Читать книгу Ketzer - Gerd Ludemann - Страница 7
Kapitel 1:
Einleitung, Methode und Interesse1
ОглавлениеDie Geschichte des Urchristentums2 will den historischen Ablauf der ersten beiden christlichen Jahrhunderte darstellen. Sie behandelt die durch Jesu Auftreten eingeleitete erste Phase der Kirchengeschichte. Ihr Ende3 liegt dort, wo der Konsolidierungsprozess der frühchristlichen Gruppen abgeschlossen ist, dogmatische und ethische Normen über richtig und falsch, gut und böse sowie der Kanon entwickelt worden sind, mit der Entstehung des monarchischen Episkopats eine Machtstellung der frühchristlichen Gemeinden bzw. ihres Bischofs gegenüber Gegnern ausgebildet ist und sich Sanktionen wirklich durchsetzen lassen.4 Diese Abgrenzung lässt sich weiter historisch damit begründen, dass gegen Ende des 2. Jh.s ein Versiegen der mündlichen, mit Jesus genetisch zusammenhängenden Traditionen festzustellen ist und sich wissenschaftliche christliche Theologie – wenn sie mehr als bloße Rekonstruktion von Vergangenheit ist – durch Rückbezug auf Jesus ihrer Ursprünge vergewissern5 muss.6 Das trifft selbst angesichts des Befundes zu, dass nicht geringe Teile der frühchristlichen Literatur, wie z. B. die Briefe des Ignatius von Antiochien7, ohne Rückgang auf den historischen Jesus auskommen, denn dieser bleibt – geschichtlich gesehen – der entscheidende Auslöser der christlichen Bewegung.8
In dieser Phase des frühen Christentums wurden die Weichen für das gestellt, was man später als christlich ansah. In ihr schälte sich das Christentum als eigene Erscheinung heraus. Für sie gilt, was Johann Salomo Semler (1725 – 1791) zuerst entdeckt9 und Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) weiter vertieft hat, dass es in dieser Zeit schon christlichen Glauben und eine christliche Kirche gegeben hat, bevor überhaupt ein Neues Testament existierte.10 Insofern behält die Geschichte des Urchristentums eine herausragende Bedeutung gegenüber den nachfolgenden Epochen. An ihr können grundlegende christliche Prinzipien erkannt werden, und nur in dieser Phase des Christentums finden sich Jesustraditionen, die nicht ausschließlich literarisch (etwa durch Evangelien) vermittelt sind. Diese Frühzeit des Christentums ist rein historisch zu erforschen – fast könnte man sagen, sie sei zunächst unsere Bibel –, ist doch das Schriftprinzip11 durch die Auflösung des Inspirationsdogmas für die wissenschaftliche Theologie ein für allemal zur vergangenen Größe geworden.
Dies sei in enger Anlehnung Wolfhart Pannenbergs Aufsatz »Die Krise des Schriftprinzips« aus dem Jahr 1962 erläutert.12 Unter Berufung auf den exegetisch eindeutigen Wortsinn der Schrift habe Luther den Kampf gegen das päpstliche Lehramt aufgenommen, und zwar in der Überzeugung, seine eigenen exegetischen Ergebnisse seien identisch mit der »›Sache‹ der Schrift, wie sie in der Person und Geschichte Jesu Christi zusammengefaßt und in den Dogmen der Kirche entfaltet ist«. (S. 14). Diese Gewissheit lag seinem hermeneutischen Grundsatz von der Selbstevidenz oder Klarheit der Schrift zugrunde.13
»Die Lehre von der Klarheit der Schrift führte notwendig zu der Forderung, daß jeder theologische Satz durch historisch-kritische Schriftauslegung zu begründen sei«. (S. 14 f). Gleichwohl habe die historisch-kritische Exegese die Grundlagenkrise heraufbeschworen, vor der wir heute ständen. War für Luther der Wortsinn der Schriften noch identisch mit ihrem historischen Gehalt, so sei hingegen für uns beides auseinandergerückt; »das Bild der verschiedenen neutestamentlichen Verfasser von Jesus und seiner Geschichte kann nicht mehr ohne weiteres als identisch mit dem tatsächlichen Hergang der Ereignisse gelten … Luther konnte noch seine eigene Lehre mit dem wörtlichen Inhalt der biblischen Schriften gleichsetzen. Für uns hingegen ist der historische Abstand jeder heute möglichen Theologie vom urchristlichen Zeitalter unübersehbar und zur Quelle der uns am meisten bewegenden theologischen Probleme geworden«. (S. 15).
