Читать книгу Ankunft Allerheiligen - Georges Simenon - Страница 4

2

Оглавление

Na, mein Junge, du hast wohl keine Angst, dass Jaja was zu sehen kriegt!«

Gilles schreckte aus dem Schlaf hoch und merkte, dass er nackt war. Er hatte sich, weil er keine saubere Nachtwäsche dabeihatte, so ins Bett gelegt und sich aufgedeckt.

»Eine richtige Babyhaut …«, behauptete die Alte und hob die Socken vom Boden auf, die sie mit einer Handbewegung umstülpte. »Hast du keine anderen? … Bleib noch einen Augenblick im Bett liegen …«

Und als sie zurückkam, eine Socke über die geballte Faust gespannt, hielt sie in der anderen Hand eine Nadel mit einem schwarzen Faden.

»Ist es dir peinlich, dich vor mir anzuziehen? Selbst jetzt noch, wo ich dich gesehen habe? Gut, ich gehe runter … Wenn du fertig bist, kommst du zum Frühstücken …«

Sie ließ ihn zwei Dutzend Austern essen und Weißwein trinken, und er traute sich nicht abzulehnen, aus Furcht, ihr Kummer zu machen oder sie auch nur zu verärgern. Währenddessen beobachtete sie ihn so aufmerksam, dass er verlegen den Blick aus dem Fenster schweifen ließ.

»Das ist kein Tag, um dich deiner Familie zu präsentieren … Außerdem ist sie bestimmt auf dem Friedhof … Zu Mittag gibt es Hasenpfeffer … Magst du das?«

Erlebte er später je wieder Momente wie diese? Und dabei hatten sie nichts Außergewöhnliches an sich. Er betrachtete den kleinen Platz und hinter dem großen Pissoir aus Blech die Fischerboote, die ihr Segel im Sprühregen gespannt hatten. Es roch nach Schnaps und gerösteten Zwiebeln. Jaja hatte kräftige Arme, die so rosig waren, dass es beinahe künstlich wirkte.

Sie hatte ihn so sehr von dem Eindruck überzeugt, er sei ein Kind, dass er draußen selbstvergessen einen Stein wegkickte und sich dann schnell umdrehte, um sich zu vergewissern, dass man ihn nicht dabei beobachtet hatte.

Die Straßen waren leer. Dann und wann eine schwarz gekleidete alte Frau, die eine Chrysantheme in einem Topf oder einen spärlichen Blumenstrauß dabeihatte. Gilles fragte nicht nach dem Weg, und er brauchte annähernd eine halbe Stunde, bis er die Rue de l’Escale gefunden hatte, die ganz in der Nähe war. Bei der Hausnummer siebzehn sah er das große Tor mit dem Rundbogen, das man ihm so oft beschrieben hatte, aber statt wie früher dunkelgrün war es jetzt holzfarben lasiert. Eine kleinere Tür, in eine der Torfüllungen eingelassen, stand halb offen, und er erblickte einen Hof, ein Beet mit schwarzer Erde, zwei oder drei grüne Pflanzen, von denen Wasser tropfte.

Ohne zu überlegen, ging er an eines der mit Musselinvorhängen bespannten Fenster. Er versuchte eine ganze Weile lang, durch den Vorhang zu spähen. Plötzlich begriff er, dass das, was er für das Spiegelbild seines Gesichts in der Fensterscheibe gehalten hatte, ein fremdes Gesicht war, das ihn von innen verwundert anstarrte. Es war ein sehr altes Gesicht, das ihm ungewöhnlich blass vorkam, ob Mann oder Frau, war nicht zu erkennen, und er ging ganz beschämt weg.

Er trat in die Kathedrale, wo das Hochamt schon halb vorüber war, und blieb bis zum Schluss. Dann sah er die Gläubigen vorüberziehen und sagte sich, dass er seine Tante Éloi suche, doch es war eher das junge Mädchen vom Vortag, das er gern wiedergesehen hätte.

Die Stadt ängstigte ihn. Er wusste nicht, wohin er gehen noch was er tun sollte, und er wagte es nicht, allein in ein Café zu gehen. Man drehte sich nach ihm um, und er hatte beschlossen, seine Fischottermütze in die Tasche zu stecken. Doch genügte nicht schon sein langer Mantel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken?

