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Kapitel 2:
Irenäus von Lyon und Tertullian von Karthago, die wichtigsten Ketzerbestreiter der christlichen Frühzeit
ОглавлениеI. Irenäus 1
Irenäus stammt aus Kleinasien; hier erblickte er vor 142 n. Chr. das Licht der Welt. In seiner Jugend war er Hörer des Bischofs Polykarp von Smyrna (Izmir). Später wurde er Presbyter in Lugdunum (Lyon), überbrachte im Jahr 177 n. Chr. ein den Montanismus betreffendes Schreiben seiner Gemeinde nach Rom und folgte nach 178 n. Chr. Pothinus als Bischof von Lyon nach. Zwei seiner Schriften sind in Übersetzung erhalten, das Anfang des letzten Jh.s entdeckte Alterswerk »Aufweis der apostolischen Verkündigung«2 (in armenischer Sprache) und eine aus dem Ende des 4. Jh.s stammende lateinische Version seines fünfbändigen Ketzerwerkes »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis«. (= Haer)3, dessen griechisches Original sich an zahlreichen Stellen wiedergewinnen lässt4, da spätere Ketzerbestreiter wie Hippolyt von Rom5, Epiphanius von Salamis6 und Theodoret von Kyros7 ebenso wie der Kirchenhistoriker Euseb von Cäsarea8 daraus umfangreiche wörtliche Zitate mitteilen.
Zur Anlage von Irenäus’ Werk »Gegen die Häresien«
Das erste Buch will die Lehren der Ketzer ans Licht ziehen und enthält viel wertvolles Traditionsmaterial. Im zweiten Buch setzt sich Irenäus zum Ziel, »in langen Hauptstücken ihre ganze Lehre zu widerlegen«. (Vorrede 2) und handelt beispielsweise von Gott, dem Schöpfer (II 1 – 13), unter gleichzeitiger Abweisung anderslautender gnostischer Lehren. Das dritte Buch setzt neu zur Widerlegung der Ketzer auf der Grundlage der überlieferten Schriften der Kirche ein und bespricht zunächst die vier Evangelien (III 1) und die Lehre der Apostel (III 12 ff), wobei dazwischen immer wieder thematische Exkurse eingeschoben werden (z. B. III 8 über Mt 6,24; III 10: Lk und Mk über den Gott des Alten Testaments). Das vierte Buch wendet sich den Reden Jesu zu und das fünfte hauptsächlich den Briefen des Paulus mit einem Ausblick auf die neue Erde bzw. das Ende der Welt (V 28 – 36). In den Vorreden zu den fünf Büchern und in einzelnen Überleitungen und Rückblicken verknüpft Irenäus seine Aussagen miteinander. Doch bleibt das Ganze relativ unübersichtlich. Man gewinnt den Eindruck, dass der Bischof sehr viel vorgeformtes Material übernommen hat, z. B. auch atl. Auslegungen seitens seiner Vorgänger.
Das Interesse des Irenäus
Irenäus’ Theologie ist die eines Kirchenmannes. Er führt seinen antiketzerischen Kampf einerseits zur Verteidigung des Schöpfergottes und andererseits zum Schutz der einfachen Kirchenchristen. Einige Proben, in denen der Bischof selbst spricht, mögen das verdeutlichen.