Anders gesagt: Die Kluft zwischen historischem Faktum und seiner Bedeutung, zwischen Historie und Verkündigung, zwischen Geschichte Jesu und dem vielfältigen Bild von seiner Geschichte im Neuen Testament14 macht es unmöglich, die Inspiriertheit der ntl. Schriften ernsthaft weiter zu vertreten oder gar Wort Gottes und Heilige Schrift gleichzusetzen.15
Abgrenzungen und positive Konstruktion
Aus diesen Einsichten ergeben sich drei polemische Abgrenzungen und entsprechende Konsequenzen für den Ansatz des vorliegenden Buches:
Die erste Abgrenzung bezieht sich auf eine Wort-Gottes-Theologie, nach der »eine methodisch zu erhebende autoritative Offenbarung dem christlichen Lehrvortrag einen objektiven Grund verleihe.«16 Hier werden dogmatische Inhalte vorausgesetzt, die der geschichtlichen Frage gar nicht mehr zugänglich sind, und jegliche historische Untersuchung sieht sich zur Hilfswissenschaft herabgestuft. Denn solche verobjektivierende Theologie gerät früher oder später in den Bann des Supranaturalismus und überspringt damit nicht nur die Geschichtlichkeit antiker Menschen, von denen die biblischen Schriften verfasst wurden, sondern auch die Geschichtlichkeit heutiger Zeitgenossen, die das Wort von damals vernehmen. Für solche dogmatische Theologie ist das schillernde, funkelnde Leben, das zu erfassen sich die historische Betrachtung bemüht, dann nur noch farb- und bedeutungslos.
Die zweite Abgrenzung betrifft eine Kerygmatheologie17, nach der Theologie im wesentlichen Schriftauslegung ist.18 Ihre Vertreter lehnen es ab, schwerpunktmäßig auf die Geschichte hinter den Texten zu sprechen zu kommen19, in der die ntl. Verkündigung wurzelt. Dies sei historisch vielleicht interessant, theologisch aber illegitim, da »alle den Text hinterfragende Rekonstruktion nur so lange ihr Daseinsrecht behält, als sie sich der den Text respektierenden Interpretation kompromißlos unterordnet.«20 Statt der Aufgabe einer historischen Rekonstruktion wollen sie sich bewusst der Anrede und dem Anspruch der ntl. Zeugen stellen und beziehen hieraus das Unterscheidungskriterium zwischen Theologie und Historie.21 Nicht zufällig hat diese Richtung auch keine eigentliche Geschichte des Urchristentums hervorgebracht.22
Die dritte Abgrenzung richtet sich gegen eine Forschungsrichtung, die historisch-kritische Arbeit mit einer heilsgeschichtlichen Sicht verbinden will. So setzt z. B. Leonhard Goppelt23 voraus, dass allein die »heilsgeschichtliche« Schau das Verhältnis von Christentum und Judentum zutreffend in den Blick bekommen könne. Aber so historisch Goppelts Werk auch angelegt und so lehrreich »die Entwicklung des Verhältnisses von Christentum und Judentum bis zum Werden der katholischen Kirche am Ende des 2. Jh.s«. (S. 15) gezeichnet ist – sein Vf. postuliert eine heilsgeschichtliche Kontinuität, eine Erfüllung des alten Bundes in Christi Werk (S. 319) und damit eine bloße Ersatztheorie.
Z. B. heißt es: »Tatsächlich ist die Ablehnung des Evangeliums durch Israel als Volksgemeinde die letzte entscheidende Wende seiner Geschichte und die … letzte Ursache der zweiten Tempelzerstörung«. (S. 311). Eine solche für alle Juden der Folgezeit niederschmetternde Sicht ist doch nur ein dogmatisch-triumphalistisches Postulat christlicher Theologie und keineswegs Ergebnis historischer Forschung, sosehr anzuerkennen bleibt, dass hier wenigstens anders als in der Kerygmatheologie die Erforschung der Geschichte der ersten beiden Jahrhunderte als Aufgabe erkannt und über die Grenze des Kanons hinausgegangen wurde.24
Das Kanonprinzip25 führt im Übrigen ja trotz aller Differenzierungsversuche (z. B. »Kanon im Kanon«) praktisch dazu, den in ihm eingeschlossenen Schriften eine größere Würde zuzuschreiben (vgl. die Anzahl der zu den einzelnen kanonischen Schriften verfassten Kommentare im Vergleich zu denen über nichtkanonische Schriften) und die Geschichte zu einer Geschichte der Sieger zu machen. In dieser Hinsicht behält Gustav Krüger Recht:
»Die Existenz einer neutestamentlichen Wissenschaft oder einer Wissenschaft vom Neuen Testament als einer besonderen theologisch-geschichtlichen Disziplin ist ein Haupthindernis erstens einer fruchtbaren, zu gesicherten und allgemein anerkannten Ergebnissen führenden Erforschung des Urchristentums, also auch des Neuen Testaments selbst, und zweitens eines gesunden theologisch-wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes.«26
Denn es ist ein Gebot geschichtlicher Gerechtigkeit, zunächst alle uns aus der Anfangsphase des Christentums erhaltenen Schriften zu akzeptieren und nicht von vornherein geschichtliches Verstehen durch die dogmatische Setzung einer heiligen Schrift zu verhindern. Das ist aber heute leider der Fall, da die zeitgenössische theologische Literatur zum großen Teil parteilich, d. h. kirchlich bzw. klerikal ausgerichtet ist.27
Diese Klerikalisierung wird erstens dadurch begünstigt, dass Althistoriker und Altphilologen sich hierzulande, von Ausnahmen abgesehen, im Allgemeinen nicht an der Exegese beteiligen, und zweitens dadurch, dass Nicht-Getauften der Zugang zur theologischen Universitätslaufbahn verschlossen ist. Man beachte zusätzlich, dass Menschen ohne Taufschein nicht die staatliche (!) theologische Diplomprüfung an den theologischen Fachbereichen ablegen dürfen und z. B. Juden nicht den theologischen Doktorgrad über ein ntl. Thema an einem theologischen Fachbereich erwerben können. Drittens wird vielfach vorausgesetzt, die Theologie sei eine kirchliche Wissenschaft.28 Diese weitverbreitete Auffassung hat die Forschung mehr behindert als gefördert.29
Demgegenüber gilt ein Satz, der zunächst brutal klingt: »(E)ine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist so wenig christlich, wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist.«30 Denn Theologie als Wissenschaft ist zunächst einmal unkirchlich31, indem sie nach der Wahrheit sucht.
Im Übrigen bejaht protestantisches Christentum die radikale Wahrheitsforschung aus vollem Herzen, und »so viel weiss man bei allen kirchlichen Richtungen von evangelischem Christenthum, dass es da ein Ende hat, wo die Furcht vor der Wahrheit anfängt, zu herrschen.
Eine Kirche, die sich um der Seligkeit willen gegen die Forschung nach der Wahrheit absperrt, gründet zwar tief in der menschlichen Natur, aber nicht in Jesus Christus. Sie ist überhaupt nicht christliche Kirche.«32
Viertens zielen die meisten exegetischen Beiträge heutzutage künstlich auf den theologischen Sinn, den Skopus der ntl. Texte. Die Kanonfrage bleibt stillschweigend unerörtert, so als ob ihr Sinn auch ohne solide historische Grundlagen zu finden wäre. Sie setzen oft unbewusst voraus, die Vernunft sei durch die Offenbarung bzw. durch das Kerygma zu belehren und zu begrenzen. Das bedeutet dann »in der Praxis nichts anderes als Klerikalismus. Denn Vernunft gilt entweder ganz oder gar nicht.«33
In diesem Zusammenhang wird oftmals betont, dass Exegese eine Sache des Gehorsams sei.34 Aber wenn schon Predigtsprache einfließt, dann würde ich eher Wolfgang Schenk darin folgen, dass Exegese »zuerst und vor allem Sache der Liebe (sc. ist), die jeden Menschen und jeden Text ausreden und das sagen läßt und zu verstehen sucht, was er selbst meint, ohne ihn damit zu überfahren.«35
Es ist in der Tat so, dass viele Werke heutiger Exegese blutleer wirken und über der Ermittlung der Absicht des Textes, dem Vergleich der einzelnen Evangelien untereinander und einer säuberlichen Trennung von Redaktion und Tradition vergessen machen, dass die frühchristlichen Schriften einer Bewegung entstammen, die – vor Vitalität nur so strotzend – innerhalb von eineinhalb Jahrhunderten das ganze Römische Reich fast überrannt hat. Ein Anflug von Unwirklichkeit liegt so über den meisten Arbeiten zum Neuen Testament.36 Vielfach zieht man es vor, dunkle religiöse Abstraktionen zu gebrauchen, statt in den historischen Einzelheiten konkret zu werden.37 Man kann sich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass die herkömmlich angewandte Methode die Texte ihrer Kraft beraubt.
