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2. Die biblischen Grundlagen der päpstlichen Geltungsansprüche

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Immer schon hat man hervorgehoben, dass die von Christus Petrus übertragene Binde- und Lösegewalt, wie sie Matthäus 16,18ff. bietet, den zentralen Beleg für Gregors Amtsauffassung darstellt. „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein.“9

Gregor verstand diesen Auftrag als den Nachfolgern Petri, das heißt den Päpsten, zugewiesene Generalvollmacht und folgerte daraus seine Richterfunktion über alle Menschen einschließlich der Könige und Kaiser. An verschiedenen Stellen fragte er insistierend: „Sind etwa die Könige davon ausgenommen oder gehören sie nicht zu den Schafen, die der Sohn Gottes dem seligen Petrus anvertraut hat? Wer, frage ich, könnte bei dieser allgemeinen Vollmacht zu binden und zu lösen glauben, von Petri Gewalt frei zu sein als vielleicht jener Elende, der das Joch des Herrn nicht tragen will und die Bürde des Teufels auf sich nimmt?“10

Oder er mahnte König Heinrich IV. eindringlich, dem Apostolischen Stuhl zu gehorchen, was er schon in der Grußformel eines berühmten Mahnbriefes unmissverständlich zum Ausdruck brachte: „Bischof Gregor, Knecht der Knechte Gottes, sendet König Heinrich Gruß und apostolischen Segen, wenn er dem apostolischen Stuhl gehorcht, wie es einem christlichen König geziemt.“11 In diesem Brief wiederholte er, wie auch zu anderen Gelegenheiten, die eindringliche Mahnung: „Falls du zu den Schafen des Herrn gehörst, bist du ihm (sc. Petrus) durch das Wort und die Macht des Herrn übergeben, dass er dich weide, als ihm Christus sagte: ‚Petrus, weide meine Schafe‘, und wiederum: ‚Dir sind die Schlüssel des Himmelreiches gegeben; und was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein …‘. Da wir auf dessen Sitz und in dessen Apostelamt – Sünder, die wir nun einmal sind und unwürdig – nach dem Willen Gottes die Vertretung seiner Gewalt (potestas) wahrnehmen, empfängt in Wirklichkeit er selbst, was du uns schriftlich oder mündlich zukommen lässt.“12 In diesen Mahnungen sind die Mechanismen der Inklusion und Exklusion unmissverständlich angesprochen: Wer zu den Schafen gehören wollte, hatte zu gehorchen, tat er das nicht, gehörte er zu jenen Elenden, die die Bürde des Teufels trugen. Und das waren die Häretiker.

In gleicher Weise wirkte Gregor in seinen Briefen auch auf Bischöfe ein, denen er ihre Gehorsamspflicht ebenfalls eindringlich und mit biblischen Vorbildern vor Augen führte. So etwa in einem Brief an den Magdeburger Erzbischof Werner, dem er mit großem rhetorischen Aufwand befahl, seinen Klerikern Enthaltsamkeit einzuschärfen: „Wir lesen, dass Josua, als er in der Leitung des Volkes Gottes nachgefolgt war und die Führung übernommen hatte, das Amt in so geflissenem und unermüdlichem Gehorsam versah, dass er, was über andere kaum geschrieben steht, im Vertrauen auf die Kraft des Himmels machtvoll den Elementen gebot. Denn den Jordan ließ er seinen natürlichen Lauf anhalten, damit das Heer hindurchschritte, und der Sonne … befahl er wie ein zweiter Schöpfer zu stehen, bis er an den Feinden Rache genommen; ebenso brachte er die Mauern Jerichos … durch den Klang der Posaune seiner Priester völlig zum Einsturz. Erkennst du, teuerster Bruder, was ein Herz, das für die Sache Gottes brennt, was bereitwilliger Gehorsam erntet? … Deshalb tragen wir dir, Bruder, kraft apostolischer Autorität auf und befehlen, dass du mit Kraft und beständig das priesterliche Horn ertönen lässt, um Enthaltsamkeit der Kleriker zu predigen und eifrig einzuschärfen … Wirke also darauf hin, sei zur Stelle – gelegen oder ungelegen –, das Haus Gottes, das dir anvertraut ist, zu reinigen, damit du ob deines Gehorsams unseren Dank erntest, den Lohn für deine Mühen empfängst und froh in die Freude des Herrn geleitet wirst.“13