»Es gibt Leute, die geben die Wahrheit aus der Hand und bringen falsche Lehren auf und ›endlose Genealogien, die nur Streitfragen mit sich bringen‹, wie der Apostel sagt, ›statt der Erbauung Gottes zu dienen, die sich im Glauben verwirklicht‹ (1Tim 1,4). Mit listig eingeübter Überredungskunst verführen sie die Ahnungslosen in ihren Vorstellungen und fangen sie ein, indem sie leichtfertig mit dem Herrenwort umgehen und das, was richtig gesagt ist, falsch ausdeuten. Viele stürzen sie dadurch ins Verderben, dass sie sie unter Vortäuschung besonderer Erkenntnis vom Schöpfer und Ordner des Alls abbringen, als ob sie ein höheres und größeres Wesen vorzeigen könnten als den Gott, der Himmel und Erde und alles darin gemacht hat (Ex 20,11; Ps 146,6: LXX 145,6; Apg 4,24; 14,15). Auf gewinnende Art bringen sie die Arglosen durch trickreiche Reden dazu, sich auf die Suche zu machen; auf gar nicht gewinnende Art aber richten sie sie zugrunde, indem sie ihr Denken zu Blasphemie und Frevel gegen den Weltschöpfer machen, so dass sie nicht mehr in der Lage sind, Falsch und Wahr voneinander zu unterscheiden.«. (Haer I, Vorrede 1)9
»Denn solcherart ist bloß das Geschäft von Lügnern, Verführern und Heuchlern, wie es die Valentinianer sind. An die Menge nämlich richten sie mit Rücksicht auf die, welche von der Kirche kommen, und die sie auch gemeine Ekklesiastiker nennen, Vorträge, um die Einfältigeren einzufangen und anzulocken, indem sie immer aufs neue unseren Vortrag nachahmen, und beklagen sich dann über uns, dass wir uns ohne Grund von ihrer Gemeinschaft zurückhielten, da sie doch Ähnliches lehrten wie wir, und dass wir sie Häretiker nennen, obwohl sie dasselbe lehrten und dieselbe Lehre hätten«. (Haer III 15,2).10
Irenäus sieht also die ihm als bischöflichem Hirten anvertraute Herde durch ketzerische Agitation in seiner eigenen Gemeinde bedroht und besteht auf rigoroser Trennung, weil die Ketzer trotz gegenteiliger Beteuerung etwas ganz anderes als die Kirche lehrten.
Die folgende Polemik gegen Markus, einem gnostisch-christlichen Lehrer aus der Mitte des 2. Jh.s, belegt anschaulich, wie der Kontakt zwischen »Ketzern« und »Gläubigen« zustande kam. Irenäus berichtet:
»Einer unserer Diakone in Asien hat ihn (sc. Markus) in sein Haus aufgenommen und erlebte folgendes Unglück. Seine Frau, die sehr schön war, wurde von diesem Magier an Geist und Leib verdorben und ist ihm lange Zeit nachgelaufen. Schließlich konnten die Brüder sie unter großer Mühe bekehren. Sie tat dann die ganze Zeit Buße und klagte und weinte über die Schande, die ihr der Magier angetan hatte«. (Haer I 13,5).
Diese Polemik mit ihren sexuellen Untertönen ist ebenso typisch wie ungerecht, beleuchtet aber gleichzeitig das Wirkungsfeld des von Irenäus angegriffenen Ketzerhauptes Markus.11
An der soeben zitierten Stelle setzt Irenäus seine Polemik fort, indem er wiederum die fast automatische Durchschlagskraft einer sexuellen Anklage nutzt:
»Auch einige seiner Schüler ziehen wie er durch die Gegend und haben schon viele Frauenzimmer betrogen und verdorben. Sie ernennen sich selbst zu Vollkommenen, als ob niemand sie an Größe der Erkenntnis erreichen könnte, wen du auch nennst. Kein Paulus, kein Petrus, kein anderer Apostel. Sie wollen mehr als alle wissen und haben die Größe der Erkenntnis der unsagbaren Kraft getrunken. Sie sind in der Höhe noch über aller Kraft. Deswegen haben sie auch die Freiheit, alles zu tun, ohne irgendwelche Angst wegen irgendetwas haben zu müssen … Mit solchen Reden und Praktiken haben sie auch hierzulande bei uns im Rhonegebiet viele Frauen getäuscht. Mit verbranntem Gewissen (vgl. 1Tim 4,2) tun die einen öffentlich Buße, die anderen genieren sich deshalb, ziehen sich still zurück und haben die Hoffnung auf das Leben bei Gott (vgl. Eph 4,18) aufgegeben, wobei manche nun ganz abgefallen sind, andere aber noch schwanken und erlebt haben, was das Sprichwort sagt, dass sie nämlich weder draußen noch drinnen sind.«. (Haer I 13,6 f.)