Andererseits ist mit Gerhard Ebeling zu fragen, »ob nicht die weit verbreitete entsetzliche Lahmheit und Abgestandenheit der kirchlichen Verkündigung, ob nicht ihr Unvermögen, den Menschen der Gegenwart anzureden, ob nicht ebenso die Unglaubwürdigkeit der Kirche als solcher in hohem Maß damit zusammenhängt, dass man sich davor fürchtet, die Arbeit der historisch-kritischen Theologie in sachgemäßer Weise fruchtbar werden zu lassen.«38 Dabei braucht man die Bejahung der historisch-kritischen Methode gar nicht in einen inneren Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre zu bringen (so Ebeling), sondern wird sie als profanes, christliches Gebot der Wahrhaftigkeit bzw. der »Sittlichkeit des Denkens«. (Friedrich Albert Lange, 1828 – 1875) auffassen.
Meine Arbeit setzt in ihrer Darstellung urchristlicher Geschichte absichtlich »unten« an, d. h., ich bemühe mich um eine Humanisierung der Geschichte des Urchristentums, damit heutige Zeitgenossen sich in ihr wiedererkennen. So hat bereits der erste Kanzler der Universität Göttingen, Johann Lorenz von Mosheim (1694 – 1755), von der Aufgabe der Kirchengeschichtsschreibung ähnlich gedacht.39
Dieser »Vater der neueren Kirchengeschichtsschreibung« hält z. B. die Bekehrung der vielen Menschen vom Heidentum zum Christentum nicht für eine Folge der Wunder – wie damalige supranaturale Kirchengeschichtsschreibung weismachen wollte –, sondern für die Folge der Furcht vor Strafen und der Hoffnung auf ein glückliches Leben im Jenseits. Die so gehandhabte pragmatische Methode hat bei Mosheim eine ungeheure Vermenschlichung des kirchenhistorischen Prozesses zur Folge gehabt. Eine solche quasi anthropologische Kirchengeschichtsbetrachtung bedeutete auch für die Geschichte des Urchristentums eine kopernikanische Wende40, denn fortan war auch hier ein Rekurs auf den heiligen Geist oder den erhöhten Christus als supranaturale Größen unmöglich gemacht worden41, umso mehr, als im »Sinne Mosheims … die Kirchengeschichte ein innerweltlicher und insoweit durchschaubarer eher pragmatischer Geschehenszusammenhang«42 ist.
Allerdings rechnet eine so verstandene Kirchengeschichtsschreibung43 nicht mit einem besonderen Einwirken Gottes zu einzelnen Zeitpunkten der Geschichte. Den in diesem Zusammenhang oft zu hörenden Einwand44, jede Geschichtsschreibung habe ihre Voraussetzungen, und so setze die theologische Kirchengeschichtsschreibung voraus, dass Gott in den Geschichtslauf eingreife, halte ich für verfehlt. Natürlich ist jede Geschichtsschreibung subjektiv gefärbt. Doch ist daraus lediglich die Forderung abzuleiten, sich dieser Voraussetzung bewusst zu werden45, nicht aber unter der Hand quasi zu einem deus ex machina Zuflucht zu nehmen.
Auch wird gefordert: Wer die Geschichte des Christentums erforsche, müsse gläubig, konfessionell sein. Doch schließt eine solche Forderung die Augen vor dem wirklichen historischen Geschehen.
Der Historiker, der beständig ein dogmatisches Gewicht in die Waagschale legt, um seinen historischen Gegenstand zu wägen, entbehrt des eigentlichen geschichtlichen Verständnisses, das vor allem erforschen, entdecken, aufspüren, prüfen und verstehen will und – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie wertet. Z. B. ähneln die Beurteilungen der Kirchenväter nach einem bestimmten dogmatischen Maßstab eher einem nachträglichen Herumdoktern, dem nicht mehr Sinn beizumessen ist als dem Unternehmen eines Arztes, der heutzutage die alten Griechen und Römer von den Krankheiten heilen will, an denen sie gestorben sind. Ein solches Unternehmen kann nur als Ausbund von papierener Gelehrsamkeit bezeichnet werden.46
Echte Geschichtsforschung will vor allem ihrem Gegenstand gerecht werden, ihn lebendig beschreiben, statt ihn nach von außen bezogenen Kriterien zu richten. Das schließt aber die Beschreibung des inneren Problemgehalts, der internen Spannungen des Betrachteten nicht aus, sondern ein.
Die Wissenschaft lebt in und von ihren Methoden, aber das heißt nicht, dass sie in diesen Methoden aufgeht und dass »sie ohne weiteres ihr ihren Wert verleihen. Denn es gibt gute und schlechte Methoden, und nur die kritischen sind gut, vor allem diejenigen, deren Bevorzugung die Wissenschaft ihre Selbstkritik verdankt.«47 Eine allgemeingültige Methode, die für jede Quelle passt, gibt es nicht. Sie ist in der Geschichtsforschung auch gar nicht zu erwarten, da diese nicht mit einer vorher feststehenden Meinung an den Stoff herantritt, sondern aus dem Gegenstand selbst erwächst und sich selbst ständig daraufhin überprüft, ob sie dem Objekt gerecht wird.
