Читать книгу T' schuldigung, wo geht' s denn hier nach Westdeutschland? - Georgia R. Bark - Страница 5
Kapitel 2 ..die machen die Grenze auf…
ОглавлениеEs hätte mich eigentlich wie ein Blitz treffen müssen, aber ich bleibe zunächst völlig ruhig, als plötzlich die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wird und meine Zimmernachbarin Ellen lauthals schreit: „Lisa, komm rasch. Die machen die Grenze auf“.
Ich verstehe zunächst nichts. Was hat sie gesagt? „ Lisa, komm schon, komm endlich.“
Ich lege mein Strickzeug auf das Bett und folge ihr brav in den Fernsehraum. Hier also stecken sie alle, die Erholungssuchenden. Sie starren mit ungläubigen und weit aufgerissenen Augen zu diesem kleinen Fernseher dort hinten in der Ecke dieses miefigen Clubraumes. Die Männer haben den Westkanal eingestellt. Die Kurklinik Meeresblick in Zingst an der Ostsee erlebt einen historischen Moment. Eine einzigartige Ansammlung von Menschen, die sich plötzlich schreiend und tobend in die Arme fallen, brüllen und schreien. Fremde umarmen Fremde und alle sind in diesem Augenblick eine gemeinsame Familie.
Hier ist ein wilder Haufen schreiender Menschen, verbunden im Wahnsinn der Freude.
Heute ist der 9. November 1989.
Der Tag, der die Welt verändern wird. Ich verstehe die Worte im Fernseher kaum.
Schabowski sagt: „ ... heute eine Regelung getroffen ... , die es jedem Bürger ermöglicht, über die Grenzübergänge auszureisen ... Sofort, ab heute.“
Wie??? Ab heute???? Was ist eigentlich los?
Alle hier im Fernsehraum starren auf den Bildschirm. Sie glauben nicht daran, was sie da hören, was sie da sehen. Die Grenzsoldaten und ihre Vorgesetzten stehen unschlüssig da und wissen nicht, was sie tun sollen. Halten sich zurück. Die Menschenmassen schieben sich vorwärts. Macht auf, der Schabowski hat gesagt, wir dürfen rüber. Die Menschen wollen weiter vorwärts in Richtung Schlagbaum. Sie fordern ihr Recht auf ein freies Leben. Die Berliner, am Grenzübergang Bornholmer Straße, machen den Anfang. Die Menschen drängeln, schubsen und schieben sich von hinten immer mehr in Richtung Übergang. Für die vorderen Reihen wird es langsam lebensgefährlich, und sie können dem Druck von hinten kaum noch standhalten. Endlich, die ersten Schlagbäume öffnen sich. Die Menschen tanzen hindurch in den westlichen Teil Berlins. Sie schreiten untern dem Brandenburger Tor hindurch und gehen einfach mal am Ku'damm spazieren, verbrüdern sich mit ihren Klassenfeinden, stehen auf der Berliner Mauer, singen und weinen zugleich, und:
k e i n S c h u ß f ä l l t !
Die alten Männer im Politbüro sind ohnmächtig, sind verblüfft und können nur noch zusehen, was da passiert.
So, das war's wohl mit der DDR, oder auch nicht. Ich weiß es nicht, keiner weiß es.
Heulende und schreiende Münder, die ihre Emotionen ungezügelt und hemmungslos in die große weite Welt da draußen brüllen, erschüttern mit ihrem Geschrei die Welt. Eine unbeschreibliche Kakophonie, wie sie nur Menschen herauslassen können, die endlich die Freiheit vor sich sehen und doch nicht begreifen. Die Welt steht plötzlich auf dem Kopf, und ein Wort steht im Raum: Freiheit.
Was heißt das?
Keiner weiß es genau.
„Ruhe mal, man versteht ja gar nichts“, schreit einer und schafft es tatsächlich, die wild gewordene Masse im Kurheim zum Schweigen zu bringen.
Niemand atmet mehr, alle stieren zum Fernsehkasten mit weit aufgerissenen Augen.
Keiner weiß, was jetzt passiert. Wir sind das Volk.
Die Menschen wissen, was sie wollen, sie wollen raus, haben es satt, wollen nicht mehr gehorchen, wollen ihr Recht, ihr Recht, als Mensch frei zu sein.
Die Grenzsoldaten halten ihre Waffen bereit, Spielzeuggewehren gleich, denn auch sie sind Kinder des Volkes. Nein, sie wollen kein Blut vergießen, sie wollen das gleiche, hoffen darauf, daß endlich der richtige Befehl ausgesprochen wird.
Freiheit für alle.
Freiheit - was ist das? Wie definiert man das Wort Freiheit?
Ich weiß es nicht. Kann nicht denken, starre auf die Menschen hier in diesem Zimmer, die sich gestern noch nicht kannten und heute gegenseitig abküssen wie Brüder und Schwestern. Was passiert da gerade mit uns allen? Die brüllende Menschenmasse vor dem Fernseher überrollt mich fast. Reißt mich mit, versetzt mir ein paar Schläge in die Rippen und auf die Schulter. Küsse fliegen mir zu und erschrecken mich zu Tode.
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, und ich mittendrin. Kann mich mal einer wecken, seid ihr denn alle verrückt geworden?