Gregor leitete aus der von Christus, der Wahrheit, übertragenen Binde- und Lösegewalt also ab, dass der Inhaber dieser Gewalt Gehorsam erwarten durfte, wenn er diese Wahrheit in Gebote auf den unterschiedlichsten Feldern umsetzte. Geschichten des Alten Testaments boten ihm dabei, wie auch in diesem Zitat deutlich wird, die handlungsleitenden Vorbilder. Keineswegs war er bereit, wie nach der Gewohnheit üblich, die Gebote in und durch Beratung mit den Betroffenen zu finden.

Von dieser Überzeugung künden auch viele apodiktisch klingende Sätze des berühmten Dictatus papae, die dem Papst Rechte auch über Könige, Kaiser und Bischöfe zubilligen. Am allgemeinsten bringt dieses Bewusstsein wohl Satz 26 zum Ausdruck: „Dass der nicht für katholisch gehalten werden kann, der nicht mit der Römischen Kirche übereinstimmt.“14 Mit dieser Formulierung war verdeckt der Tatbestand der Häresie definiert, wie Gregors Helfer und Anhänger denn auch mehrfach unterstrichen.15

Dieses Verständnis setzte Gregor dann konsequent in die erste Bannung Heinrichs IV. um, die er mit seiner Binde- und Lösegewalt nach Matthäus 16,18 und dem Ungehorsam Heinrichs begründete. „Weil er es verachtete, wie ein Christ zu gehorchen, und weil er meine Mahnungen missachtete“, habe er, Gregor, im Vertrauen auf Petrus den König aus der Kirche ausgeschlossen.16

Gregors Verständnis von Gehorsam beruhte aber noch auf einem zweiten biblischen Beleg, den er genauso häufig zitiert hat wie den der Binde- und Lösegewalt, die der Papst in der Nachfolge Petri ausübe. Dieser Beleg stammt aus dem Alten Testament und ist der Geschichte des Propheten Samuel und des Königs Saul entnommen. Man muss den Kontext des Zitates berücksichtigen, um seine ganze Brisanz zu ermessen. König Saul hatte von Gott durch Samuel den Auftrag bekommen, an den Amalekitern, den Feinden Israels, den Bann zu vollstrecken, und das hieß, sie vollständig zu vernichten, die Menschen wie die Tiere: „Darum zieh jetzt in den Kampf, und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel!“17 So hatte Samuel Saul im Aufrage des Herrn befohlen. Es sei nur knapp darauf hingewiesen, dass das päpstliche Interesse an einem göttlichen Vernichtungsauftrag angesichts der vielen gewaltkritischen Äußerungen des Neuen Testaments schon erstaunt. Die Attraktivität der Geschichte beruhte jedoch nicht in erster Linie auf ihrer Brutalität.

Saul und seine Krieger hatten nach dieser Geschichte als Werkzeuge des Gotteszorns nämlich deshalb versagt, weil sie den gegnerischen König Agag verschont und nur gefangen genommen hatten. Überdies hatten sie die besten Tiere der Viehherden nicht getötet, um sie später Gott opfern zu können. Deshalb stellte Samuel im Auftrage Gottes Saul harsch zur Rede: „Samuel aber sagte: Hat der Herr an Brandopfern und Schlachtopfern das gleiche Gefallen wie am Gehorsam gegenüber der Stimme des Herrn? Wahrhaftig, Gehorsam ist besser als Opfer, Hinhören besser als das Fett von Widdern. Denn Trotz ist ebenso eine Sünde wie die Zauberei, Widerspenstigkeit ist ebenso (schlimm) wie Frevel und Götzendienst. Weil du das Wort des Herrn verworfen hast, verwirft er dich als König.“18

