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3. Durch „Revolution“ zur „Weltherrschaft“: Das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung

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Mustert man die Schlüsselbegriffe, mit denen das Papsttum des Hochmittelalters in der modernen Forschung charakterisiert wurde und wird, fällt unschwer die verbreitete Neigung auf, die Entwicklung mit martialischen Begriffen zu charakterisieren. Dies hängt neben sachlichen Gründen ganz augenscheinlich auch mit der Tatsache zusammen, dass die Institution des Papsttums in vielen Jahrhunderten Akteur und Partei in religiösen und politischen Konflikten war und sich deshalb Stereotype verfestigt haben, die eine distanzierte Objektivität der Urteile erschwerten. Die Erforschung der Papstgeschichte leidet zum Teil bis heute darunter, dass Wertungen auf diesem Feld schnell unter den Verdacht gestellt werden, sie seien entweder „Apologie“ oder „Denunziation“16. Wie schwer es bei diesem Forschungsobjekt offensichtlich war und ist, eine kritische Distanz zum Gegenstand einzunehmen, vermag vielleicht schlaglichtartig die Tatsache zu erhellen, dass der bekannte englische Erforscher des Papsttums, Geoffrey Barraclough, im Literaturverzeichnis eines seiner einschlägigen Werke die Konfession aller zitierten Autoren angab.17 Dies war nicht unberechtigt, da die jeweiligen Positionen der Autoren offensichtlich häufiger von ihrem religiösen Bekenntnis in chrakteristischer Weise beeinflusst wurden, was hier nicht im Einzelnen verfolgt werden soll. Im Folgenden seien lediglich Tendenzen der Urteile skizziert, um vor allem einige der bisherigen Hauptrichtungen der Forschung einsichtig zu machen.18 Diese Darlegung wird aber auch den Nebeneffekt haben zu zeigen, dass die Leitfragen dieses Buches bisher nicht beantwortet worden sind, auch wenn sie durchaus anklangen.

Weit verbreitet ist bis heute die Auffassung, dass die Veränderungen, für die im 11. Jahrhundert vor allem der Name Papst Gregors VII. stand, als „revolutionär“ und als „päpstliche Revolution“ adäquat zu bezeichnen seien. Diese Begriffsbildung fand vor allem im angelsächsischen Raum Resonanz, wo sie mit Harold Berman oder Karl Leyser prominente Verfechter hatte19. Aber auch Johannes Haller benutzte bereits den Begriff der „kirchlichen Revolution“, deren Beginn er mit der Erhebung Papst Nikolaus’ II. ansetzte, mit dem das Papsttum „die Bahn der Reform verlassen und die Fahne der Revolution entrollt“ habe.20 In der Schrift Humberts da Silva Candida gegen die Simonisten sah Haller das Programm dieser Revolution bereits formuliert. Dennoch war für ihn die Revolution auch fest mit dem Namen und Wirken Gregors VII. verbunden: „dass Petrus und in seinem Namen der Papst auch die Welt beherrsche, dieser Gedanke ist Gregors Eigentum“.21 Und er charakterisierte Gregors Herrschaftsauffassung in einer wirkmächtigen und bis heute richtungsweisenden Art: „Sein Herrschertum wurzelt ganz im Jenseitsglauben, die päpstliche Weltherrschaft, wie er sie denkt, ist eine religiöse Idee … aber sein Gott war nicht der liebende Vater, nicht der Gott der Gnade und der Barmherzigkeit. Es war der Gott des Alten Testaments, der zürnende und strafende Richter und Rächer, dem man zu dienen hatte mit Furcht und Zittern.“22 Die wichtige Rolle des Alten Testaments bei der Legitimierung der neuen Geltungsansprüche des Papsttums im 11. Jahrhundert hat Haller ganz richtig gesehen. Sie wird uns immer wieder intensiv beschäftigen.

