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ОглавлениеIm ersten Augenblick glaubte er, er sei an Bord, und war schon ganz glücklich. Diese schaukelnde Bewegung, dieses langsame Hochgehobenwerden, auf das ein Absacken folgte … Und selbst dieses Geräusch fließenden Wassers … Das erinnerte ihn an die Tage mit hohem Wellengang, wenn er seekrank in seiner mit Lackfarbe gestrichenen Koje lag und der gute Kapitän Solemdal ihn mit einem mitleidigen Lächeln bemutterte …
Aber nein! Er war längst von Bord der Flint gegangen. Er wusste genau, wo er jetzt war: in einem Palais in der Rue Réaumur, der vornehmsten Straße von La Rochelle. Er konnte nicht erraten, wie spät es war, denn durch die dichtgeschlossenen Läden drang kein Licht. Jedenfalls waren im Haus, im Stockwerk unter Gilles, schon Leute auf. Wasser lief. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Jede Silbe klang wie ein Kanonenschuss in seinem schmerzenden Kopf, ein Geräusch wie von ferne und so eigenartig, dass er einen Augenblick lang nur auf diese Kanonade achtete:
»Bum, bum, bum … bum, bum … bum …«
Doch da! Ein Geräusch von klappernden Tassen und Töpfen. Es musste also die Küche sein, in der gesprochen wurde. Was für ein Abendessen, mein Gott! Und warum hatte sich jeder so bemüht, ihn zum Trinken zu bringen? Machte es ihm vielleicht Spaß? Nein! Warum hatte man ihm unaufhörlich volle Gläser hingehalten, angefangen mit dem Portwein bei Hervineau, diesem grässlichen, bleichen Notar mit der schnarrenden Stimme … Was hatte dieser Hervineau noch gesagt, als Gilles aufgebrochen war?
»Ich wünsche Ihnen viel Spaß, junger Mann! …«
Und danach? … Gilles hatte durchaus noch eine Erinnerung … Man hatte sich anschließend in die Rue Réaumur begeben … An den Wänden im Treppenhaus hingen sehr schöne Stiche, die den Hafen von La Rochelle durch die Jahrhunderte darstellten …
»Mein Sohn Jean wird sie Ihnen zeigen …«, hatte Monsieur Plantel gesagt. »Jean sammelt sie. Er versteht sehr viel von Stichen und Gemälden …«
Wieder ein Butler, ein kleiner Dicker mit pechschwarzem Haar, das über eine spiegelnde Glatze gekämmt war. Warum sah Gilles ihn in der Erinnerung breiter als lang, wie in einem Zerrspiegel?
»Wenn Monsieur Jean zu Hause ist, bitten Sie ihn doch herunterzukommen …«
Und dann hatte sich das Geschehen verselbständigt. Wie sehr trauerte Gilles dem Augenblick nach, als er allein vor dem Friedhofstor gestanden hatte! Er sah die Kerzenverkäuferin wieder vor sich, die einen Tisch auf dem Bürgersteig aufgestellt hatte, den Steinmetz, der Chrysanthemen in Töpfen verkaufte, den alten Bettler, der auf dem Boden saß und seinen Beinstumpf zur Schau stellte …
Ein großer Rauchsalon, Holzscheite im Kamin. Mächtige Ledersessel und ein Geruch nach verbranntem Holz, nach Zigarre, nach Likören.
»Setzen Sie sich, mein Freund …«
Warum hatte jetzt Plantel das Ruder übernommen? War er eine wichtigere Persönlichkeit als Babin? Babin war mitgekommen, doch war er in seinem Auftreten zurückhaltender geworden.
»Hallo! … Sind Sie es, Gérardine? … Kommen Sie heute Abend doch bitte zum Abendessen … Ja, ganz zwanglos … Ich verspreche Ihnen eine freudige Überraschung … Aber ja … Bob ist in Paris? … Schade …«
Und wieder hatte er trinken müssen. Plantel mixte persönlich mit gezierten Gebärden seiner gepflegten Hände die Cocktails in einem silbernen Becher.