Erleichtert kehrte er zu Mittag, ja sogar noch etwas früher, zu Jaja zurück, wo sein Gedeck am Fenster bereitlag.

»Hast du deinen Pelz verloren?«

Er zeigte ihn ihr in der Manteltasche, zog ihn heraus, und sie drehte und wendete ihn.

»Er ist echt … Ich frage mich, ob es für einen Kragen reichen würde …«

Kerzen brannten an den meisten Gräbern, und bei jedem Luftstoß zogen sich die kleinen Flammen, als seien sie lebendig, nach derselben Seite in die Länge, schienen im Begriff zu verlöschen und richteten sich dann wie durch ein Wunder wieder auf. Auf dem nassen Kies der Gehwege gingen die Leute mit gedämpfteren Schritten als gewöhnlich, sprachen halblaut.

Gilles las die in Stein gemeißelten Namen, und es waren einige darunter, die er von seinen Eltern her kannte: Vitaline Basse, unter anderem, eine Freundin seiner Mutter, von der sie oft gesprochen hatte und die einen Buckel hatte.

… im Glauben an Gott im Alter von 32 Jahren verstorben.

Betet für sie.

Gilles wollte schon einige Blumen auf das Grab der Freundin seiner Mutter legen, denn es waren weder Blumen noch Kerzen drauf. Er hatte oft solche Einfälle. Aber dann überlegte er es sich anders. Er müsste aus dem Friedhof gehen, nach dem Preis der Chrysanthemen fragen. Die Blumenfrau würde ihn verwundert anschauen. Auf dem Rückweg würde er linkisch seine Blumen in der Hand halten. Und wenn irgendjemand ihn sähe, wie er seinen Blumenstrauß auf das Grab von jemandem legte, den er kaum kannte?

Er blieb vor einem der imposantesten Grabmäler stehen, einer riesigen Gruft, in die man aufrecht hineingehen konnte. Der Stein war noch ganz weiß, und ein einziger Name war hineingemeißelt: Octave Mauvoisin.

Es war der Bruder seines Vaters, der Besitzer der Autobusse, und durch die Inschrift erfuhr Gilles, dass sein Onkel vier Monate zuvor gestorben war.

Langsam würgte ihn ein Gefühl unerklärlicher Angst. Er irrte auf dem Friedhof herum, wie er am Morgen in der fast menschenleeren Stadt herumgelaufen war, die Zahl der Toten erdrückte ihn. Sein Vater und seine Mutter waren oben im Norden gestorben, und niemand würde Blumen auf ihrem Grab niederlegen. Sein Onkel Mauvoisin, den man ihm immer kräftig wie einen Bären beschrieben hatte, war tot. Vitaline Basse, die Bucklige, war tot. Und diese Léontine Poupier mit dem Aussehen einer alten Jungfer, deren Porträt man auf einem kranzgerahmten Porzellanmedaillon sah, war sie nicht das Kindermädchen gewesen, das seine Mutter großgezogen hatte?

Er zuckte zusammen, blieb unbeweglich hinter einer Zypresse stehen, denn er hatte gerade, zehn Meter von ihm entfernt, seine Tante Éloi erkannt, begleitet von zwei jungen Mädchen, die seine Cousinen sein mussten. Eine der beiden, die ältere, schielte. Die andere, eine kleine Pummelige, schien nach jemandem Ausschau zu halten, vielleicht nach einem Liebhaber?

Man spürte, dass die drei Frauen wichtige Persönlichkeiten waren. Ein Gärtner, der sie begleitete, stellte Blumenstöcke vor dem Grab ab. Gérardine Éloi gab, ohne sich zu bücken, Anweisungen, wie in ihrem Laden. Dann, als alles geschmückt war, deutete sie das Kreuzzeichen an und entfernte sich, immer noch gefolgt von ihren beiden Töchtern, die ein wenig Abstand hielten, und auf dem ganzen Weg drehten sich die Leute nach ihnen um, um sie zu grüßen.