Als die Angegriffenen das und andere Ausführungen zu liturgischen Riten und Formeln der Erlösung (vgl. Haer I 21) lasen, haben sie heftig protestiert, wie Hippolyt ca. 20 Jahre später berichtet12:
»Der selige Presbyter Irenäus hat sich mit großem Freimut an ihre Widerlegung gemacht und hat diese Waschungen und Erlösungen (sc. ihres Lehrers Markus, wie z. B. die pneumatische Hochzeit und die Salbung der Sterbenden mit Olivenöl) auseinandergesetzt, indem er ihr Tun ausführlich schilderte. Da nun einige von ihnen das lasen, leugneten sie, derartige Lehren überkommen zu haben. Sie werden ja immer angeleitet zu leugnen.«. (Ref VI 42)13
Wesentlich ist die Erkenntnis, dass Irenäus und seine Nachfolger Polemiker größten Stils sind und ihre Gegner ungerecht behandeln. Irenäus’ Werk ist das typische »Beispiel einer unübersichtlichen und ermüdenden Ketzerbestreitung, die aus Mangel an geistiger Überlegenheit nach jedem Argument greift, mit dem sich die Gegner verunglimpfen, verdächtigen und karikieren lassen.«14
Für Irenäus ist »die fälschlich so genannte Gnosis« ein Sammelname einer Reihe untereinander geradezu entgegengesetzter Gruppen.15 So schreibt er in der Vorrede zu Haer II: In Buch I habe er zunächst die Erfindungen der Valentinianer (und hier besonders der Ptolemäer) als Lügenrede erwiesen. Die anderen Ketzer seien praktisch deren Vorfahren, und alle gingen auf Simon, den Magier, zurück. Indem Irenäus die Valentinianer angreift, meint er, zugleich die anderen zu treffen. Man vgl. ferner Haer II 31,1: »Nachdem also die Valentinianer widerlegt worden sind, ist auch die gesamte Menge der Ketzer zu Fall gebracht.«
In seinem ersten Buch hatte er offenbar ein älteres antiketzerisches Werk verarbeitet, das alle Häretiker von Simon Magus ableitet (vgl. Haer I 23,1: Simon, »von dem alle Ketzereien abstammen«). In dem von Irenäus benutzten Werk eines Vorgängers folgen auf Simon sein Schüler Menander, dann Saturnin, Basilides, Karpokrates, Kerinth, Ebioniten, Nikolaiten, Kerdon, Markion. Da der Apologet Justin um 150 n. Chr. in I Apol 26 auf ein nicht erhaltenes antiketzerisches Werk verweist und dort die Reihenfolge Simon – Menander – Markion erscheint, wird vielfach Justins verlorene Schrift für die Vorlage von Irenäus, Haer I 23 ff gehalten. Doch ist sogleich einschränkend zu bemerken, dass in keinem Fall die Ebioniten Teil einer antihäretischen Schrift Justins gewesen sein können, da die meisten von ihnen in den Augen des aus Palästina (Neapolis) gebürtigen Apologeten Justin noch keine Ketzer waren (Dial 46 f. – zu diesem Text s. unten S. 86 – 90). Außerdem dürften die Nikolaiten, von denen wir Apk 2,14 – 15 hören – sie aßen Götzenopferfleich und »trieben Unzucht« –, hinzugewachsen sein, da sie entgegen der »Überschrift« des vorirenäischen Ketzerwerkes nicht von Simon, sondern von Nikolaos abgeleitet werden: »Die Nikolaiten haben Nikolaos als ihren Lehrer (also nicht Simon, Vf.), einen von den Sieben, die von den Aposteln als die ersten Diakone eingesetzt wurden.«. (Haer I 26,3)
Der antiketzerische Abschnitt bei Irenäus, Haer I 23 – 28 ist so aufgebaut, dass die meisten Ketzer zumindest eine Einzelheit von dem vertreten, was Simon bereits gelehrt hat.16 Besonders auffällig sind die Übereinstimmungen zwischen Simon Magus (I 23,1 – 4) und den Basilidianern (I 24,3 – 7) sowie den Karpokratianern (I 25,1 – 6)17:
1 Schöpfung der Welt durch rebellische Engel (I 23,5; 24,1 f.; 25,3);
2 Fehlen eines einzelnen Schöpfers;
3 Unkenntnis des Urwesens durch die feindlichen Mächte (vgl. zusätzlich I 26,1);
4 Seelenwanderung;
5 Kriegsmotiv;
6 Scheinkreuzigung (vgl. zusätzlich I 26,1);
7 Propheten als Gesandte der Engel;
8 paulinisch-kyrenäische Gesetzeslehre;