Auch Harold Berman macht das Revolutionäre der gregorianischen Veränderungen an ihrer „Totalität“, „Schnelligkeit“ und „Gewaltsamkeit“ fest. Er stellt aber auch die Frage: „Wie konnte das Papsttum, das keine eigenen Heere hatte, seine Forderungen durchsetzen?“23 Beeinflusst von seinem Interesse an der Herausbildung der westlichen Rechtstradition, fand Berman die Antwort in der Überlegung, dass das Kirchenrecht sich als eine „Quelle der Autorität“ und als „Mittel der Kontrolle“ herausgebildet habe, und er beschreibt einen Vorgang, der auch für unsere Untersuchungen von Bedeutung sein wird: „Während der letzten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts begann die päpstliche Partei die kirchengeschichtlichen Dokumente nach autoritativen juristischen Stützen für die päpstliche Oberhoheit über die gesamte Geistlichkeit sowie deren Unabhängigkeit von, und möglicherweise Überordnung über den gesamten weltlichen Teil der Gesellschaft zu durchsuchen. Zur selben Zeit begann auch die kaiserliche Partei mit der Suche nach alten Texten, die ihre Sache gegen die päpstlichen Übergriffe stützen würden.“24 Um genau diesen Vorgang – die Suche nach autoritativen Stützen für die eigenen Geltungsansprüche –, seine Methoden und Argumente wird es auch in den folgenden Kapiteln gehen. Berman hat ihn nämlich nicht genauer dargestellt und analysiert.

Eine der am tiefsten dringenden Untersuchungen des hier behandelten Problems verdanken wir Walter Ullmann, dessen Werk „The Growth of Papal Government in the Middle Ages“ (1955) im Jahre 1960 ganz bezeichnenderweise im Deutschen unter dem Titel „Die Machtstellung des Papsttums im Mittelalter“ publiziert wurde.25 Er behandelt das Reformpapsttum vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung der päpstlichen Würde im gesamten Mittelalter und sieht die historische Bedeutung Gregors VII. vor allem darin, dass er die bereits vorhandenen „hierokratischen Grundsätze“ in konsequenter Weise „in konkrete Regierungshandlungen“ übertragen habe.26 Für ihn war das keine Revolution und auch das Wort Weltherrschaft ist für Ullmann kein adäquater Begriff. Er hält es vielmehr für eine wichtige Erkenntnis Gregors, „wie notwendig für die Regierung der societas christiana Recht und Gesetz waren … Hierokratische Prinzipien, wie sie sich in früheren Zeiten aus päpstlichen Verfügungen und historischen Ereignissen entfalteten, erwiesen sich in ihrer Gesamtheit als iustitia. Diese Grundsätze sollten aufgeschlüsselt im Einzelnen für die praktische Regierung der societas christiana zugänglich gemacht werden. Von diesen Prinzipien war jedoch keines wesentlicher als das von der Funktion der römischen Kirche als Zentrale und Kern der ganzen Christenheit, des bischöflichen Stuhles, der, weil er einst dem heiligen Petrus zugehört hatte, nun den principatus besaß.“27

Hier klingt deutlich an, dass Gregors Handeln von einer Gesamtheit hierokratischer Prinzipien geleitet wurde, deren Kern die Binde- und Lösegewalt des römischen Bischofs aufgrund seiner Nachfolge Petri darstellte, wie man sie aus Matthäus 16,18ff. ableitete. Damit wurde der Primats- und Herrschaftsanspruch des Papstes in Kirche und Welt legitimiert. Wir werden sehen, dass man sich aber seit Gregor VII. nicht nur dieser Stelle bediente, um die neuen Geltungsansprüche zu untermauern.

Für Ullmann gehörte zu den neuen Geltungsansprüchen auch die Legitimation von Gewaltanwendung, denn es war „die Pflicht jedes verantwortungsbewussten Herrschers“ – und als ein solcher verstand sich Gregor VII. nach Ullmann –, die gewaltsame Unterdrückung aller Bewegungen und Umtriebe zu veranlassen, „die den dauernden Bestand der Gesellschaft gefährden oder ihre Grundlagen angreifen“.28 Konsequent verfolgt hat Ullmann diesen Gedanken jedoch nicht, wie sein allzu knapper Verweis auf die hiermit angesprochene Problematik zu verdeutlichen vermag: „In die Gruppe der Vorbeugungs- und Abwehrmaßnahmen durch Polizeiaktionen sollte bald auch die Verfolgung der Häretiker fallen.“29

Diese nicht weiter konkretisierte oder problematisierte Einschätzung wird der fundamentalen Bedeutung, die die Wendung zur Legitimierung der Gewaltanwendung und zu ihrer Anwendung durch die Kirche unter Gregor VII. hatte, wohl nicht gerecht. Ullmann hat insgesamt diesem Problem wenig Aufmerksamkeit zugewandt. Das große Ausmaß der Bemühungen der Päpste um eine überzeugende Begründung der Gewaltanwendung, das in den folgenden Kapiteln diskutiert werden soll, dürfte hinreichend den hohen Stellenwert deutlich machen, den diese Frage für das neue päpstliche Selbstverständnis hatte. Auf diesem Felde besteht aber immer noch eine beträchtliche Unschärfe unserer Kenntnisse.