Dabei ist nichts lähmender für die historische Kritik, als die Lösung der geschichtlichen Probleme außerhalb ihrer oder gar in einem Eingreifen Gottes zu suchen. Es muss ein selbstverständlicher methodischer Grundsatz sein, das Unbekannte zunächst aus dem Bekannten herauszufinden. Wir setzen bei den Tatsachen ein48, um von dort auf weniger Sicheres zurückzuschließen.49
Meine im Anschluss an Franz Overbeck50 entwickelte Idee einer profanen Kirchengeschichte mündet ein in die Forderung: Entheiligt und gereinigt von allen kirchlich-theologischen Sonderbestimmungen und Erkenntnisprivilegien, »in reiner Weltlichkeit und, wie die wörtliche Übersetzung des Wortes profan lautet, in ›Ruchlosigkeit‹ soll der kirchenhistorische Prozeß verfolgt werden.«51
Damit ist noch nichts über die Wahrheit oder Unwahrheit, über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des zu beschreibenden Objektes ausgesagt. »Die profane Kirchengeschichte beruht nicht auf der Annahme, daß das religiöse Leben der Menschen ein Irrtum sei, wohl aber setzt sie voraus, daß es möglichst ohne Vorurteile erforscht werden müsse.«52
Allerdings meine ich, dass, wenn Gott sich in Jesus von Nazareth den Menschen gezeigt hat, die profane Kirchengeschichtsdarstellung als ehrliche Wahrheitsforschung ihrem Gegenstand nicht entgegenstehen wird. Im Anschluss an Erich Seeberg gesagt: »Ich möchte meinen, daß die geschichtliche Arbeit imstande ist, ein geschichtliches Bild vom Christentum zu erzeugen, das gewissermaßen wie ein Urbild selbst produktiv wirkt.«53
Nun ist klar, dass zur Verarbeitung des riesigen historisch-literarischen Materials – auch in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten – über die bereits gegebene Bestimmung einer Geschichte des Urchristentums hinaus die Aufgabe sinnvollerweise von einer bestimmten Fragestellung aus zu erfolgen hat. So könnte der leitende Gesichtspunkt z. B. der Kult bzw. der Gottesdienst oder die Liturgie sein54, ein anderer die Theologie55, ein weiterer die religionsgeschichtliche Frage, wie sich in den ersten beiden Jahrhunderten die Hellenisierung des Christentums als einer ursprünglich jüdischen Religion vollzog.56 Zugleich ist auf die Wichtigkeit der lokalen Frühgeschichte hinzuweisen (Rom57, Korinth58, Ephesus59, Philippi60, Antiochien61, Alexandrien62 usw.).
Ich möchte für meine Arbeit stattdessen als leitenden Gesichtspunkt den Aspekt der Ketzerei bzw. des Ketzers wählen.63 Ketzerei hat in der heutigen deutschen Sprache den Sinn von Abweichungen »von einer allgemein als gültig erklärten Meinung oder Verhaltensnorm«64 angenommen. Deshalb eignet sich der Begriff gut als leitender Gesichtspunkt einer auf allgemeines Interesse zielenden Darstellung. Demgegenüber ist der Ausdruck »Häresie« auf den kirchlichen Bereich beschränkt und kann den Leser daran hindern, Interesse für den behandelten Gegenstand zu entwickeln.65 Übrigens kommt das Wort Ketzer nicht etwa von Katze, wie man lange meinte, sondern von Katharer (griech. katharoi = die Reinen; ital. gazzari = Ketzer).66
Die letzte Ketzergeschichte des Urchristentums entstammt der Feder des Jenenser Professors Adolf Hilgenfeld aus dem Jahre 188467 und ist gewissermaßen Ausläufer einer Vielzahl von Ketzerhistorien, die allerdings z. T. die ganze Kirchengeschichte umspannen.68 Sein Werk orientiert sich daran, welche Gruppen von der katholischen Kirche als Häretiker angesehen wurden, und beginnt nach einem Überblick über die antihäretischen Schriften der ersten Jahrhunderte mit Simon, dann folgen Menander, Satornil, Basilides usw.69
Diese Vorgehensweise, die in etwa der seiner Vorgänger entspricht, strebe ich hier nicht an. Ich orientiere mich im Folgenden vielmehr an der Fragestellung des Göttinger Patristikers und Neutestamentlers Walter Bauer, der im Jahre 1934 ein wahrhaft denkwürdiges Werk veröffentlichte: »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum«. In der Einleitung dieses leidenschaftlich geschriebenen Buches führt Bauer aus:70