»Ach was! Das hat noch niemandem geschadet. Mit neunzehn Jahren! … Komm her, Jean … Ich stelle dir unseren Freund Mauvoisin vor, Gilles Mauvoisin, den Neffen von Octave …«
Sie hatten es so gewollt! Wegen all dieser Getränke sah Gilles sie nur noch als Karikaturen. Jean Plantel, der fünfundzwanzig Jahre alt sein mochte, war lang, mager, mit schütterem blondem Haar, und er erinnerte an eine Heuschrecke. Ständig rieb er sich mit knackenden Knochen seine dürren Hände, so wie sich die Heuschrecken die Vorderbeine reiben.
»Auf Ihr Wohl, Mauvoisin …«
Und schließlich die Tante, Gérardine Éloi, die allein schon so viel Lärm und Wind machte wie alle andern zusammen.
»Dann ist also meine arme Schwester …«
Die beiden Toten von Trondheim, der Vater und die Mutter von Gilles, waren ein wenig in den Hintergrund geraten.
»Wie ist das nur passiert?«
Und er, dem viel zu heiß war und der ein hochrotes Gesicht hatte, antwortete mit glasigem Blick:
»Es war der Ofen …«
Madame Plantel wartete im Esszimmer, eine würdevolle Erscheinung, die fingerlose Handschuhe trug, wahrscheinlich wegen der Altersflecken. Sie war die Einzige, die den Mund nicht aufbekam.
»Wir müssen ihn«, sagte Tante Éloi, »zu Hause unterbringen. Ich werde meine Töchter anrufen …«
»Aber nein … Heute Nacht wird er hier schlafen, in einem der Gästezimmer … Vergessen Sie nicht, Gérardine, dass er dem Testament nach im Haus am Quai des Ursulines wohnen muss …«
»Mit dieser Frau?«
»Das wissen Sie doch …«
»Und Bob ist in Paris! … Bob wäre so glücklich gewesen, ihm zu helfen …«
»Jean ist ja da …«
Ihn selbst fragte man überhaupt nicht. Man verfügte über ihn. Man machte Pläne, Anspielungen, die er nicht verstand, und gab sich keine Mühe, ihm irgendetwas zu erklären. Stattdessen füllte man ihm unaufhörlich sein Glas.
Als er sich mit Fisch bedienen wollte, warf er es um, verlor die Fassung und war so verwirrt, dass er eine Viertelstunde lang nichts mehr sah, nicht einmal mehr wusste, dass er beim Essen saß.
»Bum, bum, bum … bum, bum, bum … bum …«
Man hörte eine Klingel. Stimmengewirr in der Küche. Schritte im Flur und Geklapper von Porzellan. Man trug wohl das Frühstückstablett in eines der Zimmer hinauf. Zwei oder drei Zimmer weiter ließ jemand Wasser in eine Wanne laufen. War es spät?
Gilles hatte Kopfschmerzen, eine träge Masse schwappte in seinem Schädel von einer Seite zur anderen. Irgendwo musste eine Wasserkaraffe stehen, er streckte die Hand aus, stieß aber nur gegen die Wand. Darauf stammelte er:
»Papa …«
Er hätte am liebsten geweint. Er spürte, dass er den Tränen näher war als je zuvor. Und seltsamerweise dachte er an seinen Vater. Warum nicht an seine Mutter? Es war ungerecht, er wurde sich dessen bewusst. Seine Mutter war es, die ihn unter so mühseligen Bedingungen in einfachen Hotelzimmern großgezogen hatte. Sie war oft traurig, besorgt.
Sein Vater legte immer eine seltsam gute Laune an den Tag, eine tragische Sorglosigkeit.
»Wir hatten heute Morgen zu essen, nicht wahr? Wir haben heute Abend zu essen … Was brauchen wir mehr? …«
Abends in seinem Zauberkünstlerfrack, mit seinem schwarz gefärbten Zwirbelbart … Er, der so sehr gehofft hatte, ein großer Musiker zu werden!
Gilles hatte den Eindruck, dass jemand in Pantoffeln durch den Flur ging und an seiner Tür lauschte, doch er rührte sich nicht.
Noch sah er die ganze Bande, seine Tante Gérardine inbegriffen, nicht als Feinde an, doch einige irritierende Einzelheiten waren ihm aufgefallen. Hatte er sie womöglich wegen seiner Trunkenheit verzerrt wahrgenommen?