In einer ganzen Reihe von Arbeiten hat sich Ian S. Robinson mit den hier interessierenden Themen befasst. Einschlägig ist vor allem sein Buch über „Authority and Resistance in the Investiture Contest“, das die Streitschriften des Investiturstreits aus ganz unterschiedlichen Perspektiven analysiert. Ihm sind neben einer Fülle von Einzelbeobachtungen auch wichtige Systematisierungen zu verdanken. An verschiedenen Stellen kommt er auch auf die biblische Basis der Geltungsansprüche des Reformpapsttums und Gregors VII. zu sprechen – so auch auf die für dieses Buch wichtige Erzählung des 1. Buches Samuel 15,22ff. über den Stellenwert von Gehorsam gegenüber Gott –, doch ist Robinson auf den Zusammenhang zwischen Gehorsamsforderung und Legitimation von Gewaltanwendung nicht eingegangen.30

In der französischen Forschung hat die réforme grégorienne in der Vergangenheit mehrfach eine intensive und umfassende Behandlung erfahren. Augustin Fliche und Henri-Xavier Arquillière haben in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts breit angelegte, ideengeschichtliche Studien gerade über die geistigen Grundlagen und die Konzeption vorgelegt, die hinter der neuen Auffassung von der pouvoir pontifical standen.31 Letzterer hat dieses Thema in einer Studie über „L’Augustinisme politique“ wieder aufgegriffen.32 Eigen ist beiden Abhandlungen neben einer großen Vertrautheit mit den einschlägigen Quellen und mit der internationalen Forschung ihrer Zeit eine nicht zu übersehende Sympathie für die Gestalt, das Denken und die Wirkung Gregors VII. Beide Arbeiten setzten für die folgende internationale Forschung Maßstäbe, gaben aber auch in verschiedener Hinsicht eine bestimmte Richtung vor.

Im Unterschied zu vielen älteren deutschen Bemühungen fehlt den französischen Arbeiten verständlicherweise jedwede Parteinahme für das salische Königtum, wie sie die deutsche Forschung lange kennzeichnete. Dies führt zu einer deutlich positiveren Würdigung der Leistung Gregors VII., „qui fut le héraut imperieux et incorruptible de la justice dans la chrétienté médiévale“.33 Nicht zufällig sind beide Autoren im Literaturverzeichnis von Barraclough mit der Sigle C ausgewiesen.34 Vielleicht erklärt dies eine gewisse Einseitigkeit ihrer Wahrnehmung: Für unsere engere Fragestellung bieten sie nämlich weniger Anknüpfungspunkte, da von ihnen der Zusammenhang der neuen gregorianischen Legitimation von Gewalt mit den Aktivitäten zur Durchsetzung und Sicherung der eigenen neuen Geltungsansprüche nicht thematisiert wurde. In der modernen französischen Forschung werden diese Arbeiten denn auch nicht benutzt, wenn die Entstehung des Kreuzzugsgedankens im 11. Jahrhundert nachgezeichnet wird.35

