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2. Der Kontext der Untersuchung

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Mit Bonizos Werk und Argumentation ist indes nur die Spitze eines Eisbergs angesprochen. Er ist nur eine Stimme in dem vielstimmigen Chor, der die Argumente Gregors VII. und seines Kreises verbreitete und in Streitschriften, Briefen, Kanonessammlungen und anderem schriftlich niederlegte. Und in einer ganzen Reihe dieser Zeugnisse steht die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Christ für die Kirche oder den Glauben Gewalt anwenden dürfe, im Vordergrund des Interesses. Wie aber kam der „Sitz des Friedens“, wie der päpstliche Thron auch genannt wurde, zu der Ansicht, seine Anliegen und Interessen mit Gewalt durchsetzen zu dürfen, ja zu müssen? Woher nahm er die Legitimation, der leidenden Erduldung von Verfolgung die Ausübung von Verfolgung gleichzusetzen? Hierauf gibt es zurzeit in der Forschung keine Antwort.

Mit dieser Frage werden wir auf den gewaltigen Umbruch verwiesen, den Kirche und Welt in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erlebten. Das Papsttum beanspruchte in dieser Zeit in Kirche und Welt die führende Rolle, die Suprematie. Am prägnantesten niedergelegt wurde dieser Anspruch von Gregor VII. im Jahre 1075 in den 27 Sätzen des Dictatus papae, die vor allem die päpstlichen Vorrechte gegenüber Bischöfen und Königen in neuer Weise fixierten. Es waren neue Geltungsansprüche, die in der Kirche wie in der Welt Widerstände auslösten, weil sie den bisherigen Gewohnheiten nicht entsprachen, sie sogar in beträchtlichem Ausmaß und gravierend zu verändern versuchten. In einem Zeitalter, das Gewohnheiten verpflichtet war, stellten völlig neue Geltungsansprüche ganz gewiss ein Problem dar. Gregor VII. musste denn auch energisch darauf hinweisen: Christus habe gesagt: „Ich bin die Wahrheit“ – und nicht: „Ich bin die Gewohnheit“.6

Welche Wahrheit Christi aber brachten Gregor und sein Kreis gegen die herrschenden Gewohnheiten der Zeit in Stellung? Immerhin richteten sich die neuen Vorstellungen ja zentral gegen die bisher praktizierte, intensive Form der Zusammenarbeit von Königtum und Kirche. Die sakrale Stellung des Königtums war bis dahin allgemein anerkannt; die Zusammenarbeit von Königtum und Kirche hatte sich in vielerlei Hinsicht bewährt. Nun jedoch erhob sich mächtig der Ruf und die Forderung nach der libertas ecclesiae, die den Einfluss der Laien, zu denen man nun auch die Könige zählte, in der Kirche unterbinden sollte.

Es muss durchschlagende Argumente und Belege gegeben haben, die den neuen Wahrheiten Gregors und seines Kreises Geltung verschafften. Diese Argumente konnte man nur aus der Tradition beziehen, die auch bisher schon benutzt worden war: aus den heiligen Schriften des Christentums und aus den exempla der Kirchengeschichte. Die Neuerungen müssen also auf der Basis der auch bisher benutzten Texte generiert worden sein. Diese Legitimierung neuer Geltungsansprüche gelang offensichtlich mittels eines neuen Verständnisses der alten Autoritäten, auch wenn man die Tatsache, dass man zudem in gutem Glauben auf Fälschungen zurückgriff, nicht gänzlich unterschätzen sollte.7

Was also war die Grundlage der Legitimierung dieser Neuerungen? Welche Belegstellen der Tradition wurden herangezogen, um eine solch umstürzende Neuerung wie die zu begründen, es sei der Kirche erlaubt, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt zu benutzen? Den Aufbau einer militia sancti Petri durch Gregor VII., die dem Papsttum den nötigen militärischen Rückhalt für seine politischen und kirchlichen Aktivitäten verschaffen sollte und die vom Papst für konkrete militärische Aufgaben vorgesehen und auch eingesetzt wurde, hat man in diesem Zusammenhang schon lange bemerkt.8 Dennoch steht selbst in neuesten Publikationen zu den Reformpäpsten und zu Gregor VII. das Thema Gewalt gewiss nicht im Vordergrund.9 Und auch in jüngsten umfassenden Arbeiten zum Verhältnis des Christentums zur Gewalt spielen die Person und die Zeit Gregors VII. keine Rolle.10 Deutet sich hier ein blinder Fleck in der christlichen Sicht auf die eigene Geschichte an?