Ich verkrieche mich in einer hoffentlich stillen Ecke im hinteren Teil des Zimmers und lasse mich in einen alten, ausgebeulten Sessel fallen. Mir ist schlecht, mein Herz klopft mir bis zum Halse und ich friere. Mein Gehirn spurtet zur Höchstleistung, gibt keine Ruhe. Was wird das alles für die Welt und für alle, die heute schon laut brüllen vor Freude, für Folgen haben? Die Ereignisse da draußen machen mir angst. Ungeahnte, ungeplante und unvorhergesehene Dinge werden passieren. Der Stein ist ins Rollen gebracht worden. Aktion und Reaktion. Vielleicht sitzen wir alle schon in Teufels Küche und wissen es nicht. Vielleicht gibt es Krieg.
Vielleicht einen Weltkrieg.
Was werden unsere russischen Freunde machen und die Amerikaner?
Ich habe meine Wurzeln und meine Freunde hier. Im Westen wartet keiner auf mich. Mal gucken, ich gebe es zu, das wäre großartig. Eine Reise nach Paris. Lisa auf dem Eiffelturm, irre. Träume. Träume sind Schäume. Ich knabbere an meinem Daumennagel und grübele. Bin hin- und hergerissen, zwischen Freude und Angst und Lachen und Weinen.
Deutschland, einig Vaterland. Das Unfaßbare ist geschehen.
Der Traum vieler Menschen wird heute wahr.
Die Gedanken in meinem Kopf springen von jetzt auf gestern und wieder zurück. Meine Haut juckt, und ich möchte sie mir in Fetzen vom Körper reißen. Es pocht in meinen Schläfen, und ich nehme weder diesen alten, nach Zigarettenmief riechenden Raum wahr noch die tobende Menge, die in ihren bequemen und ausgeleierten Trainingsanzügen herumspringt. Ich hocke in diesem Sessel wie ein kleines Kind.
Warum friere ich bloß so? Meine dunkelbraunen langen Haare fallen mir ins Gesicht, bedecken meine müden Augen und geben mir Schutz. Hier kann ich mich verstecken. Keiner sieht mich, und ich sehe keinen. Gut so.
Es ist nicht zu fassen. Man kann mit seinem Stempel im Paß oder auch nicht - so genau weiß das keiner hier im Moment - zumindest von Ostberlin nach Westberlin.
Ich sehe Tausende Menschen an den Grenzübergängen und ziehe meinen Hals in die Länge, um doch noch ein Stück vom Bildschirm zu erhaschen.
Jeder hier will was sehen, und es scheint, als ob die Kurfreunde in der ersten Reihe fast in den kleinen Fernsehapparat kriechen. Die Emotionen kochen plötzlich über, und Stühle fallen krachend um, als ein älterer Mann aufspringt und dabei einen vertrockneten Blumentopf und einen vollen Aschenbecher umwirft. Er greift sich an sein Herz und bricht zusammen. Eine Frau schreit markerschütternd. Gisela springt auf und stolpert über einen Sessel, und der kippt um. Sie rappelt sich auf, tritt jemandem auf dem Fußboden auf die Hand und stürmt zum Telefon.
„Der Notarzt muß her!“
Sie rennt zum Telefon und stößt grob und konsequent eine telefonierende Frau zur Seite.
„Weg da!“
Mit zittrigen Fingern wählt sie die Nummer. Nun geht alles sehr schnell. Zwei Männer packen den Mann an Armen und Beinen und tragen ihn mit sichtlicher Anstrengung zum Hauseingang. Es dauert lange, bis der Notarzt da ist. Zu lange für uns Wartende. Wie lang können fünf Minuten sein. Der Arzt kann nur noch den Tod des Mannes feststellen. Sie nehmen den Toten im Krankenwagen mit, und die Männer, die ihn getragen haben, springen ins Auto. Sie sind sichtlich erschüttert und auch die anderen Kurgäste, die mit hängenden Schultern und blassen Gesichtern dem davoneilenden Krankenwagen nachblicken, stehen wie Gipsfiguren da.
Es hat uns allen die Sprache verschlagen. Das Entsetzen läßt ahnen, daß nicht alles aus Zucker ist, was da auf uns zukommt. Eine gespenstische Ruhe macht sich augenblicklich breit. Nur der Wind schlägt irgendwo laut eine Tür zu.
Es ist Nacht. Schlaftrunken springe ich aus dem Bett und laufe zur Toilette. Ich übergebe mich. Nein, es geht mir nicht gut, und ich denke, so muß Sterben sein. Doch ich sterbe nicht. Meine Beine zittern, und ich friere, als ich mich über das Waschbecken beuge und mir das eiskalte Wasser über meinen Kopf läuft. Ich spüle mir den Mund aus, trinke etwas Wasser und lasse mich auf dem Deckel der Toilette nieder. Mit den Händen halte ich mir die pochenden Schläfen und heule Rotz und Wasser, Frust und Elend. Lieber Gott dort oben, gib mir Kraft für das Leben, das morgen früh irgendwie weitergeht und mich mitreißt wie ein Blatt im Wind, das über das Meer fliegt.
Das Meer. Ich habe es noch nicht gesehen, hier an der Ostsee, obwohl ich schon so lange hier bin. Vielleicht gehe ich morgen mal nachschauen, es soll nur zehn Minuten vom Kurheim entfernt sein. Ja, frischen Wind um die Ohren stell' ich mir toll vor. Vorerst brauche ich ein Migränezäpfchen.
In den nächsten drei Tagen geht es im Kurheim zu wie auf dem Bahnhof. Eine merkwürdige Stimmung ist im Haus. Alle sind hier am Laufen und Schreien. Ich hänge so irgendwie kraftlos in der Luft und weiß nicht, was ich machen soll.