Schon früh hat sich, wie eben schon angesprochen, als Terminus für die Ziele des Reformpapsttums auch der Begriff „Weltherrschaft“ etabliert, der wohl eher eine Schöpfung älterer deutscher Forschung ist, sich aber bis in die Kapitelüberschriften moderner Darstellungen gehalten hat.36 Mit diesem Begriff wird der Anspruch der Päpste bezeichnet, den hartnäckig und wirkungsvoll zuerst Gregor VII. zum Ausdruck gebracht hatte, Weisungsgewalt über alle Christen zu besitzen, die Könige und Kaiser eingeschlossen. Johannes Haller hat dies im Zusammenhang seiner Darstellung der zweiten Bannung Heinrichs IV. durch Gregor im Jahre 1080 unter der Überschrift „Weltherrschaftsgedanke“ so formuliert und akzentuiert: „Aus jedem Satz (seiner Bannsentenz, die Gregor in einem Gebet an die Apostelfürsten Petrus und Paulus formuliert hatte) spricht zu uns das Selbstgefühl eines Menschen, der in dem Bewusstsein überirdischer Sendung sich berufen und befähigt glaubte, der Welt uneingeschränkt zu gebieten. Wie leicht machte er es sich mit der Begründung seines Urteils über Heinrich! … er erschrickt nicht, wenn er sich vorstellt, welch ungeheure Machtfülle und welche Verantwortung einem Einzelnen mit dieser Behauptung zugesprochen und aufgebürdet ist! Für Gregor ist es eine so einfache Sache, dass er sich bei der Begründung nicht aufhält. Ein einfacher Schluss a fortiori genügt ihm: die Apostel verfügen über geistliche Dinge, also dürfen sie es erst recht über weltliche tun. Auf diese einzigen Gedanken, diesen kurzen Satz ist die Weltherrschaft des Papstes gebaut.“37

Es wird zu prüfen sein, ob sich Gregor VII. in der Tat so wenig Mühe gegeben hat, die neuen Geltungsansprüche seines Amtes zu fundieren und zu legitimieren, wie es Haller und viele andere deutsche Forscher zum Ausdruck gebracht haben, die in der Auseinandersetzung der höchsten geistlichen und höchsten weltlichen Gewalt sehr entschieden die Partei des deutschen Königtums ergriffen. Es mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass die explosionsartige Ausweitung von Schriftlichkeit, wie sie sich an den Streitschriften, den Briefen und Briefsammlungen, aber auch an der Vielzahl und Ausführlichkeit historiographischer Zeugnisse ablesen lässt, sich nicht zuletzt dem Bemühen der Gregorianer wie der Antigregorianer verdankt, die neuen Geltungsansprüche entweder zu begründen und zu belegen oder anzuzweifeln und anzugreifen. Dies spricht deutlich gegen Hallers Sicht, dass Gregor sich mit der Begründung seiner Herrschaftsansprüche nicht lange aufgehalten habe.

Wirkmächtig zusammengefasst und ins deutsche Geschichtsbild geschrieben findet man die deutsche Meistererzählung über das lange Ringen von Kaisertum und Papsttum um die Ordnung von Kirche und Welt auch in Karl Hampes „Hochmittelalter“, wie schon ein Blick auf dessen Kapitelüberschriften zu verdeutlichen vermag: „1. Aufstieg Deutschlands zur Hegemoniestellung“; „5. Machthöhe des Deutschen Reiches unter den ersten Saliern“; „6. Aufstieg des Papsttums und der romanischen Welt“; „7. Gregor VII.“; „8. Urban II. und die Kreuzzugsbewegung“; „9. Fortgang und Ende des Investiturstreits“; „12. Die Feuerprobe des Papsttums im Ringen mit der staufischen und anglonormannischen Feudalmacht“; „13. Neue Entfaltung der Kaisermacht“; „14. Die Weltherrscherstellung Papst Innocenz III.“; „15. Letzte Aufrüstung von Papstkirche und Kaisertum“; „16. Endkampf der beiden Universalmächte“.

Die Geschichte des Hochmittelalters konzentriert sich aus dieser Perspektive ganz auf das Ringen von deutscher Königs- und Kaisermacht mit den Päpsten, wobei der Aufstieg der einen Macht notwendig den Abstieg der anderen zur Folge hat. Dass beide Gewalten in pax und concordia zusammenarbeiten könnten, wie es die Gelasianische Zwei-Gewalten-Lehre formuliert hatte, hat in diesem Geschichtsverständnis wenig Platz.

Es ist wohl kein überzogenes Urteil, wenn man solche Überschriften als Manifestationen einer protestantisch-nationalgestimmten deutschen Geschichtsschreibung sieht, die im Papsttum einen der „Totengräber der deutschen Königsmacht“ diagnostizierte. Sie ergriff entschieden Partei für die um ihre vermeintliche Macht ringenden Könige, die von den Päpsten in Canossa (1077), in Venedig (1177) und in Lyon (1245) gedemütigt und in den „Untergang“ getrieben worden seien.

