehmen … Ich werde mich mit einem Grog und zwei Aspirintabletten ins Bett legen … Ich werde die ganze Nacht über schwitzen. Das ist die einzige Möglichkeit, um mit diesem Schnupfen fertigzuwerden …«

Aber nein! Man musste aufs Geld sehen!

»Es ist mir lieber, wenn ich bei dir bin …«

Im Zimmer stand, wie in den meisten norwegischen Häusern, ein mächtiger cremefarbener Kachelofen.

»Patron, machen Sie mir ein anständiges Feuer … Und bringen Sie heißen Grog herauf.«

Mauvoisin hatte sich einen Schnurrbart stehenlassen, weil sich das so für einen Zauberkünstler gehörte. Er färbte ihn, nicht aus Koketterie, sondern weil ein Zauberkünstler nicht alt erscheinen darf.

Gilles sah diesen blauschwarzen Schnurrbart auf dem Weiß des Kopfkissens wieder vor sich, und er sah die rote Nase seines Vaters.

»… Nacht, Papa … Nacht, Mama …«

Am nächsten Morgen war seine Mutter tot, sein Vater kämpfte noch mit letzter, mit allerletzter Kraft gegen den Erstickungstod, hervorgerufen durch die Kohlengase des Kachelofens. Er konnte gerade noch stammeln:

»Deine Tante … Éloi …«

Gilles hatte sich auf einen Poller an der Anlegestelle für die Fährverbindungen zur Île de Ré gesetzt und betrachtete die Schaufenster und in dem blaugrünen Licht des verglasten Büros die verschwommene Silhouette seiner Tante.

Er kannte noch viele andere Leute, die er noch nie gesehen hatte, Leute, von denen seine Eltern gesprochen hatten, und Straßennamen, Namen von Geschäften.

»Erinnerst du dich an den Bäcker, der …«

Er zuckte zusammen. Ein junges Mädchen mit sehr kurzem Rock ging an ihm vorbei, zuckte ebenfalls zusammen und drehte sich um, um ihn mit großen neugierigen Augen anzusehen. Es war das Mädchen von vorhin, an einem Waggon, am Hafenbecken …

Sie drehte sich dreimal um und verschwand dann in den Arkaden unter der Großen Uhr, der Grosse Horloge.

Gilles wusste nicht, dass man zur selben Zeit in allen Hotels der Stadt seinen Namen nannte.

»Mauvoisin? … Wie die Autobusse? … Nein … Wir haben diesen Namen nicht …«

Ein Lagerverwalter im grauen Kittel ließ die Schaufensterläden der Firma Éloi herunter, während die Tür ein Stück offen blieb, denn der Kapitän des Überseedampfers war noch nicht gegangen. Auch das Lederwarengeschäft, etwas weiter weg, machte zu.

Ein großer grün gestrichener Autobus fuhr vorüber, und Gilles versetzte es einen kleinen Schock, als er seinen Namen auf der Karosserie las: Cars Mauvoisin.

Sicherlich sein Onkel, der Bruder seines Vaters, der ein Transportunternehmen aufgemacht hatte.

Gilles brauchte nur die Straße zu überqueren …

Guten Tag, Tante, ich bin Ihr Neffe Gilles … Papa und

Mama sind …

Allein bei dem Gedanken daran überkam ihn Panik. Nie hatte eine Stadt ihm Angst gemacht, ihm, der in seinem Leben so viele Städte gesehen hatte, doch La Rochelle machte ihm Angst.

Morgen …, nahm er sich vor.

Er hatte noch zweihundert Franc in der Tasche. Die Kleider, die er trug, gehörten dem Sohn seines Zimmervermieters in Trondheim.

»Als mein Sohn um seine Mutter trauerte, verstehen Sie … Sie sind wie neu …«

Und ein Schiffskapitän, Solemdal, hatte ihn kostenlos befördert, hatte ihn heimlich an Land gesetzt, denn er war nicht berechtigt, Passagiere zu befördern.

Gilles war nun schon über eine Stunde an Land, und er kannte erst ein Stück des Quais, das düstere Hafenbecken, an dessen äußerstem Ende er in der Dunkelheit die beiden alten Wehrtürme erblickte, hinter denen die Weite des Meeres begann, von wo er gekommen war. Er stand auf und ging, seinen Koffer in der Hand, bis zur Großen Uhr. Da gerade Geschäftsschluss war, strömte unter dem Gewölbebogen, in dem ein Wind blies, die Menge hindurch, diese Menge, die Französisch sprach, sodass er unaufhörlich zusammenzuckte, weil er glaubte, man hätte ihn angesprochen.