Mit diesen Fragen ist eine ganze Reihe von Problemen aufgeworfen, auf die die bisherige Forschung zwar immer wieder zu sprechen kam, aber keine zufriedenstellenden Antworten gab. Natürlich wurde bemerkt, dass das sogenannte Reformpapsttum Gewalt im Dienst und Auftrag der Kirche zuließ, befürwortete und förderte, was sich nicht zuletzt im Aufbau der militia sancti Petri manifestierte, die aus Kriegern verschiedener europäischer Länder gebildet und mittels Lehnseiden auf den Papst verpflichtet werden sollte. Sie sollte den Päpsten im Kampf gegen Ungläubige wie gegen Unbotmäßige innerhalb der Christenheit helfen. Allgemeingut ist auch das Wissen, dass es Reformpäpste waren, die die Kreuzzugsbewegung initiierten.11 Seit Carl Erdmanns bahnbrechendem und zu Recht bis heute berühmtem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens haben wir gelernt, die Zusammenhänge zwischen diesen Erscheinungen und Prozessen zu sehen. Erdmann hat nicht zufällig Gregor VII. als den „kriegerischsten Papst“ bezeichnet, der je auf dem Stuhle Petri gesessen habe. Mit den legitimatorischen Grundlagen dieser neuen Geltungsansprüche hat sich jedoch auch Erdmann nicht befasst.

Ebenso gehört es zum historischen Grundwissen, dass die gleichen Päpste namentlich mit den salischen Kaisern eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die rechte Ordnung der Welt führten, mit der sie ihre Suprematie über Könige und Kaiser durchzusetzen versuchten, und hierbei durchaus erfolgreich, aber auch gewaltbereit waren.12 An die Stelle der Zwei-Gewalten-Lehre, die ein Zusammengehen der höchsten weltlichen und höchsten geistlichen Gewalt in pax und concordia vorsah, traten Versuche der wechselseitigen Unterordnung, die unter Einsatz von Exklusion und Gewaltanwendung vonstattengingen.

Solche Unterordnung hatten bis dahin aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse vor allem Kaiser zum Teil sehr demonstrativ erzwungen, wie unter anderem jene Synode von Sutri im Jahre 1046 nachweist, als Kaiser Heinrich III. drei streitende Papstprätendenten ab- und einen vierten einsetzte. Es sagt viel über die deutsche Forschung, dass sie diesen Vorgang lange Zeit als den Höhepunkt des „ottonisch-salischen Reichskirchensystems“ gefeiert hat. Welche Wirkungen aber dieser massive Versuch der Unterordnung des Papsttums unter das Kaisertum zeitigte und welche Reaktionen er hinsichtlich einer neuen legitimatorischen Fundierung der päpstlichen Stellung auslöste, hat man bisher nicht entschieden gefragt.

Dreißig Jahre nach dieser Synode von Sutri exkommunizierte Papst Gregor VII. König Heinrich IV., löste alle von den Eiden, die sie dem König geleistet hatten, und setzte ihn damit de facto ab. Diese Neuerung geschah nicht ohne theoretisch-theologische Vorbereitung. Und zur Vorbereitung gehörte gewiss auch, sich auf gewaltsame Auseinandersetzungen als Konsequenz dieser Absetzung einzustellen. Wie entschlossen Gregor zum notfalls gewalttätigen Austrag des Konfliktes nach seiner Bannung Heinrichs IV. war, sei nur mit dem Schluss eines Briefes belegt, den der Papst an drei deutsche Bischöfe sandte, um einen vierten zu mahnen, den er für einen Anhänger Heinrichs IV. hielt: „Wenn er die Worte unserer Ermahnung missachtet, so sagt ihm, sei er durch die Vollmacht des heiligen Petrus von der Gemeinschaft mit dem Leib und Blut unseres Herrn Jesus Christus getrennt und nicht nur geistig, sondern körperlich durch eine entsprechende Rache desselben Apostelfürsten zu bestrafen.“13