Über die Päpste formulierte Hampe denn auch Urteile wie dieses über Gregor VII: „In seiner Gier nach Rechtstiteln für die Herrschaftsansprüche der Kirche sind ihm in der Auslegung seiner Quellen so ungeheuerliche Vergewaltigungen der Wahrheit untergelaufen, daß ihn nur völlige Voreingenommenheit und blinde Hast vor dem Vorwurf bewußter Unehrlichkeit schützen.“38 Die gleiche Entschiedenheit in der Ablehnung verrät auch Hampes Einschätzung von Papst Innozenz IV., der Kaiser Friedrich II. in Lyon absetzte: „In der ganz einseitigen Konzentration allein auf den Vernichtungskampf, in der völlig skrupellosen, aber auf das feinste berechneten, oft schlau verhüllten Handhabung der diplomatischen Waffen sollte sich bald Innocenz IV. der unendlich genialeren, aber eben durch ihren Reichtum unmöglich auf ein einziges negatives Ziel gerichteten, von leidenschaftlichen Spannungen erfüllten Natur des Staufers als überlegen erweisen.“39

Wie die „ungeheuerlichen Vergewaltigungen der Wahrheit“ aussahen, mit denen Gregor und seine Nachfolger ihren Kampf gegen die Kaiser führten, hat Hampe in diesem Zusammenhang nicht erläutert. Diese Einschätzung war herrschende Lehre, die man nicht mehr im Einzelnen begründen musste. Man geht aber wohl nicht fehl in der Annahme, dass Hampe mit dieser Charakterisierung genau die theologischen und exegetischen Argumente im Auge hatte, mit denen die Reformpäpste und ihre Helfer die neuen Geltungsansprüche des Papsttums untermauerten. Für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Argumenten nahm er sich jedoch nicht die Zeit.

Dabei hatte schon am Ende des 19. Jahrhunderts Carl Mirbt in seiner profunden Abhandlung über „Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.“ beeindruckendes Material aufbereitet, das die Einschätzung der Grundlagen gregorianischen Denkens und Argumentierens auf eine neue Basis stellte.40 Er hatte nämlich die Argumentationen vor allem in den Streitschriften des 11. und 12. Jahrhunderts analysiert, in denen mit großem Aufwand an Gelehrsamkeit die Standpunkte der verschiedenen Parteien zu allen strittigen Fragen wie Zölibat, Simonie, Investitur, Gültigkeit der Sakramentenspendung, Problem der Eideslösung und vielen anderen schriftlich vorgetragen und diskutiert wurden. In dieser Arbeit werden auch Fragen der Zeit wie „die Anwendung äußerer Gewalt gegen Häretiker“ und ihre Beantwortung auf der Grundlage aller christlichen Autoritäten vorgestellt. Sie bietet damit eine unschätzbare Materialbasis für das Denken des Kreises der Gregorianer wie ihrer Gegner gerade zur Thematik der Erlaubtheit von Gewalt unter bestimmten Bedingungen. Wir werden daher in mehreren Kapiteln auf diesen Vorarbeiten aufbauen können und dabei vor allem klären müssen, inwieweit die vielen kontroversen Diskurse und Argumentationen in der Publizistik zu den Konsequenzen zählen, die die neuen päpstlichen Geltungsansprüche hatten. Hier gilt es zu prüfen, inwieweit der vielstimmige Chor Antwort auf Fragen gibt, die zentral vom Papsttum gestellt worden waren.

Gerd Tellenbach hat demgegenüber einen Quellenbegriff zum zentralen Terminus seiner Behandlung des Reformpapsttums gemacht: libertas ecclesiae.41 Dennoch formulierte auch er Ergebnisse, die denen Johannes Hallers nicht fernstehen, jedoch weniger Partei ergreifend als beschreibend: „Gregor VII. … steht an der großen, vielleicht der einzigen inneren Wende in der Geschichte des katholischen Christentums: damals gewann die Weltgewinnungstendenz deutlich die Oberhand über die Weltabwendungstendenz: die Welt wurde in die Kirche einbezogen, und die Bahnbrecher der neuen Zeit machten sich daran, die ‚rechte‘ Ordnung in dieser geeinigten christlichen Welt herzustellen. Als wichtigste Aufgabe aber erschien es ihnen, die Herrschaft des ‚Knechtes der Knechte Gottes‘ über die Könige der Erde aufzurichten.“42 Und an anderer Stelle: „Diese Macht des kirchlichen Weltherrschaftsgedankens ist nur dann zu erklären, wenn man erkennt, dass er in tiefen religiösen Schichten wurzelt … Der mystischhierarchische Gedanke erwächst selbst aus dem Glauben daran, daß Gott zu den Menschen herabschreitet und ihm dabei gleichsam als Stufen die Scharen seiner Geistlichen dienen. Wenn also die Kirche und die Hierarchie ihrer Diener selbst an Christi Mittlerschaft teilhaben, wenn sie dazu da sind, Himmel und Erde miteinander zu verbinden, so muß ihnen gerechterweise alle Welt in Ehrfurcht unterworfen sein.“43