Gehorsam war dem Herrn wichtiger als Opfer; Ungehorsam aber wertete er wie Zauberei und Götzendienst. Ungehorsam durfte und musste folglich mit Idolatrie und Häresie gleichgesetzt werden. In dieser Auslegung bot die Stelle für Gregors Amtsauffassung eine neue, wichtige Stütze. Die zitierte Kernaussage Samuels hat Gregor VII. daher mehr als zwanzig Mal in seinen Briefen zitiert oder erkennbar auf diese Aussage angespielt. Und er hat sie vornehmlich auf ungehorsame Bischöfe, Priester und nicht zuletzt auf König Heinrich IV. und seine Anhänger, unter ihnen vor allem auf den „Erzhäretiker“ Wibert von Ravenna, den Gegenpapst Clemens, angewendet.19

Hierfür nur die wichtigsten Beispiele: Das erste Mal zitierte Gregor das Samuel-Zitat in einem Brief an die Herzöge Rudolf von Schwaben und Welf von Bayern und nutzte es als Begründung für seine Aufforderung an diese Herzöge, „im Gehorsam verpflichtet“ simonistische und unkeusche Priester daran zu hindern, „den heiligen Geheimnissen zu dienen – wenn es nötig ist: mit Gewalt“20 Auch forderte er 1076 nach der Bannung Heinrichs alle Getreuen des heiligen Petrus im Reich auf, Heinrich und seine Anhänger entweder zur Buße zu bewegen oder zu meiden, weil ihnen, „wenn sie nicht gehorchen, der Zorn und die Rache des göttlichen Gerichtes drohe wegen des Verbrechens der Idolatrie nach dem Zeugnis Samuels.“21 Das Gleiche wiederholte er wenig später in seinem ersten Brief an Bischof Hermann von Metz: „Denn wenn sie (sc. die Anhänger Heinrichs IV.) sich übermütig in einen Streit darüber einlassen, dem apostolischen Stuhl zu gehorchen, dann wählen sie nach dem Zeugnis Samuels das Verbrechen des Götzendienstes.“22 Der Gedanke findet sich auch in Gregors Anweisungen an seine Legaten wie an alle Getreuen nach dem Geschehen in Canossa: „Denket immer daran, dass die Sünde des Götzendienstes auf sich lädt, wer den Gehorsam gegenüber dem apostolischen Stuhl verschmäht, und dass der selige Gregor, der heilige und demütigste Lehrer, verordnet hat, dass Könige ihre Würde verlieren, wenn sie in verblendeter Vermessung es wagen sollten, den Anordnungen des apostolischen Stuhles zuwiderzuhandeln.“23 Es sei nur am Rande angemerkt, dass dieser Verweis Gregors auf seinen Vorgänger Gregor den Großen nicht unangefochten blieb. Eine ganze Reihe von gegnerischen Autoren hat vielmehr darauf hingewiesen, dass es eine solche Äußerung des großen Gregor nicht gebe, dass Gregor hier einen Text sinnwidrig interpretiert habe.24

Im Gebet an die Apostelfürsten Petrus und Paulus, in das Gregor 1080 seine zweite Bannung Heinrichs kleidete, taucht der Ungehorsam erneut als zentraler Punkt der Anschuldigung auf: „Heinrich fürchtete mit seinen Anhängern die Gefahr des Ungehorsams nicht, die das Verbrechen der Idolatrie ist, und verhinderte das colloquium.25 Und als Gregor Tugenden bzw. Laster der streitenden Könige Heinrich und Rudolf miteinander kontrastierte, waren es bei Heinrich superbia, inoboedientia und falsitas, bei Rudolf hingegen humilitas, oboedientia und veritas.26

Auch im berühmten zweiten Brief Gregors an Hermann von Metz aus dem Jahre 1081, in dem der Papst noch einmal programmatisch seine gesamte Amtsauffassung darlegte, fehlt schließlich der Hinweis auf das Samuel-Wort nicht, und es wird ergänzt um die Ausführungen, die Gregor der Große zu dieser Bibelstelle gemacht hatte: „Es ist allein der Gehorsam, der das Verdienst des Glaubens ausmacht; ohne ihn wird jeder als ungläubig erwiesen, auch wenn er gläubig zu sein scheint.“27

In diesen wie in weiteren Belegen begründete Gregor VII. die päpstliche Gehorsamsforderung gegenüber allen Christgläubigen vorrangig oder ausschließlich mit dem Samuel-Zitat. Es dürfte seine Attraktivität für den Papst nicht zuletzt darin besessen haben, dass hier ein Prophet im Auftrage Gottes einen König in die Schranken wies und verwarf, der ungehorsam gegen die Befehle gewesen war, die Gott ihm durch diesen Propheten hatte zukommen lassen. Besser konnten die Befugnisse, die Gregor als Stellvertreter Petri und damit Christi auch gegenüber den Königen zu haben glaubte, nicht präfiguriert werden. Die Häufigkeit, mit der Gregor dieses Zitat in seinen Briefen nutzte, beweist eindrücklich, dass er ihm eine große Überzeugungskraft für seine Anliegen beimaß.