Da waren die Blicke, die sie nach dem Essen im Rauchsalon tauschten, wo es wieder zu trinken gab … Sie waren wie verschwörerische Komplizen, die einander misstrauten und gleichzeitig eifersüchtig über ihre Beute wachten … Tante Éloi hatte große Zähne, und wenn sie lächelte – sie lächelte unentwegt, vielleicht damit ihr Gesichtsausdruck nicht so hart war? –, wenn sie lächelte, sah es aus, als beiße sie ins Leere …
Babin sah Plantel mit zynischer Ruhe an, als wollte er sagen:
Sie können hundertmal der große Plantel von der Firma Basse et Plantel sein, ich, Raoul Babin, habe Sie trotzdem ausgestochen …
Er hatte die Havanna seines Gastgebers abgelehnt, um eine dunkle Zigarre zu rauchen, die er aus seiner Tasche zog. Gérardine rauchte eine Zigarette. Plantel hatte zu seinem Sohn gesagt:
»Sie werden sich schon gleich morgen früh um unseren Freund Gilles kümmern …«
Denn nicht zuletzt: Er war schlecht angezogen. Sie schämten sich für ihn, mit seinem schwarzen Anzug, der nicht für ihn zugeschnitten worden war und fast ebenso lange Schwänze hatte wie ein Frack! Und seine Verlegenheit, wenn der Butler ihm mit breitem Grinsen unbekannte Gerichte reichte! Sie hatten das alles bemerkt! Sie belauerten ihn! Tauschten spöttische Blicke! Machten sich insgeheim über ihn lustig!
Man würde ihn neu einkleiden, jawohl! Man fragte ihn gar nicht erst nach seiner Meinung! Dann würde man ihn in das Haus am Quai des Ursulines bringen. Man gab sich auch nicht die Mühe, ihm zu sagen, wer diese Tante war, mit der er nach den Bestimmungen des Testaments von nun an zusammenleben musste.
Im Lauf des Abends hatte Plantel ihn einmal im Rauchsalon beiseitegenommen. Gilles fühlte sich schon nicht mehr sehr wohl. Der Kopf drehte sich ihm. Trotzdem erinnerte er sich genau.
»Sagen Sie einmal, mein Freund, wie kommt es eigentlich, dass Sie zu dieser Armandine gegangen sind, die Sie doch gar nicht kennen?«
Gilles hatte noch nie in seinem Leben gelogen.
»Sie hat mich am Ausgang des Friedhofs erkannt …«
»Wie kann sie Sie erkannt haben, sie hatte Sie ja noch nie gesehen?«
»Wegen meines Vaters und meines Onkels …«
»Zunächst einmal hat sie Ihren Vater gar nicht gekannt, denn sie ist nicht aus La Rochelle. Sie ist erst vor fünf oder sechs Jahren hierhergekommen … Was Ihren Onkel angeht, so werde ich Ihnen ein Foto von ihm zeigen … Sie gleichen ihm überhaupt nicht … Trotzdem verstehe ich … Ich werde Ihnen das später alles erklären … Sehen Sie, mein junger Freund, Sie werden sich vor Babin in Acht nehmen müssen und überhaupt vor allen Personen, die …«
Und währenddessen beobachtete Babin sie von weitem, ließ sie nicht aus den Augen.
»Ich glaube, Monsieur, es wäre besser, wenn ich heute Abend in mein Hotel zurückginge, wo ich meine Sachen gelassen habe …«
Er hatte das Verlangen, Jaja wiederzusehen, auf sein kleines Zimmer zu gehen.
»Ihr Gepäck ist hier … Ich habe es holen lassen …«
An den Wänden hingen Bilder von riesengroßen Personen in alten Kostümen, und eine von ihnen, eine Art Musketier, folgte Gilles mit dem Blick, wohin er auch ging. Es wurde zu einer Zwangsvorstellung.
»Trinken Sie noch einen Schluck von diesem alten Cognac, der wird Sie aufmöbeln, und morgen …«
Gilles war so beklommen zumute bei dem Gedanken, in diesem fremden Haus übernachten zu müssen, wo er eine in allen Ecken lauernde Feindseligkeit zu spüren glaubte, dass er das Glas leerte.
Darauf weiteten sich seine Augen plötzlich. Er begriff, dass die Katastrophe eingetreten war. Der Magen drehte sich ihm um. Er hatte keine Zeit mehr, den Raum zu verlassen.