Alles ist so unorganisiert, und kein Verantwortlicher sagt uns, was wir tun sollen. Ein großes unsichtbares Fragezeichen hängt im Haus über uns alle. Soll man hierbleiben. soll man abreisen - darf man das?
Ich habe niemanden von der Kurleitung angetroffen und begebe mich in mein Zimmer. Einzelhaft im Knast, so stell' ich es mir vor. Hier nimmt keiner mehr seine Aufgaben ernst, und plötzlich scheint das halbe Haus leer zu sein.
Stille.
Vielleicht sind die meisten Kurfreunde schon abgereist. Keine Ahnung.
Oder ich sitze Pullover strickend im Kino, und der Film ist gleich aus, und irgendeiner sagt: „Ruhe, Genossen. April, April. Alles bleibt wie immer. War nur ein Scherz. Ein Probealarm. Nun wollen wir mal wieder unser geregeltes sozialistisches Leben aufnehmen und den Witz vergessen. Grenzöffnung - nie und nimmer.. “
Mein dritter Pullover ist fertig gestrickt. Er hat in der Mitte einen Schneemann drauf mit einem Schal. Ob sich meine kleine Tochter darüber freut?
Es wird Abend, und ich habe Durst und Hunger. Auch ein Stückchen Schokolade für die Glückshormone wäre nicht schlecht, ... aber woher kriegen? Es ist wieder Bewegung im Kurheim. Viele Kurfreunde sind zurück. Sie rennen durchs Haus wie die Verrückten, und viele Türen knallen. Jeder weiß etwas anderes, und keiner weiß etwas Genaues. Viele schreien bloß noch rum und sind am diskutieren. Drei Männer gehen wütend aufeinander los und packen sich gegenseitig am Kragen. Eine Frau heult irgendwo.
Cordula ruft mir vom Flur aus zu: „Lisa, du, man braucht nur einen Stempel im Ausweis und kann für einen Tag in den Westen reisen!“
Ich lächele Cordula an, winke ab, schüttele verneinend meinen Kopf und gehe weiter durch den langen, endlosen Flur zum Telefonkasten an der Wand. Hoffentlich funktioniert wenigstens das Telefon. Bruno wollte hier um neunzehn Uhr anrufen. Ich warte und überlege - Schokolade, Schokolade ... Woher kriege ich eine Tafel Schokolade? Ich brauche Glückshormone. Meine langen Haare fallen mir wieder und wieder ins Gesicht, als ich an der Wand gestützt auf ein Klingelzeichen warte. Zehn nach sieben klingelt es. Es ist Bruno. Er war mit unseren Mädels im Harz, weil an einer Stelle die Grenze geöffnet wurde. Es war so einfach. So unglaublich.
Die Leute auf der anderen Seite waren wie von Sinnen. Es gab Essen und Trinken frei und Süßigkeiten für die Kinder und auch Bananen. Seine Stimme überschlägt sich am Telefon, und die Verbindung wird immer schlechter. Es knackt in der Leitung, und ein anderes Gespräch ist im Hintergrund zu hören.
„Ja, es geht mir hier gut. Alles in Ordnung. Grüß meine Mädels von mir. Gib ihnen einen Kuß von Mama. Ja, morgen zur gleichen Zeit rufst du an. Ja, ich mache jetzt Schluß. Ich höre nichts mehr. Ja, der pure Wahnsinn.“
Tief in Gedanken schleiche ich mich in mein Zimmer, meiner rettenden Insel, zurück. Hier fühle ich mich sicher, hier habe ich Ruhe.
Die Tür wird krachend aufgerissen, als ich gerade auf dem Bett sitze, und ich zucke zusammen. Herz, was kannst du alles aushalten. Meine Hand rutscht auf meine Brust, als wolle es das kleine pochende Ding festhalten. Ach, du meine Güte, Gisela.
Die Fülle ihres Körpers nimmt fast die ganze Breite der Tür in Anspruch. Ihr massiger Busen wackelt unter ihrem hellbraunen Pullover fast im Dreivierteltakt. Sie schnauft und bekommt kaum Luft, als sie sagt: „ Lisa, du, ich fahre morgen ganz früh mit einem Auto nach Lübeck, dann mit dem Schiff Richtung Dänemark. Zollfreies Einkaufen auf dem Schiff. Butterfahrt. Mensch, Lisa. Davon habe ich immer geträumt. Es war für mich so unerreichbar. Ich werde wahnsinnig ... Morgen wird mein Traum wahr. Mein Lebenstraum. Ich kann es nicht fassen. Lisa, ich werd' echt verrückt, und wie soll ich die Nacht überstehen bis morgen früh? Lisa, Schatz. Ein Platz ist noch frei im Auto, für dich, komm doch mit.“
Mein Kopf, der schon vom vielen Stricken steif ist, erhebt sich mühsam und ich schaue zu Gisela.
„Ach, Gisela, mein Schatz. Laß mich lieber hier. Ich wünsche dir morgen viel Spaß, und komm mir ja wieder zurück und laß mich hier nicht allein. Bitte!.
Gisela kommt auf mein Bett zugesprungen, und ihr dicker Busen hüpft mir erneut um die Ohren. Ehe ich es verhindern kann, küßt sie mich, volle Breitseite, auf meinen Mund.
„Lisa, Süße, soll ich dir was mitbringen?“
„Ja, Schatz, Schokolade, und nun hau schon ab“.