»Es ist für uns heute doch wohl keinem Streit mehr unterworfen, daß die neutestamentlichen Schriften wissenschaftlich nicht zu verstehen sind, wenn man vom Ende des kanonbildenden Prozesses auf sie als auf heilige Bücher zurückblickt und sie nun als Bestandteil der überirdischen Heilsurkunde mit allen daraus sich ergebenden Eigenschaften wertet. Wir haben uns längst angewöhnt, sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen, die Evangelien als mehr oder weniger gelungene Versuche, das Leben Jesu zu erzählen, die Paulusbriefe als Gelegenheitsschriften, an bestimmte, unwiederholbare Sachlagen gebunden mit örtlicher wie zeitlicher Beschränkung ihres Geltungsbereiches. So müssen wir auch den ›Ketzern‹ gegenübertreten. Auch sie wollen wir aus ihrer Zeit heraus erfassen und messen sie nicht an einer werdenden oder gar der späterhin fertiggewordenen Kirchenlehre als dem Normalmaßstab …
Um alle modernen Stimmungen und Urteile von vornherein auszuschließen, gehe ich von der Auffassung aus, welche die alte Kirche bereits im 2. Jahrhundert bezüglich der Ketzer und ihrer Lehren hegt, und prüfe sie auf ihre Haltbarkeit in der Hoffnung, bei solchem kritischen Verfahren einen Weg zum Ziel zu finden. Der kirchliche Standpunkt umfaßt etwa die folgenden Hauptgesichtspunkte:
1. Jesus offenbart die reine Lehre seinen Aposteln, teils vor seinem Tode, teils in den vierzig Tagen vor der Himmelfahrt.
2. Nach seinem endgültigen Scheiden teilen die Apostel die Welt unter sich und jeder bringt dem Lande, das ihm zugefallen, das unverfälschte Evangelium.
3. Auch nach dem Tode der Jünger breitet sich dieses weiter aus. Doch erwachsen ihm jetzt Hemmungen innerhalb der Christenheit selbst. Der Teufel kann es nicht lassen, Unkraut in das göttliche Weizenfeld zu säen; und er hat Erfolg damit. Von ihm verblendet geben gewisse Christen die echte Lehre preis. Die Entwicklung vollzieht sich in folgender Weise: Unglaube, Rechtglaube, Irrglaube. Dafür, daß man den Unglauben unmittelbar mit dem vertauschen könne, was die Kirche Falschglauben nennt, zeigt sich kaum irgendwo auch nur eine Ahnung. Nein, wo es Häresie gibt, muß zuvor Orthodoxie bestanden haben. ›Alle Ketzer‹, sagt etwa Origenes, ›kommen zuerst zur Gläubigkeit; später weichen sie dann von der Glaubensregel ab.‹…
4. Natürlich ist der rechte Glaube unüberwindlich. Trotz aller Bemühungen des Satans und seiner Werkzeuge drängt er Unglauben und Irrglauben zurück und greift siegreich immer weiter um sich. An dieser Überzeugung Kritik zu üben, ist der Wissenschaft nicht schwer gefallen. Sie weiß, daß mit Jesus noch nicht die Kirchenlehre da war; ebenso daß die Zwölf Apostel keineswegs die Rolle gespielt haben, die man ihnen aus Rücksicht auf die Reinheit und Offenbarungsmäßigkeit des Dogmas zuweist. Auch weigert sich eine Geschichtsbetrachtung, die diesen Namen verdient, hier die Gegensätze von Wahr und Unwahr, Böse und Gut in Anwendung zu bringen. Von der den Ketzern nachgesagten sittlichen Minderwertigkeit läßt sie sich nur schwer überzeugen … Dann jedoch kommt früher oder später ein Punkt, an dem die Kritik erlahmt. Allzu leicht … beugt sie sich der kirchlichen Meinung über das Früh und Spät, das Ursprünglich und Abhängig, das Wesentlich und Unwichtig für die Urgeschichte des Christentums. Ist mein Eindruck zutreffend, so geht die ganz überwiegend geteilte Auffassung auch heute dahin, daß schon für die Anfangszeit die Kirchenlehre – natürlich nur auf irgendeiner Stufe der Entwicklung – das Primäre darstellt, die Häresien dagegen irgendwie eine Abwandlung des Echten sind. Ich will nicht sagen, daß diese Anschauung falsch sein müsse, aber ich kann sie ebensowenig für selbstverständlich oder gar für bewiesen und sichergestellt ansehen. Vielmehr liegt hier ein Problem vor, um das man sich mühen muß.«71
Bauers Methode wurzelt ganz im Historismus, der von einer Autonomisierung des historischen Bewusstseins72 geprägt ist. Sie setzt die Gültigkeit historischer Fakten voraus und scheut sich nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse mit kirchlichen Behauptungen kritisch zu konfrontieren.73 Bauer ist demnach ebenfalls Vertreter einer profanen Kirchengeschichtsschreibung,74 deren Aktualität und Fruchtbarkeit im Folgenden zu erweisen sein wird.