Zwar hat sich Tellenbach an verschiedenen Stellen seiner Studie intensiv mit den Grundlagen und der Entstehung der päpstlichen Herrschaftsansprüche beschäftigt, doch hat er dabei unsere Leitfrage nach der Rechtfertigung von Gewalt zur Durchsetzung dieser Ansprüche nicht eingehender behandelt. Er ist später jedoch verschiedentlich auf das Thema seiner Habilitationsschrift zurückgekommen.44 Hierbei hat er unter vielen anderen Beobachtungen auch eine besonders akzentuiert, die für die folgenden Untersuchungen wesentlich ist: Gregors „Machtpolitik war leidenschaftlich, aber von religiösen Prinzipien bestimmt. Nämlich: dem Papst zu gehorchen als dem Stellvertreter Christi auf Erden ist nach Gregor Glaubensnotwendigkeit, ihm den Gehorsam zu verweigern ist Häresie.“45 In dieser Aussage versteckt sich ein Bibelzitat (1 Samuel 15,22–23), dessen Bedeutung für das Amtsverständnis Gregors VII. bisher kaum zureichend gewürdigt worden ist. Sein Stellenwert für Gregor und das päpstliche Selbstverständnis wird Gegenstand des ersten Untersuchungskapitels sein.

Die Legitimation von Gewalt durch die Kirche steht naturgemäß bei Carl Erdmann ganz im Vordergrund des Interesses, der mit seinem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens ein bis heute weitgehend gültiges Bild vom Verhältnis der Kirche zur Gewalt entworfen hat.46 Er bietet einen umfassenden ideen-, institutionen- wie symbolgeschichtlichen Abriss der Entwicklung des Gedankens, Christen dürften unter bestimmten Umständen Waffengewalt anwenden. Von besonderem Interesse für die folgenden Untersuchungen sind vor allem die Untersuchungen der Diskurse, in denen im Investiturstreit „für und wider den Krieg der Kirche“ argumentiert wurde.47

Hier hat Erdmann eine genaue Aufarbeitung der Argumente geleistet, die vor allem in den Streitschriften zu dieser Frage enthalten sind. Insofern profitieren wir in entscheidender Weise von diesen Vorarbeiten. Charakteristisch für Erdmanns Vorgehensweise ist allerdings, dass er vorrangig die Argumente referiert, die häufig mit biblischen oder patristischen Zitaten unterlegt wurden. Die Bedeutung dieser Belegstellen für das Verständnis der Argumente hat Erdmann nicht näher untersucht. Hierdurch wird ein wichtiger Aspekt für das Verständnis der Argumentationen vernachlässigt, was sich durch die Zielrichtung seiner Untersuchung erklärt. Erdmann war ja an der Entstehung des Kreuzzugsgedankens interessiert, nicht an einer Dokumentation und Auswertung der biblischen oder patristischen Grundlagen der päpstlichen Argumente. Gerade hier wird jedoch unsere Untersuchung in den nächsten Kapiteln ihren Schwerpunkt haben.