Die ganze Nacht über gibt es wieder keine Ruhe im Haus. Türen fallen laut ins Schloß. Ein Taxi fährt vor, und ich höre laute Stimmen.
Irgendwer kocht sich Bohnenkaffee, und der Duft schleicht sich durch die Ritzen in mein Zimmer. Westkaffee. Ich will nur noch Westkaffee trinken in der Zukunft.
Nebenan höre ich jemanden weinen, und es berührt mich. In der oberen Etage wird laut durcheinandergesprochen. Die Heizung klopft, und ich möchte gern schlafen, kann es aber nicht. Ich falle von einem Wachtraum in den nächsten und Sorgen machen sich breit in meinem Hals.
Ich bin so weit weg von meinen Kindern und habe solche Angst vor dem, was da draußen in der Welt passiert.
Jetzt höre ich Musik aus unserem Aufenthaltsraum und ich schaue nach.
Ein leiser Blues erwärmt den Raum und ich sehe ein eng umschlungenes Pärchen langsam durch das Zimmer tanzen. Beide tragen einen grünen Trainingsanzug und ihre molligen Körper verschmelzen miteinander. Sie halten sich beide ganz fest und spüren nur den Klang des Saxophons und ihre eigene Körperwärme. Sie haben ihre Augen fest geschlossen und ein Lächeln schlummert auf ihren Gesichtern.
Eine dicke weiße Kerze brennt auf dem kleinen Tisch am Fernseher, und ich hin so gerührt, daß ich mich leise umdrehe und in mein Zimmer schleiche. Die Glücklichen, die Sorglosen. Neid erfüllt mein Herz.
Eine starke Männerbrust zum Anlehnen und Festhalten, ja, das wäre jetzt genau das Richtige für mich. Hier und heute, wo meine Nerven blank liegen und ich mich innerlich nach meinem Mann sehne, aber so, wie er einst einmal war.
Dieses Gefühl des verliebt seins ist so eine Droge, die mein kleines krankes Herz jetzt gut gebrauchen könnte. Ja, noch einmal im Leben in einen tollen Mann verliebt sein, das wäre schön.
So mit allem, was dazu gehört.
Ich zucke zusammen, denn ich höre eine Stimme.
Es singt ein Mann im tiefsten Bariton und aus voller Brust: „so ein Tag, so wunderschön wie heute ...“
Ja, aber vielleicht ist er gar nicht so wundervoll. Ich will jetzt endlich schlafen. verdammt noch mal.
Die Wut packt mich, und ich trommele mit beiden Fäusten auf den Fußboden meines Zimmers. „ Ruhe da unten, verdammt noch mal!“.
Dann heule ich los und stampfe wie ein Kind, das sein Spielzeug nicht bekam, mit dem Fuß trotzig auf. Vielleicht habe ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Den nächsten Tag verschlafe ich fast. Filmriß. Eine tiefe Müdigkeit, so wie ich sie noch nie erlebt habe, umklammert mich und läßt mich einfach nicht los. Normal ist das nicht, aber was ist schon normal, wenn die Welt da draußen kopfsteht.
Ich friere, trotz meinem dicken, grünen Trainingsanzug. Der Fußboden ist kalt und ich ziehe mir die warmen Winterstiefel an. Als ich diese im letzten Winter gekauft habe, war Kathleen mit dabei. Sie brauchte dringend neue Schuhe, eine Nummer größer als die jetzigen, denn sie ist so groß geworden.
Durch das Tragen von zu engen Schuhen sind schon zwei von ihren Zehen übereinander gewachsen. Es gab gerade neue Ware im Konsum und ich schlich mich unter Vortäuschung starker Migräne aus unserer Montagnachmittag-Parteiversammlung. Sie war Pflicht, ob Parteimitglied oder nicht. Ich drückte mich seit vielen Jahren erfolgreich um den Beitritt, und inzwischen wußte das auch keiner mehr. Es reichte, wenn Bruno seinen Beitrag monatlich hinblätterte. Punkt. Schluß.
Es gab Schuhe, das war jetzt wichtiger. Endlich. Kathleen hatte nicht ein Paar mehr, das ihr paßte und ich schämte mich deshalb sehr.
Sie tat mir so leid und dieses Problem macht mich seit Jahren wütend, doch es gab keine anständigen Schuhe für die Kinder. Nur, wenn man mal Glück hatte und zum richtigen Zeitpunkt im Schuhgeschäft war.
Vor dem Schuhgeschäft, dem einzigen in unserer Kleinstadt, zitterte Kathleen vor Kälte und wartete. Ich werde diese Situation nie vergessen können.
Mit ihr warteten schon viele andere Leute. Mist, es hatte sich herumgesprochen, daß es Ware gab. Wir stürmten beide hoffnungsfroh in den Laden und suchten wie die Goldsucher im Grand Canyon nach Schuhen. Irgendwelche, Hauptsache, Schuhe. Bequeme Schuhe für mein Kind wurden so dringend gebraucht.
„Hier, Mammi, komm schnell.“
Kathleen hatte ein Paar Stiefel in der Hand und hielt sie mir strahlend entgegen.
Der Preis spielte heute keine Rolle, aber er war schon gewaltig hoch. Egal, das Kind brauchte schöne neue Schuhe. Unbedingt. Und unbedingt heute.
Diese Stiefel hier aber paßten nicht, denn eine Nummer größer sollten sie sein oder zwei. Kathleen stürmte zu der Verkäuferin. Die suchte, und ich betete: „Bitte, bitte, bitte.“
„Leider nicht. Haben wir nicht da“, hörte ich sie leise sagen.