Warum folgte Gilles ihnen? Er wollte nicht mit ihnen sprechen. Er hatte noch genug Geld, um eine, vielleicht auch zwei Nächte bei Jaja zu verbringen.

Als er durch das Friedhofstor ging, sah ihn jemand so hartnäckig an, dass er rot wurde, vor allem da es sich um eine sehr schöne Frau handelte, die in einen Pelzmantel gehüllt war.

Er war gerade im Begriff vorbeizugehen, als sie ihn ansprach, und Gilles’ Knie zitterten.

»Verzeihung, Monsieur … Entschuldigen Sie, falls ich mich irre … Aber sind Sie nicht ein Mauvoisin, sicherlich Gérards Sohn? …«

Er nickte nur.

»Mein Gott! Ich beobachte Sie jetzt schon eine ganze Weile. Ich war eine Freundin Ihres Onkels. Wussten Sie, dass er tot ist? Ich habe Ihren Vater ein wenig gekannt, damals … Als ich Sie sah … Diese Ähnlichkeit … Wie kommt es, dass Sie in La Rochelle sind?«

»Mein Vater und meine Mutter sind gestorben«, antwortete er wie jemand, der seine Lektion aufsagt.

Aus dem Nerzmantel stieg eine Parfümwolke auf und hüllte ihn ein.

»Sind Sie bei Verwandten abgestiegen? … Bei Ihrer Tante Éloi, sicherlich?«

»Noch nicht … Ich … ich habe die Nacht in einem kleinen Hotel verbracht …«

»Tragen Sie keine Kopfbedeckung bei dieser Kälte?«

Er wagte nicht einzugestehen, dass er sie in der Tasche stecken hatte, und trat von einem Bein aufs andere.

»Sie verübeln mir doch nicht die Störung … Vielleicht darf ich Sie zu einer Tasse Tee zu mir einladen? … Ach, da kommt ja gerade ein Taxi … In zwei Minuten …«

Es war vorgekommen, dass er solche Frauen in den Theaterlogen gesehen hatte, doch er hatte nie mit ihnen zu tun gehabt. Wenn sie wirklich seinen Vater gekannt hatte, musste sie um die vierzig sein. Doch sie wirkte noch jung, besaß eine gedämpfte, diskrete Anziehungskraft, während Gilles’ Mutter etwa im selben Alter schon auf jegliche Koketterie verzichtet hatte.

»Dann sind Sie also allein nach La Rochelle gekommen …«

Das Taxi war erfüllt von ihrem Parfüm, und ihre behandschuhte Hand ruhte zart auf dem Arm des jungen Mannes, als Zeichen ihres Beileids.

»Und niemand hat Sie am Bahnhof erwartet! … Niemand hat Sie aufgenommen! … Wenn ich nicht eine alleinstehende Frau wäre, würde ich Ihnen liebend gern meine Gastfreundschaft anbieten … Gewiss, sobald Ihre Tante erfährt, dass Sie hier sind … Ich habe den Eindruck, dass ich sie vorhin auf dem Friedhof gesehen habe … Eine große, hagere Frau mit einem autoritären Gesicht …«

»Ich weiß …«

»Kennen Sie sie?«, fragte sie lebhaft.

Er musste gestehen:

»Ich habe sie in ihrem Laden gesehen …«

»Aber gewiss doch! Nehmen Sie eine Tasse Tee und etwas Gebäck … Machen Sie sich’s bequem … Stellen Sie sich vor, ich habe Ihren Vater gekannt, als er in Ihrem Alter war … Er ist viel herumgereist, nicht wahr?«

Sie hatte ihren Mantel ausgezogen, unter dem sie ein sehr enges Seidenkleid trug, das ziemlich üppige Formen betonte.

»Jeanne! Servieren Sie den Tee bitte im kleinen Salon …«

Es war lau und mild in dieser duftenden Wohnung, die voller Samt und Seide, voller Nippes und Porzellanfigürchen war. Selbst das Telefon verbarg seine Zweckmäßigkeit unter der Krinoline einer Marquise mit feinem Porzellangesicht. Es läutete gerade.

»Hallo … Aber ja, mein Freund … Ja … Ja …«

Sie lächelte glücklich, während sie sprach, und musterte Gilles Mauvoisin.