Dort, wo er gerade stand, auf einem herrlichen Perserteppich, musste er sich jäh übergeben, während ihm Schluchzer gleichzeitig die Kehle zuschnürten.
»Sie hätten ihm nicht so viel zu trinken geben sollen, Plantel!«, seufzte Gérardine. »Der arme Junge! …«
Die Augen voller Tränen, sah Gilles alles verschwommen. Man hielt ihn bei den Schultern.
»Ein Glas Wasser, Jean …«
»Aber nein … Etwas Salmiakgeist …«
»Verzeihung … Ich bitte Sie um Verzeihung …«
»Babin … Klingeln Sie doch bitte nach Patrice …«
Gilles wusste sogar noch den Namen des Butlers mit dem breiten Schädel.
»Wenn der Herr sich bitte die Mühe machen will, mir zu folgen …«
»Kann man hereinkommen?«
Gilles hatte sich gerade angezogen. Sein Kopf war leer und schmerzte ihn noch. Der junge Plantel, der damit beauftragt war, sich an diesem Tag seiner anzunehmen, stand auf der Schwelle, überrascht von Gilles’ ruhigem, gleichgültigem Blick.
»Haben Sie gut geschlafen? … Warum haben Sie nicht nach Ihrem Frühstück geklingelt?«
»Ich habe keinen Hunger …«
»Mein Vater musste zum Hafen und lässt sich entschuldigen … Ich habe mich telefonisch erkundigt … Einige Läden haben heute offen, obwohl Allerseelen ist … Später werden wir nach Bordeaux oder nach Paris fahren müssen, um Sie einzukleiden, denn hier findet man nichts Richtiges … Ihre Tante erwartet uns beide zum Essen … Sie werden Ihre Cousinen kennenlernen …«
»Und meine andere Tante?«, fragte Gilles kühl.
»Welche?«
»Die, mit der ich zusammenleben soll …«
»Colette? … Machen Sie sich um die keine Sorgen … Sie werden nicht oft Gelegenheit haben, sie zu sehen, und das ist auch besser so … Sie ist die Witwe Ihres Onkels Mauvoisin … Später erzähle ich Ihnen einmal im Einzelnen … Sie hatte schon seit Jahren keine Beziehungen mehr zu Ihrem Onkel … Sie lebten im selben Haus, aber sie sprachen nicht mehr miteinander … Ihr Verhalten … Na ja! … Fest steht jedenfalls, dass man ihr die Rente streichen würde, wenn sie nicht am Quai des Ursulines wohnen bliebe …«
»Hat sie ihn betrogen?«
»Ein wenig!«, lachte Jean Plantel höhnisch. »Können wir gehen? Es lohnt nicht, dass wir den Wagen nehmen …«
Von diesem Tag sollte Gilles weniger Erinnerungen zurückbehalten als vom Vortag, aber zumindest eine dieser Erinnerungen prägte sich ihm ein.
Jean Plantel und er waren in einem engen Laden an der kleinen Place de la Caille. Rechts daneben war ein Uhrmacher, gegenüber ein Apotheker, doch die Apotheke war geschlossen.
Der Laden war ein Hemdengeschäft, wo man auch einige englische Kleidungsstücke verkaufte.
Jean Plantel, ganz in seinem Element, wählte aus, und da man keinen schwarzen Mantel fand, behauptete er:
»Es ist gar nicht notwendig, Trauer zu tragen, die Leute hier wissen ja doch nicht Bescheid … Dieser dunkelgraue Raglan steht Ihnen gut … Probieren Sie ihn einmal zusammen mit diesem Hut mit Krempe …«
Gilles kam sich lächerlich vor. Er war an diesem Morgen sehr blass. Seine Augenlider waren ein wenig rot. Sein Schnupfen war noch nicht auskuriert, und er hatte eine glänzende Nase.
Er sah sich in dem meergrünen Spiegel, lang und mager, mit herabhängenden Armen, in diesem glockenförmigen Mantel wie unter einem Löschhütchen erstickt.
In diesem Augenblick sah er hoch. Im ersten Stock eines Hauses gegenüber ertappte er zwei junge Mädchen, wie sie über ihn lachten. Sie waren in einem Büro, an dessen Fensterscheiben man das Wort Publex lesen konnte.