Das Gewitter kam dann auch prompt. Kathleen heulte und schrie so laut, daß sich alle Leute zu uns umdrehten.
Ich nahm sie in die Arme und versprach: „ Bitte, heul doch nicht, wir suchen weiter. Nimm irgendwelche, egal, Hauptsache, sie passen dir. Ich nehme mir am Freitag frei, und ich schreibe dir für die Schule einen Entschuldigungszettel. Wir fahren dann beide nach Brandenburg und suchen dort nach richtig schönen Schuhen und auch nach einem schönem Paar Stiefeln, ja? Vielleicht haben wir ja Glück..“
Kathleens Kopf kippte nach vorn, und ihre Schultern senkten sich. Sie ging wie das heulende Elend Richtung Ausgangstür, raus aus dem Laden, den wir eben noch beide so hoffnungsvoll betreten hatten. Draußen stellte sie sich in eine dunkle Ecke, dort neben dem hellerleuchteten Schaufenster dieses Scheißladens. Sie hatte ihre alten, runtergelatschten Stiefel an und war fertig mit der Welt, so wie ihre Mutter. Es war wie immer. Es gab nichts Gescheites an Schuhen und wenn, dann stimmte die Größe nicht. Ich selber fand für mich, einen Tag später, ein Paar warme Stiefel und hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen meiner Tochter gegenüber.
Die Menschenansammlung am Ende der Straße sah ich schon von weitem. Es war dunkel und die Straßen matschig. Leise rieselte Schneeregen vom Himmel. Oktoberwetter 1988. Ich packte Kathleen an der Hand.
„Komm, wir schauen mal, was es dort gibt“.
Widerwillig ließ sie sich mitziehen. Doch wir hatten Glück und gehörten an diesem Abend zu den Glücklichen, die einen hübschen Trainingsanzug erstanden, beziehungsweise zwei Stück. Einen für Kathleen und vorsichtshalber auch einen für Sabine. Man weiß ja nie, wann es mal wieder welche gibt. So kam es, daß Zwei auszogen, um neue Schuhe zu kaufen und dann mit Trainingsanzügen in der Tasche heimkamen. Auch Bruno kam strahlend zum Abendessen heim, er hatte Schonbezüge für den Trabi erwischt und drei Rindsrouladen fürs Sonntagsessen eingetauscht.
Wieder ein neuer Tag im Kurheim. Viele Kurgäste sind abgereist, und es ist etwas ruhiger im Haus geworden. Das Kurhaus steht so abseits der Zivilisation, so weit weg von allem, was nach einem Kurort aussieht, daß ich mir vorkomme, als sei ich auf einer einsamen Insel gelandet. Sicher kann man mit einem Bus in den Ort fahren, aber dazu habe ich keine Lust. Ich überlege hin und her, ob ich meinen Aufenthalt hier abbrechen soll, und warte darauf, daß mir einer sagt: „ Frau Kleinschmidt, fahren Sie ruhig nach Hause. Hat doch alles keinen Zweck hier “.
Jemand klopft laut an meine Tür. Laut und aufgeregt. Die Türklinke wird heftig heruntergedrückt.
„Es ist offen! “, rufe ich.
Gisela stürmt herein. Wie eine dicke Feuerwalze schnauft sie und stürzt auf mich zu. Ihr Kopf ist hochrot und ihr Blick irre. Die Brille ist verrutscht und ich sehe rote Flecken der Aufregung an ihrem Hals. Gisela packt mich mit ihren großen Mütterhänden und reißt mich an ihre Brust, wobei mir das Strickzeug regelrecht aus den Händen fliegt.
„Aua, Hilfe, nein“, schreie ich, doch es nützt mir nichts. Ich werde von ihr durchs Zimmer gerissen. Sie packt mich wie ein Tanzlehrer seinen Schüler und schwingt mich im Walzertakt durch den Raum. „Rum ta ta, rum ta ta“, singt sie, dann sieht sie mich an und lacht und weint zugleich. „ Lisa, ich hab' die Welt gesehen, ich hab' die Welt gesehen“.
Ich sehe mit Erschütterung in ihr strahlendes Gesicht. Eine Duftwolke von 4711, salziger Meeresluft, Schweiß und Tränen haftet an meiner sonst so stillen, lieben Zimmernachbarin. Völlig fertig und am Ende der Kräfte, vor lauter Glückseligkeit bebend, drückt sie mir eine riesengroße Tafel Schokolade in die Hände.
Sie hüpft schluchzend und lachend durch mein Zimmer, wirft mir eine Kußhand zu und dreht sich im Kreise.
Jetzt ist sie irre, durchgeknallt.
Gisela, Mutter von fünf Kindern.
Keiner sagt uns hier, wie es mit der Kur weitergehen soll. Ich beschließe daher eigenmächtig für mich, endlich an den Strand zu gehen. Allein zwar, aber die Ruhe gefällt mir, tut mir gut, so hoffe ich.
Der eisige Wind pfeift mir um die Ohren und ich ziehe mir die Strickmütze fester um den Kopf. Kalt, saukalt.
Klare Luft und das Geschrei der Möwen signalisieren mir die Nähe des Meeres. Nach ein paar wenigen Schritten stehe ich vor dem traumhaftesten Ostseestrand, den ich je gesehen habe, unberührt und sauber. In der Ferne sehe ich eine kleine Gruppe mutiger Menschen, die viel Spaß am Wassertreten haben und das auch laut herausschreien. Sie winken mir zu, denn ich soll auch kommen.