Für Gregor VII. liegt aus der neueren Literatur mit der Biographie aus der Feder Herbert Cowdreys eine Arbeit vor, deren Materialfülle und Reichtum an Aspekten gleichermaßen beeindruckend sind. Das Buch bietet für viele unserer Fragen Hilfestellungen unschätzbarer Qualität; für unsere Leitfrage dagegen eher weniger. Dies liegt daran, dass Cowdrey die Affinität Gregors VII. zur Gewaltanwendung im Dienste und Auftrag der Kirche nicht zusammenhängend thematisiert hat. Zwar bietet er ein Unterkapitel über die Bedeutung von Gehorsam für Gregor VII. und zitiert auch die von diesem Papst immer wieder benutzte Bibelstelle (1 Samuel 15,22–23), in der Gehorsam als höchst wichtige Haltung eingefordert, Ungehorsam dagegen als Idolatrie angeprangert wird. Doch hat er den Schluss, den der Kreis um Gregor aus dieser Bibelstelle zog, nicht nachvollzogen: dass man nämlich gegen Ungehorsame wie gegen Häretiker Gewalt anwenden dürfe.48

Insofern ist das Gesamturteil Cowdreys über Gregor VII., so facetten- und kenntnisreich es in vielen Belangen ist, im Lichte dieser Thematik auch kritisch zu prüfen. Gregor VII. wird ein geistiger Hintergrund attestiert, der durch folgende Werte besonders charakterisiert sei: „charity, obedience, humility, righteousness, mercy and the pursuit of peace and concord“. Und dann fährt Cowdrey fort: „It cannot be strongly insisted that, in respect to such values and to his appraisal of them, he stood far closer to the tradition of Gregory (I) and Benedict in the sixth century than to the lawyer-popes like Alexander III and Innocent III who were soon to follow him, and to the age of canon law as ushered in by the Decretum of Gratian.“49 Wir werden in den späteren Untersuchungen zu zeigen versuchen, wie bruchlos sich eine Linie von Gregor VII. zu seinen genannten Nachfolgern im 12. und 13. Jahrhundert und zum Decretum Gratiani ziehen lässt, wenn man die Geschichte der Gewaltanwendung im Auftrage der Kirche und ihre argumentative Legitimation verfolgt.

In der jüngsten deutschen Forschung ist vor allem Stefan Weinfurter in seinem Canossa-Buch auf die hier interessierenden Fragen eingegangen. Er akzentuiert völlig zu Recht: „Gregors VII. Amtsführung ist durch ein starkes Sendungsbewusstsein gekennzeichnet. Die göttliche Gerechtigkeit zum Sieg zu führen, sah er als seine Verpflichtung an. In diesem Sinne verstand er sich als Werkzeug Gottes, dessen Wahrheit er gegen das Gewohnheitsrecht durchsetzen müsse. Seine Verweise auf Christus als veritas begegnen immer wieder in seinen Briefen. In einem Brief an Guitmund von Aversa schrieb er: Christus sagt: ‚Ich bin die Wahrheit und das Leben‘. Er sagt nicht: ‚Ich bin die Gewohnheit‘, sondern ‚die Wahrheit‘.“50 Was Gregor unter der Wahrheit Christi verstand, zeigte Weinfurter mittels einer detaillierten Analyse des Dictatus papae, dem er bescheinigte: „manches war ohne Vorbild – und zeugt von atemberaubender Kühnheit“, oder: „Er wirkt wie ein Brennspiegel der stark persönlich begründeten Reformvorstellungen, die Gregor VII. kompromißlos vertrat.“51

Noch stärker als der schon zitierte Gerd Tellenbach akzentuiert Weinfurter aber auch die Beobachtung, dass Gregors Überzeugung von der Wahrheit durchaus biblisch begründet und abgesichert war. Auch Weinfurter zitiert die Stelle aus dem 1. Buch Samuel (15,22), die davon handelt, dass Gott Gehorsam das Wichtigste sei und dass er Ungehorsam mit Götzendienst und Idolatrie gleichsetze, und er sieht in diesem Bibelzitat Gregors „neue Linie: Ungehorsam gegenüber dem Papst war Zeichen des Irrglaubens und Götzendienstes!“52

Es fragt sich daher, ob dieser Beleg und seine konsequente Interpretation nicht in der Tat einen Schlüssel für das Selbstverständnis und die Traditionsverwertung Gregors VII. und seines Kreises darstellen. Dieser Hinweis wird im ersten Untersuchungskapitel Gegenstand einer genaueren Analyse sein, die den ganzen Kontext der zitierten Samuel-Stelle einbezieht und so das Potential dieser Stelle für die Frage der Gewaltanwendung durch die Kirche und ihre Bedeutung für das Amtsverständnis Gregors VII. ins Zentrum des Blickfeldes rückt.

»Selig sind, die Verfolgung ausüben«

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