Das Aussagepotential der Samuel-Geschichte wird noch brisanter, wenn man den unmittelbaren Fortgang der Erzählung berücksichtigt. Der Prophet Samuel wurde in der zitierten Szene nämlich noch in anderer Weise aktiv. Nach seiner Rede, in der er den Gotteszorn über Sauls Verhalten artikulierte, nahm er selbst das Schwert und schlug den von Saul verschonten und nun vor ihn gebrachten König Agag „in Stücke“, während dieser in den Propheten seine Hoffnung auf Rettung gesetzt und bei dessen Anblick gesagt hatte: „Wahrhaftig, die Bitterkeit des Todes ist gewichen.“28 Samuel agierte also eigenhändig als Vollstrecker des Gotteszorns mit tödlicher Gewalt gegen einen Wehrlosen. Dieser Teil der Erzählung wird von Gregor selbst interessanterweise nie zitiert, er wird aber von seinen Anhängern mehrfach benutzt.29 Es fragt sich somit, ob zumindest gelehrte mittelalterliche Zeitgenossen die Geschichte ohne diesen zweiten Teil denken konnten. Sie gab ja eine deutliche Antwort auf die Frage, ob auch Priester Gewalt im Auftrage Gottes ausüben durften. Sie akzentuierte geradezu die Rolle des Propheten, der aktiv die Aufgabe der Vollstreckung der Befehle Gottes übernahm, weil König Saul bei dieser Aufgabe versagt hatte und deshalb von Gott verworfen worden war.

Damit sind wir bei der Frage, wie Gregor VII. und seine Umgebung sich die Durchsetzung der Gehorsamsforderung vorstellten und inwieweit sie die Anwendung von realer physischer Gewalt bei dieser Durchsetzung vorsahen und rechtfertigten. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass die hier diskutierte Gewaltrhetorik, die man auch allegorisch verstehen kann, tatsächlich notwendigerweise zur Anwendung von physischer Gewalt führte. Hier wird man zunächst einmal darauf hinweisen, dass in Gregors Denken die Exklusion der Ungehorsamen durch Exkommunikation im Vordergrund der Maßnahmen stand. Selbst wenn er das Zitat aus Jeremia 48,10 benutzte: „Verflucht sei, wer sein Schwert vom Blute frei hält“, was er neben der Benutzung der Samuel-Stelle häufig zu tun pflegte, dann meinte er das allegorisch. Die Kleriker hielten nach Auffassung Gregors ihr (geistliches) Schwert vom Blute frei, wenn sie ihrer Pflicht zur Mahnung und Bestrafung der Sünder nicht nachkamen.30

Schon zur Bekämpfung der verheirateten oder simonistischen Priester aber forderte Gregor die Herzöge Rudolf und Berthold auf, Gewalt anzuwenden, „wenn es nötig sein sollte“.31 Und als er Heinrich IV. das zweite Mal bannte, forderte er in seinem Gebet von den Apostelfürsten, ihr Urteil über Heinrich schnell zu vollstrecken, damit alle wüssten, dass er durch „eure Macht zuschanden wird“.32 Hier konnte nicht zweifelhaft sein, dass physische Gewalt der Himmlischen angefordert wurde. Und um jeden Zweifel zu beseitigen, präzisierte er seine Ankündigung kurze Zeit später noch dadurch, dass er den genauen Termin angab, bis zu dem die Apostel Heinrich stürzen würden. Falls dies nicht so eintreffe wie erbeten und prophezeit, brauche ihm niemand mehr zu glauben.33 Neben der Exklusion war also im Denken und Fordern Gregors die Anwendung von physischem Zwang eine durchaus präsente Option. Wir werden dies im Kapitel 8 im Zusammenhang vertiefen.