»Aber ja … Wenn Sie wollen … Bis gleich …«

Und sie rief von neuem das Zimmermädchen.

»Noch ein Gedeck, Jeanne …«

Sie erklärte Gilles:

»Einer meiner Freunde … Er kommt vorbei, um mich zu besuchen … Er ist auch ein Freund Ihres Onkels … Aber nein! Ich lasse Sie nicht gehen … Er wird nur zu glücklich sein, Ihre Bekanntschaft zu machen …«

Schon hörte man, wie unten auf der Straße ein Auto hielt. Gilles stellte mit einer gewissen Verwunderung fest, dass der angekündigte Freund mit einem eigenen Schlüssel hereinkam. Er klopfte, als Hausfreund, direkt an die Tür des Boudoirs.

»Kommen Sie herein, mein Freund … Ich habe eine Überraschung für Sie … Raten Sie, wen ich Ihnen zu meiner Freude vorstellen darf?«

Raoul Babin sah Gilles einen Augenblick lang an und schüttelte dann den Kopf.

»Mauvoisin! … Ein Neffe von Octave Mauvoisin! … Gérards Sohn … Sie sehen, dass ich ein besseres Personengedächtnis habe als Sie … Ich war auf den Friedhof gegangen, zum Grab unseres armen Freundes …«

Mit gerunzelter Stirn fragte Babin, der die Hand ausgestreckt hatte:

»Sind Sie etwa Gilles Mauvoisin?«

»Ja, Monsieur …«

»Aber dann …«

Er zog eine Komödie ab, drehte sich nach der jungen Frau um, legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.

»Aber, mein junger Freund … Wann sind Sie denn in La Rochelle angekommen?«

»Gestern … Ich bin mit einem norwegischen Frachtschiff gekommen, mit der Flint.«

»Die kenne ich umso besser, als sie gerade Kabeljau auslädt, den ich in Trondheim bestellt habe … Solemdal ist ein alter Kamerad von mir … Ich frage mich nur, woher Sie gewusst haben … Sie haben den Notar noch nicht aufgesucht?«

»Welchen Notar?«

»Sie werden doch nicht behaupten wollen, dass Sie nicht Bescheid wissen?«

Am erstauntesten war zur selben Zeit Jaja, die neben dem Ofen vor sich hin döste, eine rote Katze auf den Knien. Sie hatte zwar gerade noch ein großes Auto auf dem Platz halten und zwei Männer aussteigen sehen, war aber nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte für sie sein, und hatte die Augen aufgerissen, als sie diejenige der beiden Personen erkannte, die die Tür aufstieß.

»Was will denn der hier?«, brummte sie und stieß die Katze weg, um aufzustehen. »Ja wie, Monsieur Plantel, kommt man neuerdings zu Mutter Jaja, um einen zu trinken?«

Der Besucher, den Kapitän Solemdal begleitete, war in der Tat niemand anderes als Edgar Plantel persönlich, der Reeder der Firma Basse et Plantel, das silbergraue Haar glatt über die Schläfen zurückgekämmt, mit rosigem Gesicht, einen Spazierstock mit goldenem Knauf in der Hand.

»Sagen Sie mal, Jaja … Sie haben anscheinend einen jungen Mann hier, der gestern an Land gegangen ist …«

»Das ist gut möglich …«

»Ist er im Haus?«

Monsieur Plantel blieb stehen, er sah in seinem prachtvollen Pelz so sehr nach Grandseigneur aus, dass das Zimmer zu klein für ihn wirkte.

»Was wollen Sie von meinem Jungen?«

»Ist er ausgegangen? Wissen Sie nicht, wohin er gegangen ist?«

»Ich kümmere mich nicht um Dinge, die mich nichts angehen … Gehört er etwa zu Ihrer Familie? … Wenn ja, dann scheint er es nicht eilig zu haben, Sie aufzusuchen …«

Plantel zögerte. Er war kurz davor, sich mit Solemdal in eine Ecke des Zimmers zu setzen und zu warten. Doch jeden Moment konnten Fischer hereinkommen, Matrosen von seinen Schiffen. Er machte Solemdal ein Zeichen, und beide setzten sich in den Wagen. Der Chauffeur drehte sich um und wartete auf eine Anweisung.