Er bräuchte nur einige Schritte zu tun, und schon wäre er in der Stadt. Er sah die beleuchteten Auslagen der Kaufhäuser: Prisunic, Nouvelles Galeries …

Lieber lief er wieder zu den Quais. Er war nicht an Städte gewöhnt, wo es weder Zirkus noch Varietés gab. In allen Städten, in die sie kamen, wussten sie im Voraus, wo sie absteigen würden. Überall, in einer kleinen Straße beim Theater, gab es ein Hotel, wo man Bekannte traf, chinesische Jongleure oder Musikclowns, die Truppe marokkanischer Seiltänzer oder die Frau mit den dressierten Tauben.

Man hatte nicht das Gefühl, dass man in einer anderen Gegend oder einem anderen Land war. Überall hingen die gleichen Fotos an der Wand oder steckten im Rahmen der Spiegel. Und auch das billige Restaurant war das gleiche, man verewigte sich dort für die, die nach einem kamen.

Gilles gelangte zu einem düsteren Teil des Quais, der mit Bäumen bestanden war, und erreichte einen winzigen Platz mit einem riesigen Pissoir.

Er befand sich am äußersten Ende des Hafens, in der Nähe der Wehrtürme, in der Nähe des Fischmarkts, den er zwar nicht sah, dessen Geruch ihm aber in die Nase stieg. Er sah ein Lokal mit einigen Stufen davor, einem schmalen Fenster, einem mit Sägemehl bedeckten Fußboden.

Er trat schüchtern ein.

»Verzeihung, Madame … Vermieten Sie Zimmer?«

Und die dicke Jaja, die man auf allen Fischmärkten kannte, die Frau, die ihre Strümpfe mit einer roten Schnur unterm Knie befestigte und bretonische Holzschuhe trug, sah ihn mit gerührter Verwunderung an.

»Komm ruhig rein, junger Mann … Du hast ja einen komischen Hut auf …«

Er drehte seine Fischottermütze zwischen den Fingern.

»Du willst also ein Zimmer … Für eine Nacht oder für den ganzen Monat?«

»Für eine Nacht … Vielleicht auch für zwei oder drei Nächte …«

Ihm wurde mulmig bei dem Gedanken an seine zweihundert Franc, an den Augenblick, wo er seiner Tante gegenübertreten müsste.

»Wir werden sehen, wo wir dich unterbringen, mein Engel … Hast du noch nicht zu Abend gegessen? …«

Gilles konnte nicht wissen, dass Jaja alle Leute duzte, sogar den großen Babin. Es war so etwas wie ein Privileg.

»Du kommst wohl von weit her? … Aber du bist ja ganz durchgefroren, mein Junge … Warte, ich bring dir ein Stärkungsmittel …«

Er hätte gerne nein gesagt. Er hatte noch nie Schnaps getrunken. Sie füllte ein großes Glas mit Hochprozentigem.

»Ich hoffe, du wirst hier essen? … Heute Abend gibt es Heringe … Mehr verrate ich nicht … Bist du in Trauer? … Ist nicht weiter verwunderlich, du kommst ja am Tag vor Allerheiligen …«

Er ließ alles mit sich geschehen, wie ein Kind. Denn er war erst neunzehn Jahre alt und hatte nie so wie andere Leute im Leben gestanden.

»Dann hast du also Familie in La Rochelle? … Ich frage dich nicht nach dem Namen … Weiß sie Bescheid über deine Ankunft? … In Norwegen ist es bestimmt schweinekalt! …«

Auf jeden Fall war ihm noch nie in seinem Leben so warm gewesen. Das Restaurant, das morgens brechend voll war, war um diese Zeit menschenleer. Nur ab und zu kam ein Fischer, um im Stehen einen zu trinken und ein paar Worte mit Jaja zu wechseln, die ihren Fremden wie ein zartes Küken umsorgte.