Als Zwischenergebnis sei hier nur festgehalten, dass die Deutung des Zitats aus dem 1. Buch Samuel durch Gregor keine Basis in der bisherigen exegetischen Tradition hatte.34 Wir können seine Entdeckung und Verwendung also als originäre Leistung des Gregor-Kreises ansehen, der das Potential erkannte, das in dieser Geschichte steckte: Als neuem Samuel und als Werkzeug Gottes verschaffte ihm die Stelle nämlich Argumente, die sowohl seine neuen Geltungsansprüche legitimierten als auch Wege zu ihrer Durchsetzung wiesen. Sein Sendungsbewusstsein wie sein rigoroses Amtsverständnis dürften also durch die Möglichkeit dieser biblischen Legitimierung gewaltig stimuliert worden sein.

Die neue Argumentation des Gregor-Kreises basierte damit vor allem auf einem Zitat des Alten Testaments, welches von einem zornigen Gott handelte, der unerbittlich verlangte, dass seine Befehle befolgt wurden, auch und gerade, wenn es Vernichtungsbefehle waren. Dieser Gott schätzte es, wenn sich jemand für ihn ereiferte. Und dieser Eifer (zelus Dei) konkretisierte sich nicht selten in Gewalttaten, die Gott nicht nur billigte, sondern reich honorierte. In der modernen Forschung spricht man vom Zelotismus und von der Bannideologie, die in einer ganzen Reihe von Geschichten des Alten Testaments im Vordergrund steht.35

Ungehorsam gegen seine Befehle, auch wenn es Vernichtungsbefehle waren, wertete Gott als Götzendienst. Dies schuf die Möglichkeit, die der Gregor-Kreis gleichfalls nutzte, nämlich Ungehorsame als Häretiker zu stigmatisieren und mit ihnen zu verfahren, wie es schon wichtige Kirchenväter für Häretiker vorgesehen hatten.36 Diese Botschaften bot die Samuel-Saul-Geschichte in einiger Eindringlichkeit. Wir werden aber sehen, dass mehrere Geschichten zum festen Repertoire des Gregor-Kreises gehörten, die ein gleiches Potential enthielten.

Aus diesem und einigen anderen Bausteinen haben Gregor VII. und seine Umgebung ein wirkungsvolles Argumentationsgerüst zusammengestellt: Mit dem Besitz der Schlüsselgewalt (nach Matthäus 16,18) und der Wahrheit Christi (nach Johannes 14,6) wurde der Gehorsamsanspruch begründet. Dieser Gehorsam wurde dargeboten als Gottes wichtigste Forderung, Ungehorsam dagegen als Idolatrie und Häresie gebrandmarkt (nach 1 Samuel 15,23), gegen die mit Gewalt vorzugehen erlaubt, ja gottgewollt sei.

Was aber hat zur Auswahl und vorrangigen Nutzung gerade dieses Zitats geführt, in dessen Mittelpunkt die von Gott befohlene Vernichtungsgewalt von einem Propheten ausgeübt wurde? Eine direkte Antwort auf diese Frage gibt es in der zeitgenössischen Überlieferung wohl nicht. Dennoch muss geprüft werden, ob diese Form der Nutzung von Bannideologie des Alten Testaments wirklich neu ist. Immerhin gab es ja bereits in der frühen Reformphase Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche, die zur Anwendung von Gewalt führten. Zu denken ist hier vor allem an die Kämpfe der Reformer gegen Simonie und Nikolaitismus, die bereits Gewaltausbrüche zur Folge hatten und zudem eine Reihe von schriftlichen Stellungnahmen hervorbrachten, in denen die Notwendigkeit dieses Kampfes legitimiert wurde.

1 Eine erste Version der hier entwickelten Gedanken des Autors findet sich in: BOMM/SEIBERT (Hg.), Autorität und Akzeptanz, unter dem Titel: Päpstliche Autorität im Hochmittelalter. Neue Geltungsansprüche und ihre Konsequenzen. Zu Zielen und Wirken des Reformpapsttums siehe immer noch TELLENBACH, Libertas, bes. S. 132ff.; DERS., Westliche Kirche, bes. S. 165–200 u. S. 238 ff; COWDREY, Gregory VII, bes. S. 495–583; Überblicke bei LAUDAGE, Priesterbild und Reformpapsttum; HARTMANN, Investiturstreit; SCHIEFFER, Gregor VII.; zur Beanspruchung der plenitudo potestatis siehe BUISSON, Potestas und Caritas, bes. S. 74ff.