Nö, nö, ich nicht. Ich stecke meine Hände in die dicken Anoraktaschen und ziehe mir auch noch zusätzlich die Kapuze tief ins Gesicht. Hu, ist das kalt.
Denk an was Warmes, Lisa, geht es mir durch den Kopf.
In den Dünen finde ich eine kleine, geschützte Kuhle und ich laß' mich nieder.
Hier ist es schön. Der Himmel verteilt die Wolken neu und schickt mir einen leichten, zarten und warmen Sonnenstrahl ins Gesicht. Ich schließe die Augen und höre das Rauschen des Meeres. Es verzaubert mich. Ich verschränke meine Arme unter meinem Kopf und betrachte die Wolken über mir. Wann habe ich mich das letzte Mal so frei gefühlt? Nur ich, Lisa Kleinschmidt, keine Zwänge, keine Arbeiten, die es zu erledigen gibt, keine auferlegten Wege und Vorschriften. Frei sein wie die kleine Möwe dort oben am Himmel. Es ist ein gutes Gefühl, und seit heute fühle ich wieder eine innere Zufriedenheit und Ruhe in mir schlummern.
Vielleicht wird irgendwann alles gut, denke ich und öffne feierlich und behutsam diese wundervolle Tafel Schokolade. Hm.
Meine letzte Tafel Westschokolade bekam ich von meinen Töchtern zum Internationalen Kindertag am I. Juni in diesem Jahr geschenkt. Ich beschenke immer meine Kinder und erfülle ihre kleinen Wünsche, diesmal haben auch sie mich überrascht. Sie haben eins zu fünf Westgeld eingetauscht und eine wunderschöne Tafel Schokolade für ihre Mama gekauft. Ganz bestimmt auch mit dem Hintergedanken, daß ich ihnen ein Eckchen davon abgebe. Sie kennen mich zu gut, die Beiden.
Natürlich wurde die Tafel gerecht aufgeteilt. Durch drei. Bruno war nicht da.
Er hatte sich für eine Woche verabschiedet. Er wollte wohl zum Hochseeangeln fahren. So genau wußte ich es nicht und es interessierte mich auch nicht.
Er war weg für eine Woche, und ich hatte meine Ruhe. Punkt.
Diesen Tag, den Kindertag, besonders schön für die Kinder zu gestalten war jedes Jahr Ehrensache für alle Mitarbeiter des Kindergartens. Im letzten Jahr mietete ich einen Bus und wir fuhren mit dreißig Kindern in den Zoo. Das Jahr davor besorgte ich zwei geschmückte Pferdekutschen. Wir trabten damit gemütlich übers Land und besuchten den Nachbarkindergarten, wo meine Kollegin und Freundin Linda uns alle mit Kuchen und Würstchen erwartete. Diesen Sommer, am I. Juni, war es besonders warm.
Wir hatten wieder Glück mit dem Wetter.
Seit Anfang des Jahres habe ich für das Kinderfest Luftballons, Bastelmaterial, tolle Süßigkeiten, ein aufblasbares Planschbecken, sowie neue Bücher zusammengesucht und weggelegt. Zum Glück.
Nach dem Frühstück schmückten wir die Kinder mit Kränzchen und gebastelten Ansteckblumen und putzten sie alle fein heraus. So zogen wir mit sauber gewaschenen, hübsch gekämmten und toll dekorierten Kindern singend durch unser Dörfchen.
Am Haus der Bürgermeisterin warteten schon einige Mütter und Omas und Vertreter unserer Patenbrigaden. Alle hoben die bunte Kinderschar auf einen geschmückten Anhänger, der an einem extra dafür geputzten Traktor hing. Die bunten Bänder am Traktor und in den Haaren der Mädels flatterten im Wind, als wir knatternd durchs Dorf fuhren, geradewegs hinter der Feuerwehrkapelle, die unerwartet auftauchte und für uns einen Marsch blies.
Die Menschen am Straßenrand winkten uns zu, und so mancher Oma mit stolzgeschwellter Brust standen Tränen in den Augen.
Der Fotograf war pünktlich. Ganz Profi, schoß er viele Fotos, auf denen strahlende Knirpse in die Kamera schauten. Grosse Augen gab es vor allem auf dem Rückweg, als sie beim Aussteigen die kleine Eisbude vor dem Kindergarten entdeckten.
Schokoladen Eis für alle. Die Schulkinder, die unseren Traktor mit ihren Fahrrädern begleiteten, jodelten vor Freude, als sie hörten, daß auch sie ihre Eistüte abbekommen sollten.
Hinter dem Kindergartengebäude kehrte plötzlich Ruhe ein.
Pünktlich, als die Kinderschar eintrudelte und sich über das Schokoeis hermachte, waren die Arbeiten beendet. Die Männer von Brunos Brigade hatten auf dem Spielplatz eine neue Rutsche, selbst gebaut natürlich, für die Kinder aufgebaut. Dieses rot- und blaugestrichene Schmuckstück war die Sensation des Tages, und alle stürzten sich mit Gebrüll auf sie.
„Aber fein anstellen!“, rief ich allen zu, und sie hörten heute alle, sogar aufs erste Wort.
Die Frauen unserer zweiten Patenbrigade, die auf dem naheliegenden Hühnerhof arbeiten, waren auch schon da. Sie brachten selbstgebackenen Kuchen mit und zusammen mit dem Pudding und der bunten Götterspeise, die uns einige unserer Mütter spendierten, brach die lange Tafel mit Leckereien fast zusammen.