Die Übernahme seines Ansatzes bedeutet nicht, dass ich mit den Einzelergebnissen seiner Arbeit stets übereinstimme. So waren am Ende des 2. Jh.s die ketzerischen Lehren bzw. das, was die offizielle Kirche als häretisch ansah, nicht unbedingt identisch mit dem, was gewisse Kreise ein Jahrhundert zuvor als ketzerisch betrachteten.75
Auch sind diejenigen Gruppen, die am Ende des 2. und am Ende des 1. Jh.s Ketzerhüte verteilten, in ihrer Theologie nicht automatisch miteinander gleichzusetzen. Wohl aber bedeutet Bauers Fragestellung, die ausgehend vom Ende des 2. Jh.s für die frühe Zeit die Ausdrücke »Ketzerei« und »Rechtgläubigkeit« zunächst rein formal gebraucht, einen fruchtbaren Gesichtspunkt, um der Vielfalt von »Christentümern« in den ersten beiden Jahrhunderten und ihrer Kämpfe untereinander gewahr zu werden. »Rechtgläubigkeit« bezeichnet dann, für die frühe Zeit gebraucht, nur den Anspruch, den rechten Glauben zu besitzen, der ihn anderen, die davon abweichen, abspricht und sie sogleich der Ketzerei bezichtigt. Ferner ist offenbar in manchen Gebieten das, was später als ketzerisch galt, der »Rechtgläubigkeit« vorangegangen.
Diese Erkenntnis Bauers bewährt sich besonders hinsichtlich der ältesten judenchristlichen Gemeinde Jerusalems, deren Nachfahren zu Ketzern erklärt wurden. Sie dürfte aber auch für andere christliche Gruppen zutreffen.
Schließlich stellt sich im Anschluss an Bauers Werk die Aufgabe, darzustellen, wie sich trotz oder gerade wegen der Pluralität christlicher Gruppen in der Frühzeit später eine »rechtgläubige« katholische Kirche mit festen Formen und Institutionen entwickeln konnte, von der die »Ketzerei« endgültig ausgeschieden wurde. Da jedoch seit der Publikation seines Werkes in der zweiten Auflage (1964) der gesamte Handschriftenfund von Nag Hammadi zugänglich ist76, ferner die sog. ntl. Apokryphen mehr beachtet werden77 und überhaupt das 2. Jh. verstärkt das Interesse der Forschung gefunden hat78, ist eine neue Rekonstruktion frühchristlicher Ursprünge sinnvoll, dies um so mehr, als die Herausbildung dessen, was als Neues Testament bekannt ist, in diesem 2. Jh. erfolgte.79 M. a. W., in dieser Zeit – nicht schon im 1. Jh. – schälte sich die grund-legende Entscheidung über die Zusammensetzung der heiligen Schrift der katholischen Christen und über ihre »richtige« Auslegung heraus, die einschneidende Konsequenzen für nichtkatholische Gruppen hatte. Pointiert gesagt: In der Zeit von der ersten christlichen Generation bis zum Ende des 2. Jh.s fielen wichtigere Entscheidungen für die gesamte Christenheit als vom Ende des 2. Jh.s bis heute.
Zum Aufbau des vorliegenden Buches
Das nun folgende Kapitel beschäftigt sich mit zwei ketzerbestreitenden Werken aus dem Ende des 2. bzw. dem Anfang des 3. Jh.s, den fünf Büchern »Gegen die Häresien« des Bischofs Irenäus von Lyon und der »Prozesseinrede gegen die Häretiker« aus der Feder Tertullians von Karthago. Beide Werke haben wesentlich zur »Widerlegung« der von der katholischen Kirche ausgeschiedenen Ketzereien beigetragen und mit ihrem Geschichtsbild, dass angeblich allseits die Orthodoxie der Ketzerei voranging, christliche Theologie fast 2000 Jahre lang zur Selbsttäuschung verleitet und die kritische Forschung davon abgehalten, die christlichen Ursprünge, so wie sie wirklich waren, zu rekonstruieren. Indem ich die Arbeitsweise dieser beiden einflussreichen Ketzerbestreiter genau untersuche und ihre Grenzen aufzeige, will ich ein Stück des Schleiers lüften, der nach wie vor über den ersten beiden christlichen Jahrhunderten liegt.