»Wir bleiben hier …«

Seit dem Vorabend, seit Solemdal, der in Plantels Palais zu Abend gegessen hatte, ihm zufällig von seinem Passagier erzählt hatte, suchte man Gilles überall. Und wieder hatten alle Hotels der Stadt einen Telefonanruf bekommen.

Zufällig hatte mittags ein Matrose der Flint Gilles bei Jaja gesehen und es seinem Kapitän erzählt.

»Ich frage mich, ob er schon bei Gérardine war …«

Armandine hatte die Lampen angezündet, und die Atmosphäre in ihrem Boudoir wurde noch einschmeichelnder.

»Also, mein junger Freund … Sie gestatten doch, dass ich Sie so nenne, denn ich könnte ja Ihr Vater sein … Also, sagte ich, Sie haben demnach keine Mitteilung, keine Benachrichtigung erhalten … Sie haben auch die Anzeigen nicht gelesen, die in den Zeitungen der ganzen Welt, oder fast, erschienen sind … Ich frage mich … Hören Sie, es steht mir nicht zu, Ihnen mehr zu sagen … Sie dürfen mir nicht böse sein, dass ich Sie so neugierig mache, aber Sie werden das nachher verstehen … Wollen Sie bitte anrufen, liebe Freundin, um zu erfahren, ob Maître Hervineau zu Hause ist? … Meldet sich jemand? … Geben Sie ihn mir …«

»Hallo! … Sind Sie es, Hervineau? … Störe ich Sie? … Die Gicht? … Umso besser … Aber nein! Ich sage nur umso besser, weil ich Sie dadurch an Allerheiligen zu Hause antreffe … Stellen Sie sich vor, ich habe hier … Nein, ich bin nicht zu Hause … Ich habe hier, sagte ich, einen jungen Mann, der Gilles Mauvoisin heißt … Ganz richtig … Vollkommen sicher … Das habe ich mir auch gedacht … Wir sind in wenigen Minuten bei Ihnen …«

»Sie werden ihn doch seine Tasse Tee austrinken lassen?«, schaltete sich Armandine ein, als Raoul Babin seinen schweren Mantel anzog.

»Hervineau erwartet uns … Wenn Sie ahnten, welche Nachricht dieser junge Mann aus dem Munde des ehrenwerten Notars erfahren wird! … Kommen Sie, mein Freund … Und erinnern Sie sich daran, dass unsere Freundin hier die Erste gewesen ist, die Sie in dieser Stadt empfangen hat …«

Er konnte nicht ahnen, dass Gilles innerlich erwiderte:

Stimmt gar nicht! Das war Jaja …

Und ohne zu wissen, warum, erinnerte er sich voller Rührung an die Socken, die sie neben seinem Bett gestopft hatte.

»Mein Wagen steht vor der Tür … Hervineau wohnt in der Rue Gargoulleau …«

Da es aufgehört hatte zu regnen, flanierten in der Abenddämmerung die sonntäglichen Spaziergänger langsam durch die Straßen. Man fuhr in eine dunkle Hofeinfahrt, an deren hinterem Ende ein altes Privatpalais stand.

Die Besucher wurden erwartet, denn ein Diener führte sie sogleich in eine Bibliothek, wo bei ihrem Erscheinen jemand Anstalten machte aufzustehen.

»Machen Sie sich keine Umstände … Schonen Sie Ihr Bein … Monsieur Mauvoisin, ich habe das Vergnügen, Ihnen Maître Hervineau, den Notar Ihres verstorbenen Onkels, vorzustellen …«

Es war ein unscheinbarer Greis, der einen Morgenrock in neutralem Farbton trug und seufzend sein linkes Bein wieder auf einen Schemel legte.