Ich hatte noch bunte Bonbons, Schokoladentaler und kleine Kaugummibälle über Westkontakte meiner Freundin vor Monaten besorgt und damit unserer Tafel einen Hauch von etwas Besonderem gegeben. Die Männer pusteten auf der Wiese das neue Planschbecken auf. Es gab Westkaffee für die Erwachsenen und Früchtebowle für die Kinder. Am Ende der Kuchen- und Schokoladenschlacht war von unserer kleinen
sauberen Kinderschar nichts übrig. Nur noch kleine, klebrige Krümelmonster, die es eilig hatten, rasch vor dem Mittagsschlaf noch einmal zu rutschen. Nur unser Freund Conny machte Ärger. Er klaute sich die Kaugummikugeln aus dem Glas und stopfte sie sich grinsend in den Mund. Alle.
Er grinste nicht lange, denn er verschluckte sich mächtig und als ich ihm auf den Rücken klopfte, wuchs ihm eine Kaugummiblase aus der Nase heraus. Das war der Brüller. So im Mittelpunkt des Gelächters zu stehen, fand er plötzlich blöd, und er spuckte seine saftige Kaugummimasse in unsere Kinderbowle.
Als er sich gerade über unsere angeekelten Gesichter freuen wollte, kam unser Hausmeister um die Ecke. Erich trug einen Arm voll kleiner Kastanienbäume vor sich her und rief: „Herzlichen Glückwunsch zum Kindertag. Ich spendiere euch zwanzig kleine Kastanienbäume, dann könnt ihr im nächsten Jahr viele Kastanien aufsuchen und habt später Bäume zum Klettern und Schatten auf eurem Spielplatz.“
„Danke, Erich“, sagte ich und eilte ihm zu Hilfe, denn die ersten Bäumchen rutschten ihm aus den Armen.
„Lisa, ich pflanze die Bäumchen gleich für euch ein, du hast doch heute selber so viel zu tun.“
„Danke sehr, aber vorher mußt du noch den Kuchen probieren und eine Tasse Kaffee trinken, ja?“, sagte ich lachend zu ihn.
So verging der Vormittag ruck, zuck, und nachdem uns die LPG-Küche Bratkartoffeln und Pudding mit Kirschen als Mittagessen geschickt hatte, dem absoluten Lieblingsessen der Kinder, wurden alle unsere Dreckspatzen von den Müttern und Frauen der Patenbrigade abgeduscht oder heute einmal früher abgeholt.
Somit hatten wir liebe, tief schlafende und glückliche Kinder und konnten ein gelungenes Kinderfest abbuchen. Als alle schliefen, räumten wir das Schlachtfeld auf und halfen unserer Küchenfee Traudel in der Küche beim Abwasch.
Wie schön, alle artig, alle zufrieden, wie eine schöne große Familie.
Ich öffne meine Augen, bin hellwach, denn ich höre Stimmen in meiner Nähe. Stöhnt da wer?
Suchend richte ich mich ein wenig auf. Ach du meine Güte, ich war hier im Sand tatsächlich eingeschlafen und in meinen Träumen versunken.
Ganz in meiner Nähe vergnügt sich leise ein Liebespärchen im Sand. Sie küssen sich heiß und innig und sind so mit sich beschäftigt, daß sie alles um sich herum vergessen haben. Ihre Strickmützen sind verrutscht und ihre Winterjacken liegen neben ihnen im Sand. Es ist ihnen wohl doch etwas heiß geworden, denn ihre Gesichter sind rot vor Erregung und auch schweißgebadet. Sie ahnen nicht, daß sie beobachtet werden. Die will ich mal lieber nicht stören.
Ich stecke mir das letzte Stück Schokolade in den Mund und das Papier in meine Hosentasche. Sand rieselt aus meinen Ärmeln, und ich finde einen hübschen Stein mit einem Loch, als ich mich auf allen Vieren davonschleiche.
Stein mit Loch, das ist ein Hühnergott. Spuck drauf, Lisa, das bringt Glück und das kannst du gut gebrauchen, denke ich.
Im Kurhaus angekommen, entdeckt mich Gisela. Sie zieht mich mit sich.
„Komm, Lisa, ich habe in der Küche Bratkartoffeln mit Rührei gemacht“.
Komisch, denke ich, davon habe ich gerade geträumt. Ich hake mich bei ihr unter und folge ihr gern, denn mein Magen knurrt auf einmal laut und ich verspüre einen großen Hunger.
In meinem Zimmer angelangt greife ich mir das Strickzeug und beginne den nächsten Pullover zu stricken.
Ja, der Internationale Kindertag, am 1. Juni, war richtig toll.
Wie wird er im neuen Jahr sein? Jetzt, wo die Grenzen offen sind?
Eine Vorstellung habe ich nicht. Gut und Böse liegen so nah beieinander.
So wie damals der folgende Tag im Kindergarten. Es war der Tag nach der fröhlichen Kinderparty. Meine Kollegin Anneli kam mir damals schon an der Haustür unseres Kindergartens entgegengeflogen.
„Komm mal mit!“
Sie führte mich mit schnellen Schritten auf unseren Spielplatz.
Unsere neue Rutsche, gestern so bunt und schön, sah heute etwas seltsam aus.
Was war hier los. Ein ganz besonderer Duft lag in der Luft, je näher man herantrat. So seltsam und doch irgendwie bekannt. Was ist das bloß? Ich mußte noch näher herantreten, um zu erkennen, was es zu erkennen gab.