»Aber ja doch … Noch ein Glas Cidre! … Ich lasse ihn aus der Bretagne kommen … Die meisten Matrosen hier sind Bretonen … Deshalb, verstehst du …«

Trotzdem lag in ihrem Blick die gleiche Verwunderung wie in den Augen des jungen Mädchens mit dem Kuss. Gilles war nicht wie die andern. Angefangen bei seinem Mantel, der ungewöhnlich lang und eng war … Er war so zurückhaltend, so schüchtern …

»Ich wette, dass du nie die Schürzenzipfel deiner Mutter losgelassen hast …«

Das stimmte. Aber nicht ganz so, wie sie dachte. Seine Wiege war ein Weidenkorb gewesen, der ebenso häufig in den Zügen wie zwischen den vier Wänden eines Zimmers stand, und es war vorgekommen, dass er als Säugling zwischen zwei Bühnenauftritten von einem Clown oder dem diensttuenden Feuerwehrmann beaufsichtigt wurde.

»Los! Es ist Zeit zu schlafen … Komm, ich werde dir dein Zimmer zeigen …«

Der Weg war so kompliziert, über enge Treppen und durch ineinander verschachtelte Korridore, dass Gilles beim Einschlafen dachte, er würde nie wieder zurückfinden.

Die Tür war geschlossen, doch man sah unten einen Lichtstreif. Babin wusste, dass die Witwe Éloi um diese Zeit ihre Buchführung machte, und klopfte.

»Wer ist da?«

»Babin …«

Sie öffnete. Der Laden lag im Dunkeln. Nur der Glaskäfig war beleuchtet.

»Haben Sie ein Schiff, das heute Nacht in See sticht, Monsieur Babin?«

»Nein, nein … Ich kam gerade vorbei … Und da habe ich mir gesagt …«

Madame Élois Blick bedeutete:

Was ist denn in den alten Affen gefahren?

Sie lächelte breit.

»Es ist mir immer ein Vergnügen …«

»Und, gibt’s nichts Neues?«

Er hatte sich neben den glühend roten gusseisernen Ofen gesetzt. Sie hatte ihre Brille abgenommen, die sie nie in der Öffentlichkeit trug.

»Was meinen Sie?«

»Nichts … Hm …«

Und sie fragte sich angstvoll:

Warum ist er heute Abend hier hereingekommen?

Raoul Babin hingegen, der eine so wichtige Persönlichkeit war, dass er sich erlauben konnte, an jedem Ort seine Zigarre im Mund zu behalten, sagte sich, während er die Witwe beobachtete, die auf der Hut war:

Ob sie zufällig …

Gilles Mauvoisin war in keinem Hotel der Stadt gemeldet. Bei wem konnte er wohl abgestiegen sein? Ob Gérardine, wie die Reeder sie unter sich nannten, eine Komödie spielte?

»Geht es Bob gut?«

Bob, Madame Élois Sohn, war der größte Taugenichts von La Rochelle, der im Zustand der Trunkenheit die Passanten mit seinem Wagen anfuhr.

»Es geht ihm sehr gut … Er ist für einige Tage in Paris …«

»Na wunderbar! Also …«

»Also was?«

»Nichts … Ich habe nur kurz vorbeigeschaut, um mich nach Ihnen zu erkundigen … Das hätten wir …Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend … Übrigens … Der Teer, den Sie mir letzte Woche geliefert haben … Aber es lohnt nicht, dass wir darüber reden … Mein Werksleiter hat Ihnen sicher einen Brief geschrieben …«

Wo zum Teufel mochte der junge Mauvoisin hingekommen sein?

Babin ging schwerfällig und langsam über die Bürgersteige und kaute dabei auf seiner Zigarre herum. Es war die unangenehme Stunde, zu der er gezwungen war, nach Hause zu gehen.

Ihm graute vor seinem Haus und seiner Familie. Brummend setzte er sich an den Tisch und sah die Seinen mit großen, übel gelaunten Augen an.

Ohne auf den Nachtisch zu warten, ging er in sein Büro hinüber und nahm den Telefonhörer ab.

»Hallo! … Sind Sie es, Armandine? … Ja, hier ist Raoul … Falls Sie zufällig einem lang aufgeschossenen, mageren jungen Mann begegnen sollten, schwarz gekleidet, mit einer Fellmütze auf dem Kopf … Ich kann Ihnen am Apparat nichts erklären … Gewiss doch … Ja, ich möchte … Es ist sehr wichtig … Ich wäre Ihnen nicht böse, wenn … Verstehen Sie? … Guten Abend, Kleines … Sind Sie wenigstens allein?«

Er sagte das aus Höflichkeit, denn er wusste genau, dass er die Gunst der schönen Armandine mit mindestens zwei oder drei Personen teilte.

Ankunft Allerheiligen

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