9 Libertinismus (vgl. zusätzlich I 26,3; 27,3 [?]; 28,2 – ferner I 6,3; 13,6 f; 31,2);
10 Magie und Idolatrie (vgl. außerdem I 13,5);
11 Gleichgestalt der Anhänger mit dem Meister.
Damit wird förmlich historisch »bewiesen«, dass sie wirklich von Simon abstammen. Trifft das zu, dann sind die fraglichen Lehren schon daraus als Ketzereien ersichtlich, dass eben jener Simon eine Abfuhr durch Petrus erhalten hat. Dies zeige unzweifelhaft der Bericht der kanonischen Apg (Kap. 8), den Irenäus selbst vor dem Ketzerkatalog ausschreibt (Haer I 23,1), freilich ohne die Bitte Simons an die Apostel zu erwähnen, sie mögen für ihn beten, Apg 8,24: »Bittet ihr den Herrn für mich, dass nichts von dem über mich komme, was ihr gesagt habt!«
Der Vf. der Apg war also gegenüber dem Erzhäretiker Simon noch milder als 100 Jahre später Irenäus. Der Grund dafür liegt vor allem in der verschiedenen kirchenhistorischen Lage. Irenäus setzt strikt die Trennung von Orthodoxie und Ketzerei voraus, beim Vf. der Apg ist die Lage noch nicht so verfestigt. Er führt einen begrenzten Dialog mit konkurrierenden synkretistischen Gruppen. Dies zeigt sich nicht nur an der Simon-Perikope (Apg 8), sondern auch an der relativ offenen Gestaltung der Abschnitte über Elymas (Apg 13,6 – 12) und die Söhne des Skeuas (Apg 19,13 – 17). Elymas’ Blindheit ist nur begrenzt (13,11), und die Söhne des Skeuas flohen nackt (19,16). Der Autor »vermag … die Kritik des Synkretismus durchzuführen, ohne dessen Repräsentanten schon prinzipiell preiszugeben.«18
Irenäus beschreibt mit einer technisch zu nennenden Terminologie die Abhängigkeit der verschiedenen Häretiker untereinander. Simon hat in Menander einen Nachfolger, Markion ist der Nachfolger des Kerdon. Alle referierten Gnostiker, die auch Simonianer genannt werden (Haer I 29,1), sind Schüler und Nachfolger Simons (Haer I 27,4). Im Vorwort zu Buch II heißt es: »Wir haben die Lehre ihres Stifters Simon und aller jener, die ihm nachfolgten, aufgezeigt.«
Norbert Brox hat aus dem Vorkommen dieser technischen Terminologie geschlossen, dass es bei den Gnostikern »eine feste Vorstellung … von Lehrtradition«19 gebe. Demgegenüber wird man umgekehrt damit rechnen müssen, dass diese Ausdrucksweise aus dem Kampf des Irenäus bzw. seiner Vorgänger gegen »die fälschlich so genannte Gnosis« zu begreifen ist. Man übertrug das eigene Traditionsprinzip auf die Gegner und führte ebenso wie die eigenen kirchlichen Lehren auch alle gnostischen Phänomene auf Personen in der apostolischen Zeit zurück. So fand man den Ursprung der gegnerischen Lehren in der Verkündigung des Apg 8 bezeugten Simon Magus, und der zeitgenössische Konflikt konnte in der normativen Zeit der Apostel als schon längst entschieden gelten, hatte doch der Apostelfürst Petrus jenen Simon abgewiesen.