2 Siehe dazu für das Frühmittelalter HANNIG, Consensus fidelium; für die spätere Zeit SCHNEIDMÜLLER, Konsensuale Herrschaft.

3 Zu Formen der Beratung siehe ALTHOFF, Colloquium familiare; zur aktuellen Diskussion um das Phänomen der „Gewohnheit“ siehe jetzt PILCH, Rahmen der Rechtsgewohnheiten, mit weiterführenden Überlegungen; siehe dazu auch die vor allem rechtshistorischen Beiträge in: Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 15–90, die ein von Gerhard Dilcher initiiertes Gesprächsforum zum Buch von Martin Pilch unter Beteiligung des Autors wiedergeben; zuletzt JANSEN/OESTMANN (Hg.), Gewohnheit, Gebot, Gesetz, mit über die mittelalterliche Zeit hinausgehenden Beiträgen.

4 Siehe dazu Register Gregors VII., S. 682 mit den Verbindungen consuetudo antiqua et pessima, – execranda, – nefanda, – pestifera, – prava, – male, – superbie; siehe dazu HARTMANN, Wahrheit und Gewohnheit, S. 68.

5 Siehe dazu ERDMANN, Entstehung des Kreuzzugsgedankens, bes. S. 212–249; TELLENBACH, Libertas, S. 168–192; FUHRMANN, Reformpapsttum, S. 185ff.; COWDREY, Gregory VII, bes. S. 495ff.; zuletzt knapp und präzise SCHIEFFER, Gregor VII., bes. S. 30–46. Den zitierten Begriff von der „verschärfenden Umbiegung“ verdanken wir bereits Erich Caspar, siehe dazu eingehend FUHRMANN, Papst Gregor VII. und das Kirchenrecht, bes. S. 142ff. mit dem Nachweis, dass schon Zeitgenossen Gregors diesen Vorwurf gegen ihn erhoben.

6 Siehe dazu allg. MIRBT, Publizistik; SUCHAN, Königsherrschaft im Streit; MELVE, Inventing the Public Sphere. Eine thematisch geordnete Sammlung der in der Zeit des „Streits zwischen Kaisertum und Papsttum“ in den Quellen benutzten Bibelstellen bietet HACKELSPERGER, Bibel und mittelalterlicher Reichsgedanke, dort S. 87ff. die von den Heinricianern angeführten Bibelstellen gegen Gewalt, S. 92ff. die von Gregorianern benutzten Stellen zur Legitimation von Gewalt; S. 130ff. ein Register aller Stellen.

7 Siehe dazu WEINFURTER, Canossa, S. 56 u. 106; HARTMANN, Wahrheit und Gewohnheit, S. 67ff.

8 Vgl. dazu Register Gregors VII., das Stellenregister siehe Bd. 2, S. 644ff.

9 Vgl. bereits ARQUILLIÈRE, Saint Grégoire VII, bes. S. 222–260; COWDREY, Gregory VII, S. 515ff.

10 Vgl. dazu Register Gregors VII., lib. VIII, Nr. 21, S. 548 (im 2. Brief an Bischof Hermann von Metz): Nunquid sunt hic reges excepti, aut non, sunt de ovibus, quas filius Dei beato Petro commisit? Quis, rogo, in hac universali concessione ligandi atque solvendi a Potestate Petri se exclusum esse existimat, nisi forte infelix, qui iugum Domini portare nolens diaboli se subicit honeri, et in numero ovium Christi esse recusat?; ähnlich argumentiert Gregor bereits III, 10, S. 265; IV, 2, S. 295. Vgl. dazu bereits CASPER, Gregor VII. in seinen Briefen, S. 13ff.

11 Vgl. Register Gregors VII., lib. III, Nr. 10, S. 263: Gregorius episcopus servus servorum Dei Henrico regi salutem et apostolicam benedictionem, si tamen apostolice sedi, ut christianum decet regem, oboedierit.