„Oh, mein Gott, Anneli, das ist doch nicht etwa ... “
Doch.
Ein Meisterwerk. Der hier gearbeitet hatte, hat sich echt viel Mühe gegeben. Alle Achtung. Respekt. Unsere Rutsche war ein einziger brauner Kackhaufen.
Alles schön breitgeschmiert und angetrocknet.
Instinktiv kneifen wir uns zur gleichen Zeit die Nasen zu. Ich weiß wirklich nicht, ob ich lachen oder fluchen soll, so komisch ist die Situation. Ein Blick zu meiner Kollegin: „Anneli, wir lassen uns die Laune nicht verbieten. Komm, Wassermarsch.“
Keine Fragen, keine Strafen, kein : W e r w a r d a s .
Am folgenden Tag traf mich meine Anneli, die mittags ihren Spätdienst antrat, dabei an, wie ich erstarrt und in Gedanken versunken dabei war, an meinem Daumennagel zu pulen. Ein untrügliches Zeichen für sie, daß etwas nicht stimmte. Anneli setzte sich zu mir auf die Gartenbank, die mittig auf der Spielwiese stand, so daß wir alle Kinder von dort aus gut im Blick hatten. Es waren nur vierzehn Kinder anwesend, denn meine zweite Kollegin Karin ging mit ihrer Gruppe einen Spaziergang machen. Sie hatte ziemlich fluchtartig das Gelände verlassen. „ Lisa, ich hau ab, sonst kriege ich hier' ne Krise“, rief sie mir noch zu.
„Lisa, sag schon, was ist los ?“, Anneli sah mich fragend an und zog mich am Arm.
Ich konnte nichts sagen, sondern zeigte nur mit der Hand in Richtung Zaun. Da waren alle zwanzig Kastanienbäumchen, die wir gestern nachmittag noch behutsam und mit Fleiß gegossen hatten, an der oberen Spitze abgebrochen. Alle. Wirklich alle. Das war's mit Kastanienbäumchen.
Eine gedrückte Stimmung herrschte den ganzen Tag über. Es hatte mich getroffen, so richtig mitten ins Herz. Das werde ich wohl nie in meinem Leben vergessen. Der Anblick hat sich tief in mein Gehirn eingepflanzt.
Und unter Connys Nägeln glänzte noch der grüne Pflanzensaft.
Wenn ich ihm jetzt nicht aus dem Wege gehe und er mich noch einmal so blöd angrinst, dann vergesse ich mich.
Ich übersehe ihn heute und spreche ihn den ganzen Tag nicht an. Keine seiner Fratzen und Provokationen erreicht mich. Du schaffst mich nicht, du nicht. Ich fühle mich ausgebrannt und kraftlos. Anneli bringt mir eine Tasse Westkaffee und ich bin mit den Nerven am Ende, als ich an diesem Tage nach Hause komme.
Ein Tag wie viele andere, so ist auch der nächste Tag im Kindergarten. Alle Kinder schlafen, doch Conny will nicht, er muß mal zur Toilette. Ich laß ihn aufstehen, denn er mault ja doch so lange, bis er seinen Willen bekommt. Er bleibt besonders lange, und es beunruhigt mich. Leise schleiche ich aus dem Schlafraum der Kinder und entdecke ihn. Er hockt vor unserem Kühlschrank und stopft sich gierig und mit beiden Händen den letzten Kuchen in den Rachen. Der Kuchen war für heute nachmittag zum Kaffeetrinken für alle Kinder. Jetzt ist er weg. Ärgerlich schicke ich ihn in den Waschraum und dann zurück auf die Liege. Fast alle Kinder schlafen noch. Er geht durch die Reihen der Turnbänke auf denen die Kinder ihre Sachen ordentlich abgelegt haben, denn sie gehen immer mit Schlafsachen ins Bett. Conny geht vorbei, schaut mich an und schiebt mit einer Hand so nach und nach alle Sachen der Kinder von den Bänken auf den Fußboden herunter. Er provoziert mich, und ich bleib ruhig, damit keines der anderen Kinder wach wird. Ich bin wütend, ich gebe es zu, aber ich schlucke meinen Zorn runter, nur das ärgert ihn am meisten, ich weiß es.
Am nächsten Tag hat Conny wieder mächtig schlechte Laune, denn er hat seinen kleinen Kompaß verloren. Er heult und tobt und tritt alle Puppenwagen um, die ihm im Weg stehen. Keiner vermag ihn abzulenken, und nun suchen wir alle für ihn. Auf dem Spielplatz draußen finde ich ihn.
„Conny, guck mal, ich habe deinen Kompaß gefunden.“
Er kommt, steht vor mir, schaut mich einen Moment schief an.
„Steck ihn gleich in deine Brottasche. damit du ihn nicht wie-
der verlierst, ja? “
Im nächsten Moment greift er mit beiden Händen in die Jackentaschen meines neuen Samtblazers, tritt mir in den Bauch und reißt mir nebenbei die Jackentaschen aus. Ich krümme mich vor Schmerzen und habe ein grinsendes Kindergesicht vor mir. Meine schöne neue Jacke ist futsch.
Weil er unter sechs Jahren alt ist, bezahlt die Versicherung keinen müden Pfennig, das ist mir klar. Am Nachmittag spreche ich mit seiner Mutter, doch es bringt mich auch nicht weiter. Ich zähle die Wochen bis zu seiner Einschulung und kaufe mir eine große Packung Kopfschmerztabletten.