»Setzen Sie sich, Monsieur Mauvoisin … Ich habe ziemlich viel Mühe gehabt, Sie aufzufinden …«

»Verzeihung … Ich habe ihn aufgefunden …«

»Aber wie kommt es denn …?«

»Sein Vater und seine Mutter sind gestorben … Ein Unfall, dort oben, in Trondheim … Daraufhin ist der junge Mann hierhergekommen und …«

»Haben Sie ihm schon alles gesagt?«

»Noch nicht …«

Gilles hatte das Gefühl, dass sie sich zuzwinkerten. Dann murmelte Hervineau:

»Wäre es nicht besser, wenn wir Plantel Bescheid sagen würden?«

»Wenn Sie wollen … Jetzt, wo es so weit ist …«

Der Notar zog das Telefon zu sich heran, schien erstaunt über das, was man ihm sagte.

Dann sprachen die beiden Männer halblaut miteinander, während Gilles schüchtern auf der Sesselkante sitzen blieb. Er bekam Folgendes mit:

»Wo? …«

»In einer kleinen Hafenkneipe, mit Solemdal …«

Babin unterdrückte ein Lachen.

»Was sollen wir tun?«

»Vielleicht könnten Sie jemanden hinschicken, um ihm zu sagen …«

Der Diener wurde gerufen. Gilles war es warm. Ihm war etwas schwindlig. Er lehnte die Zigarre ab, die Babin ihm anbot.

»Danke, ich rauche nicht …«

»Ein Glas Portwein?«

»Ich bin es nicht gewohnt zu trinken …«

Alles hatte etwas Doppelbödiges, doch Gilles war zu verwirrt, um seine Eindrücke einordnen zu können. Gewiss, man gab sich viel Mühe mit ihm, aber irgendwie ohne sich mit ihm zu beschäftigen. Man behandelte ihn sehr zuvorkommend, und gleichzeitig sah man in ihm eine quantité négligeable.

»In Anbetracht des Allerheiligenfestes kann die offizielle Testamentseröffnung erst in zwei Tagen stattfinden«, fuhr Maître Hervineau fort. »Ich darf Ihnen aber jetzt schon mitteilen, Monsieur Mauvoisin, dass Sie der Universalerbe Ihres Onkels sind. Seit vier Monaten suchen wir Sie nahezu überall …«

Gilles hörte die Worte zwar deutlich, hörte sie sogar überdeutlich, doch ihre Bedeutung wurde ihm nicht recht bewusst. Deshalb wunderten sich die beiden Männer, die auf seine Reaktion lauerten, dass sich keine Überraschung, keine Freude bei ihm zeigte. Vielleicht hielten sie ihn für schwachsinnig?

»Ihr Onkel stand nicht nur an der Spitze des Transportunternehmens Cars Mauvoisin, sondern er besaß auch Geschäftsanteile an den meisten großen Unternehmen in La Rochelle und Umgebung …«

Der Diener, der seinen Auftrag ausgeführt hatte, ließ Edgar Plantel und Kapitän Solemdal herein. Plantel war ein wenig blass. Er berührte Babins Hand und murmelte dazu:

»Herzlichen Glückwunsch …«

»Nicht der Rede wert …«

Solemdal betrachtete erstaunt und sogar mit einem gewissen Respekt diesen blinden Passagier, der sich in eine der wichtigsten Persönlichkeiten von La Rochelle verwandelt hatte.

»Monsieur Mauvoisin, als ich erfahren habe, dass Sie in unserer Stadt sind und dass Sie in einem Restaurant am Hafen abgestiegen sind, habe ich es als meine Pflicht angesehen … Glauben Sie mir, bitte, dass ich sehr glücklich bin, Sie kennenzulernen und …«

Warum drehte sich Gilles nach dem Notar um, der immer noch in seinem Sessel versunken war? Maître Hervineaus Gesicht war schlecht beleuchtet, und vielleicht glaubte Gilles deshalb ein höhnisches Grinsen darauf zu sehen, das ihm Angst machte.

»Setzen Sie sich, Messieurs, wenn ich bitten darf!«, rief der Notar mit schnarrender Stimme. »Es ist sehr unangenehm, wenn man von der Gicht an seinen Sessel gefesselt ist und die Leute um sich herum stehen sieht … Was darf ich Ihnen einschenken lassen? … Whisky? … Portwein? … Babin! … Sie sitzen gerade neben dem Klingelknopf … Wollen Sie bitte nach dem Butler klingeln? …«

Ankunft Allerheiligen

Подняться наверх