12 Ebd., S. 264: Cui, si de dominicis ovibus es, dominica voce et potestate ad pascendum traditus es dicente sibi Christo: „Petre, pasce oves meas“, et iterum: „Tibi tradite sunt claves regni celorum; et quodcumque ligaveris super terram, erit ligatum et in celis“; et quodcumque solveris super terram, erit solutum et in celis. In cuius sede et apostolica amministratione dum nos qualescunque peccatores et indigni divina dispositione vicem sue potestatis gerimus, profecto, quicquid ad nos vel per scripta aut nudis verbis miseris, ipse recipit.

13 Ebd., lib. II, Nr. 68, S. 225f.

14 Ebd., lib. II, Nr. 55a, S. 207: XXVI. Quod catholicus non habeatur, qui non concordat Romanę ecclesię; zum Dictatus papae siehe FUHRMANN, Randnotizen zum Dictatus papae; COWDREY, Gregory VII, S. 502–507; zur Bedeutung des Häresiebegriffs für das Reformpapsttum im Allgemeinen und Gregor VII. im Besonderen siehe HAGENEDER, Häresie des Ungehorsams, bes. S. 34ff.

15 Siehe dazu unten S. 82f., S. 89f., S. 93ff.

16 Vgl. Register Gregors VII., lib. III, Nr. 10, S. 270f.: Et quia sicut christianus contempsit oboedire nec ad Deum rediit, quem dimisit participando excommunicatis meaque monita, quę pro sua salute misi, te teste, spernendo seque ab ecclesia tua temptans eam scindere separando, vinculo eum anathematis vice tua alligo et sic eum ex fiducia tua alligo, ut sciant gentes et comprobent, quia tu es Petrus et super tuam petram filius Dei vivi ędificavit ecclesiam suam et porte inferi non prevalebunt adversus eam.

17 1 Samuel 15, 3: nunc igitur vade et percute Amalech et demolire universa eius non parcas ei sed interfice a viro usque ad mulierem et parvulum atque lactantem bovem et ovem camelum et asinum (zitiert hier wie auch im Folgenden nach Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem; dt. Übers. nach der Einheitsübersetzung); siehe zu dieser Stelle auch COWDREY, Gregory VII, S. 516f. u. S. 555f.; ARQUILLIÈRE, Saint Grégoire VII, S. 234f.; zur sogenannten Bannideologie, zu der die moderne Forschung diese und andere Stellen des Alten Testaments zählt, siehe SCHMITT, „Heiliger Krieg“, bes. S. 30ff.

18 1 Samuel 15, 22f.: Et ait Samuhel numquid vult Dominus holocausta aut victimas et non potius ut oboediatur voci Domini melior est enim oboedientia quam victimae et auscultare magis quam offerre adipem arietum. Quoniam quasi peccatum ariolandi est repugnare et quasi scelus idolatriae nolle adquiescere pro eo ergo quod abiecisti sermonem Domini abiecit te ne sis rex.

19 Es verdient erwähnt zu werden, dass er auf die Stelle auch durch seine Rezeption der Überlegungen Papst Gregors I. zum Gehorsam (Moralia in Iob) gestoßen sein könnte, siehe dazu COWDREY, Gregory VII, S. 556f.; auf die Bedeutung dieses biblischen Belegs für Gregor wiesen bereits hin SCHNEIDER, Prophetisches Sacerdotium, S. 118ff.; WEINFURTER, Canossa, S. 110ff.

20 Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, S. 184: astricti per obedientiam tam in curia regis quam per alia loca et conventus regni notificantes ac persuadentes quantum potestis tales sacrosanctis deservire mysteriis, etiam vi si oportuerit, prohibeatis. Die Formulierung entspricht dem auf der Fastensynode 1075 verabschiedeten „Aufruhrparagraphen“; vgl. ebd., Anm. 4.

21 Ebd., lib. IV, Nr. 1, S. 292: ita illis imminent, si non oboedint, ira divini iudicii et ultio testante Samuhele idolatrie sceleris.