In Kapitel 3 geht es um die Jerusalemer Judenchristen der ersten beiden Jahrhunderte. Die Überschrift lautet: »Wie aus Ketzerbestreitern Ketzer wurden oder: Die Jerusalemer Judenchristen in den ersten beiden Jahrhunderten«. Sie orientiert sich daran, dass der älteste sichtbare Kampf gegen Andersdenkende von den ersten Christen in Jerusalem ausging. Sie waren es, die faktisch den Begriff der Ketzerei in die Kirche gegen Paulus eingeführt haben, während sich dieser durch eine relativ große Offenheit gegenüber andersdenkenden Christen auszeichnete. »Die noch in den Anfängen stehende Verfestigung der Gedankenbildung im Verein mit der apostolischen Weitherzigkeit, die allen alles werden kann, um alle zu gewinnen, lassen ihn eine Duldsamkeit entfalten, die kaum einen Ketzer kennt.«80
Über die Apostel vor sich schreibt Paulus: »Ob nun ich oder jene, so predigen wir, und so seid ihr zum Glauben gekommen«. (1Kor 15,11).
Angesichts von Widersachern zeigt er sich versöhnlich und bemerkt:
(15) »Einige zwar predigen Christus auch aus Neid und Streit, einige aber auch mit guter Absicht;
(16) die(se) aus Liebe, weil sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums bestimmt bin;
(17) die (anderen) aber verkündigen Christus aus Selbstsucht, nicht aufrichtig, in der Meinung, meine Fesseln zu verunglimpfen.
(18) Was tut’s? Nur dass auf jede Weise, sei es zum Schein oder wahrhaftig, Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich.«. (Phil 1,15 – 18a)
Selbst die Auferstehungsleugner in Korinth (1Kor 15,12) versucht Paulus zu überzeugen, ohne sie aus der Gemeinde auszuschließen. Nur bei einem Verstoß wie dem sexuellen Verkehr zwischen Stiefsohn und Stiefmutter (1Kor 5,1 ff) und gegenüber judenchristlichen Widersachern, die in seine heidenchristlichen Gemeinden eingedrungen waren, wird Paulus rabiat. Im letzten Fall spricht er ein konditionales Verdammungsurteil (Gal 1,8 f.; vgl. Phil 3,2) als Reaktion81 auf seine eigene Verketzerung hin aus, und im ersten wird »die Übergabe an den Satan« durch die ausdrückliche Aussage der Rettung im Endgericht eingeschränkt.82 Paulus als dem einzigen Ketzer der ältesten Zeit ist daher Kapitel 4 dieses Buches gewidmet.
Die übrigen Kapitelüberschriften ergeben sich daraus, was zum Ketzertum als Gesichtspunkt der Darstellung gesagt wurde, fast wie von selbst. Kapitel 5 stellt die sachlich in zwei Flügel gespaltenen Pauluserben dar, die sich beide ausdrücklich auf den Apostel beriefen, unter Benutzung seines Namens Briefe verfassten bzw. fälschten und von denen der eine Flügel den anderen verketzerte.
Kapitel 6 wendet sich aus sachlichen Gründen im unmittelbaren Anschluss daran Markion zu, dem großen Reformator des 2. Jh.s, der den ersten ntl. Kanon, bestehend aus LkEv und Paulusbriefen (beide jeweils in ihrem »ursprünglichen« Inhalt), zusammenstellte, aber bald als Erstgeborener des Satans verketzert wurde. Kapitel 7 handelt von den chronologisch vor Markion liegenden Ketzereien im johanneischen Schrifttum, wobei die durch einen Glücksfall im 2Joh und 3Joh dokumentierte Spaltung des johanneischen Kreises besondere Aufmerksamkeit erfährt.
Nachdem so an konkreten Personen und Situationen Schlaglichter auf die »Ketzereien« im Urchristentum geworfen worden sind und ihre Geschichte nacherzählt worden ist, wendet sich Kapitel 8 der Frage der Entstehung des apostolischen Glaubensbekenntnisses und Kapitel 9 dem Problem der Ausbildung des ntl. Kanons zu. Damit ist wieder der historische Ausgangspunkt des Buches, der katholische Standort des Irenäus und Tertullians, erreicht und ein Beitrag zur Entstehung der katholischen Kirche geleistet. Von dort richtet sich in Kapitel 10 der Blick zurück auf die Anfänge, Jesus von Nazareth, um das Verhältnis seiner Lehre, seiner Taten und seiner Hoffnungen zu dem, was nach ihm kam, zu klären.