Gilles erstarrte, denn in einem der beiden jungen Mädchen, die sich über ihn lustig machten, hatte er die Unbekannte vom Quai erkannt.
»Haben Sie vielleicht Flanellhosen, bis man ihm einen passenden Anzug machen lässt? Wir brauchten auch ein Dutzend Hemden, Schlafanzüge, Handschuhe, Krawatten …«
»Ich bringe Ihnen alles, Monsieur Plantel …«
In einer Kabine im hinteren Teil des Ladens wurde Gilles von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Er protestierte nicht. Er ließ mit stumpfer Gleichgültigkeit alles mit sich geschehen.
Aber er würde es nicht vergessen! Er würde nichts vergessen! Jean Plantel, über seine Folgsamkeit erstaunt, hatte sich zuerst gesagt:
Er ist wirklich ein braves Schaf …
Bei seiner Tante Éloi hatte man zu seinen Ehren ein festliches Abendessen vorbereitet. Er ging durch die Ladenräume, deren Geruch er mochte, vor allem den des Teers. Auf der Wendeltreppe, wo Schiffsgerät hing, hörte er eine aufgeregte Mädchenstimme:
»Schnell, Louise! … Er ist da! …«
Seine Tante zeigte ständig beim Lächeln die Zähne und nannte ihn »mein kleiner Gilles«.
»Sie werden Ihre Cousinen kennenlernen … Mein Gott, wie schade, dass Bob gerade in Paris ist! … Ich bin sicher, dass Bob und Sie …«
Es ging weniger luxuriös zu als in den Häusern, in denen Gilles am Vortag empfangen worden war, es war bürgerlicher, düsterer, gedämpfter.
Die beiden Cousinen waren im Sonntagsstaat, die Schielende in Blau, die andere in Zartrosa. Im Salon stand ein Flügel.
»Vielen Dank, Tante. Ich trinke lieber nicht …«
»Sie dürfen das, was Ihnen gestern Abend passiert ist, nicht so tragisch nehmen. Es ist doch ganz natürlich, dass Sie nach dem, was Sie durchgemacht haben …«
Er aß keinen Hummer. Er antwortete höflich auf Fragen, ohne ein Wort zu viel.
Dafür stellte er seinerseits eine Frage, die alle überraschte.
»Wann werde ich meine Tante Colette sehen?«
»Aber ich hoffe doch sehr«, rief Gérardine Éloi, »dass Sie sie nicht weiter frequentieren werden. Es ist schon genug, dass dieses unsinnige Testament Sie zwingt, unter einem Dach mit ihr zu leben und …«
»Ist sie so alt wie mein Onkel?«
»Sie ist zwanzig Jahre jünger … Vor der Heirat war sie im Kino Olympia Platzanweiserin … Nicht wahr, Jean, dieses Frauenzimmer verdient doch gar nicht, dass …«
Sicher ist jedenfalls, dass Jean Plantel, als er in die Rue Réaumur zurückkehrte, seine Meinung über Gilles geändert hatte und dass er seinem Vater erklärte:
»Wir müssen aufpassen … Der hat es faustdick hinter den Ohren … Ich habe ihn den ganzen Tag beobachtet, ich weiß, was ich sage …«
Die Testamentseröffnung fand am Tag nach Allerseelen statt, und zwar morgens um zehn im Büro von Notar Hervineau.
Dieser führte trotz seiner Gicht den Vorsitz, neben sich einen Gehilfen, der sehr schlecht roch. Raoul Babin war da, eine Uhrkette über dem Fettwanst und wie gewöhnlich eine Zigarre zwischen den Lippen.
Gérardine Éloi hatte sich feingemacht und legte eine große Zurückhaltung an den Tag, während Plantel Gilles unter seinen Schutz zu nehmen schien.
Es war noch eine andere Persönlichkeit anwesend, groß, wabbelig, mit triefenden Augen, den alle Herr Minister nannten, denn er war es früher einmal für einige Tage gewesen und hatte immer noch einen Senatorsitz inne. Sein Name war Penoux-Rataud.
»Messieurs, ich werde jetzt die offizielle Eröffnung des Testaments von …«
Tat er es absichtlich? Er las so schnell und so schlecht, über einige Silben stolpernd und andere verschluckend, dass Gilles fast nichts von diesem juristischen Wust verstand.