22 Ebd., lib. IV, Nr. 2, S.296: cum enim oboedire apostolicę sedi superbe contendunt, scelus idolatrie, teste Samuele incurrunt. Zu diesem Brief siehe MELVE, Inventing the Public Sphere, S. 220ff.

23 Ebd., lib. IV, Nr. 23, S. 336: illud semper habentes in memoria, quia scelus idolatrię incurrit, qui apostolicÚ sedi oboedire contendit, et quod beatus Gregorius doctor sanctus et humillimus decrevit reges a sua dignitate cadere, si temerario ausu presumerent contra apostolic? sedis iussa venire.

24 Vgl. MIRBT, Publizistik, S. 166ff.

25 Register Gregors VII., lib. VII, Nr. 14a, S. 486: Predictus autem Heinricus cum suis fautoribus non timens periculum inoboedientie, quod est scelus idolatri?, colloquium impediendo excommunicationem incurrit. Siehe dazu VOGEL, Gregor VII. und Heinrich IV., S. 184ff., bes. S. 193.

26 Register Gregors VII., lib. VII, Nr. 14a, S.487: Heinricus pro sua superbia inoboedientia et falsitate a regni dignitate iuste abicitur, ita Rodulfo pro sua humilitate oboedientia et veritate potestas et dignitas regni conceditur.

27 Ebd., lib. VIII, Nr. 21, S. 563: sola est oboedientia, quae fidei meritum possidet, sine qua infidelis quisque cognoscitur, etiamsi fidelis esse videatur. Siehe dazu bereits SZABÓ-BECHSTEIN, Libertas ecclesiae, S. 248.

28 1 Samuel 15, 32f.: Dixitque Samuhel adducite ad me Agag regem Amalech et oblatus est ei Agag pinguissimus et dixit Agag sicine separat amara mors. Et ait Samuhel sicut fecit absque liberis mulieres gladius tuus sic absque liberis erit inter mulieres mater tua et in frusta concidit Samuhel Agag coram Domino in Galgalis.

29 Vgl. Anselm von Lucca, Liber contra Wibertum, S. 524 und Wido von Ferrara, De scismate Hildebrandi, S. 544, siehe dazu unten S. 90.

30 Siehe dazu bereits COWDREY, Gregory VII, S. 567f., der auch hier zu Recht wieder die Abhängigkeit Gregors VII. von Gregor I. betont.

31 Register Gregors VII., lib. II, Nr. 45, S. 184: Quapropter ad te et ad omnes, de quorum fide et devotione confidimus, nunc convertimur rogantes vos et apostolica auctoritate ammonentes, ut, quicquid episcopi dehinc loquantur aut taceant, vos officium eorum, quos aut symoniacę promotos et ordinatos aut in crimine fornicationis iacentes cognoveritis, nullatenus recipiatis et hęc eadem astricti per obędientiam tam in curia regis quam per alia loca et conventus regni notificantes ac persuadentes quantum potestis tales sacrosanctis deservire mysteriis, etiam vi si oportuerit, prohibeatis.

32 Ebd., lib. VII, Nr. 14a, S. 487: Et in predicto Heinrico tam cito iudicium vestrum exercete, ut omnes sciant, quia non fortuitu sed vestra potestate cadet, confundetur, utinam ad penitentiam, ut spiritus sit salvus in die Domini.

33 Vgl. zu dieser von Bonizo von Sutri, Liber ad amicum, S. 682–684 überlieferten Nachricht MEYER VON KNONAU, Jahrbücher Heinrichs IV., Bd. 3, S. 257f.

34 Dies erbrachte eine Suche in mehreren Datenbanken des Internetportals Brepolis (http://apps.brepolis.net/BrepolisPortal), insbesondere in eMGH und LLT, in denen keine Belege existieren, die die fraglichen Stellen ähnlich ausdeuten wie Gregor VII. Auch der Index des MIGNE (Bd. 219, Sp. 273ff.), der biblische Personen in den Werken des Mittelalters ausweist, enthält keine einschlägigen Belege für eine Exegese der Samuel-Saul-Agag-Geschichte.

35 Vgl. dazu SCHMITT, Heiliger Krieg, bes. S. 30ff.

36 Vgl. dazu RAGG, Ketzer und Recht, S. 8ff.

»Selig sind, die Verfolgung ausüben«

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