Wie Gregor sich die Rache des heiligen Petrus konkret vorstellte, sagt der Brief nicht. Doch macht der Hinweis darauf, dass diese Rache nicht nur geistig, sondern auch körperlich sein sollte, wohl darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht nur um allegorische Gewaltrhetorik handelt. Wir werden jedenfalls zu prüfen haben, wie viel reale Gewalt derartige Gewaltrhetorik nach sich zog oder sogar anvisierte.

Auf mehreren Feldern beobachtete man für die Zeit des sogenannten Investiturstreits und die Entstehung der Kreuzzugsbewegung also bereits eine grundsätzliche Bejahung der Gewaltausübung im Dienste der Kirche, ohne sich allerdings intensiver darum zu kümmern, welche legitimatorischen Grundlagen sie hatte. Dies blieb auch durchaus keine temporäre Erscheinung, sondern zeitigte langfristigere Konsequenzen. Das neue Verhältnis der Kirche zur Gewalt fand nämlich wohl nicht zufällig nachhaltigen Eingang ins sich verfestigende Kirchenrecht, wie das Decretum Gratiani aus den 20er und 40er Jahren des 12. Jahrhunderts zeigt.14 Zu den Quellen, die Gratian in einschlägigen Zusammenhängen nutzte, gehören gerade auch Autoren, die bereits Papst Gregor in seinen Bemühungen um die Legitimation von Gewaltanwendung im Dienste der Kirche unterstützt hatten. Es scheint daher sinnvoll zu fragen, inwieweit Gratian sich der neuen kirchlichen Gewalttheorie öffnete, die in der Zeit des Reformpapsttums entwickelt worden war, und inwieweit er von den Argumentationen und Autoritäten abhing, die Grundlage der gregorianischen Gewalttheorie gewesen waren.

Trotz vielfältiger Forschung in den einzelnen Feldern zu einschlägigen Themen hat die Frage des Verhältnisses der Kirche zur Gewalt im Hochmittelalter seit Carl Erdmanns bahnbrechendem Buch über die Entstehung des Kreuzzugsgedankens keine zusammenhängende Darstellung mehr gefunden, die die angesprochenen Themen berücksichtigt und ihren inneren Zusammenhang geklärt hätte.15 Eine Gesamtdarstellung liegt auch nicht in der Absicht der folgenden Bemühungen. Um der Stofffülle Herr zu werden, scheint es vielmehr geraten, die Ausführungen der schon angesprochenen Leitfrage unterzuordnen: Welche Legitimationsbasis fand und etablierte man für die Anwendung von Gewalt im Dienste und zum Nutzen der Kirche? Wie stellt sich überdies diese Legitimation von Gewalt im Kontext der anderen neuen Geltungsansprüche dar, die das Reformpapsttum bezüglich seiner eigenen Stellung in Kirche und Welt erhob? Gibt es Hinweise darauf, dass erst diese neuen Geltungsansprüche eine gewisse Notwendigkeit mit sich brachten, zu ihrer Durchsetzung auch Gewalt zu legitimieren und anzuwenden? Trotz langer und intensiver Erforschung der fraglichen Zeit und der angesprochenen Veränderungen fehlen auf diese Fragen immer noch viele Antworten. Ein kurzer Überblick über ältere und neuere Tendenzen in der Beurteilung des sogenannten Reformpapsttums in der internationalen Forschung soll dies belegen und damit sozusagen die Folie bilden, vor der die eigene Argumentation entfaltet werden kann.

»Selig sind, die Verfolgung ausüben«

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