»Ich fasse also in wenigen Worten zusammen. Monsieur Gilles Mauvoisin erbt alle beweglichen und unbeweglichen Güter des verstorbenen Octave Mauvoisin unter der Bedingung, dass er das Haus am Quai des Ursulines bewohnt und dort die Anwesenheit der verwitweten Madame Mauvoisin duldet. Solange diese im Haus wohnt, aber nur unter dieser ausdrücklichen Bedingung, bin ich beauftragt, ihr als Testamentsvollstrecker eine Jahresrente von zwölftausend Franc auszuzahlen, wobei ihre Unterhaltskosten von Monsieur Gilles Mauvoisin getragen werden …
Bis zu seiner gesetzlichen Volljährigkeit wird Monsieur Plantel sein Vormund sein und seine Tante, Madame Éloi, sein Gegenvormund …
Andere Klauseln des Testaments sind weniger wichtig und betreffen …«
Das Büro des Notars war schlecht beleuchtet, denn da es im Erdgeschoss des Hauses in der Rue Gargoulleau lag, hatte man die Fenster mit dicken grünen Scheiben verglast.
»Ich muss nunmehr in Ihrer aller Gegenwart – und deshalb, Herr Minister, habe ich mir erlaubt, Sie in meine Kanzlei zu bestellen –, ich muss also, sagte ich, Monsieur Gilles Mauvoisin einen verschlossenen Umschlag übergeben, den er vor Ihnen zu öffnen verpflichtet ist. Dieser Umschlag ist hier drin …«
Er nahm aus seiner Schublade eine kleine, mit rotem Siegelwachs verschlossene Schachtel heraus.
»Dieser Umschlag enthält den Schlüssel zum Privattresor von Monsieur Mauvoisin, den er in seinem Schlafzimmer einbauen ließ. Seine Anweisungen sind in dieser Hinsicht eindeutig, wenn auch ein wenig seltsam. Ich kenne das Geheimwort nicht, und es wird auch nirgends verzeichnet sein. Der Wille des Verstorbenen lautet aber ausdrücklich: Das Schloss darf auf keinen Fall aufgebrochen werden.
Das heißt mit anderen Worten, dass der Tresor von Monsieur Gilles Mauvoisin erst an dem Tag geöffnet wird, an dem er auf irgendeine Weise das Geheimnis der Kombination zu lüften vermag.
Schließlich, meine Herren, möchte ich Sie noch darauf hinweisen, dass ein Doppel dieses Schlüssels in einem Tresor der Banque de France deponiert ist. Ich werde Sie jetzt um einige Unterschriften bitten und mich noch heute Nachmittag um die Formalitäten kümmern, die …«
Als Gilles wieder draußen war – es war Markttag, und die Rue Gargoulleau war belebt –, hatte er einen kleinen, flachen Schlüssel in seiner Tasche, der ihm nach dem, was man ihm verkündet hatte, nicht viel nützen würde.
»Ich hoffe, Herr Minister, dass Sie mir nicht abschlagen werden, ebenso wie unsere Freundin Gérardine mit uns zu Mittag zu essen …«
Es war fast genauso wie nach einer Beerdigung. Babin hatte sich entschuldigt. Der Minister mit dem Wabbelbauch sprach wenig, nur seine Augen tränten.
»Junger Mann, ich beglückwünsche Sie zu die … zu dieser … und ich hoffe, dass Sie sich des Vertrauens, das Ihr Onkel, der unser aller Freund war, Ihnen entgegengebracht hat, würdig erweisen werden …«
Nun waren sie vor diesem jungen Mann verlegen, der sie einen nach dem andern ansah, blass, von seinem Schnupfen geplagt, und dessen Gedanken schwer zu durchschauen waren.
In Wahrheit dachte er an das junge Mädchen vom Quai, an diese aneinandergepressten Menschen in der Abenddämmerung, in dem gelblichen Nebel, die sich so lange küssten, bis es ihnen den Atem verschlug.
Er wusste nun, wo sie arbeitete.
Aber sie hatte sich, zusammen mit einer Freundin, über seinen neuen Mantel und seinen neuen Hut lustig gemacht.