Zur Theologie des Irenäus
Irenäus’ Theologie, die stark von seinem Kampf gegen Irrlehrer geprägt ist, lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
Erstens sind der Schöpfer der Welt und der Vater Jesu Christi ein und derselbe.
Zweitens fasst Christus das »All«, den »Menschen« mit allem, was hinzugehört, zusammen. Er »rekapituliert« es, greift die gesamte Unheilsgeschichte auf und macht sie damit ungültig. Auf diese Weise ist die letzte Einheit von Schöpfung und Erlösung gesichert.
Drittens haben die Bischöfe und kirchlichen Lehrer den Zusammenhang mit den Aposteln in gerader Folge bewahrt.
»Durch keine anderen wissen wir von dem Plan unserer Erlösung als durch jene, dank derer die Heilsbotschaft zu uns gelangte. Diese haben sie damals zunächst mündlich verkündet, danach aber überlieferten sie uns dieselben nach Gottes Willen in Schriften, die ›Fundament und Säule (1Tim 3,15) unseres Glaubens werden sollten«. (Haer III 1,1).
Viertens ist neben der Schrift auch die apostolische Verkündigung als »Regel der Wahrheit« Norm der Auslegung (vgl. Haer II 35,4), wobei der Kanonbegriff in einem dialektischen Verhältnis zum Schriftenkanon selbst steht. Theoretisch würde sogar gelten: »Hätten nämlich die Apostel nichts Schriftliches uns hinterlassen, dann müsste man eben der Ordnung der Tradition folgen, die sie den Vorstehern der Kirchen übergeben haben«. (Haer III 4,1).20
II. Tertullian 21
Tertullian war nach dem Zeugnis des Hieronymus (vir. ill. 53) Presbyter in Karthago. Doch ist die Richtigkeit dieser Notiz zweifelhaft. Sein Geburts- und Todesjahr sind unbekannt und kaum annähernd zu bestimmen. Allerdings geben einige Schriften Hinweise auf ihre Entstehungszeit und erlauben daher, Tertullians schriftstellerische Tätigkeit etwa auf die Jahre 196 – 220 zu begrenzen sowie die Schriften zeitlich zu ordnen. Montanist22 ist er spätestens 207 geworden. Konflikte mit der Kirche und besonders dem römischen Bischof waren fast vorprogrammiert, doch fanden seine Schriften aus sämtlichen Lebensperioden damals eine interessierte Leserschaft, so dass sie sich in großer Zahl bis in die Neuzeit hinein erhalten haben. Wann, wo und warum er zum Christentum übergetreten ist, wissen wir nicht; nur dass er früher Heide war, ist von ihm selbst bezeugt.23
Tertullians antiketzerischer Kampf. Sein Charakter
In der Schrift »Prozesseinrede gegen die Häretiker«. (De praescriptione haereticorum) übertrug der juristisch gebildete Römer Tertullian das juristische Prozessmittel, dem Gegner durch Einrede die Rechtsfähigkeit zu bestreiten, in den theologischen Bereich. »Er versteht darunter die Geltendmachung des formellen Rechts, vor der sachlichen Erörterung die Bedingung des Streites festzusetzen.«24 Demnach ist die Schrift das rechtmäßige Eigentum der Kirche. Die Ketzer sind gar nicht befugt, sie zu gebrauchen; ihnen muss man von vornherein die Rechtsfähigkeit absprechen, weil die katholische Kirche unmittelbar von den Aposteln sowohl ihre Lehre als auch die Heilige Schrift zu einem Zeitpunkt empfangen hat, da es die Ketzer noch gar nicht gab. Tertullian schreibt hier:
»Wenn sie Häretiker sind, so können sie keine Christen sein, da sie die Lehren, welchen sie nach eigener Wahl anhangen und weshalb sie sich den Namen Häretiker gefallen lassen müssen, nicht von Christus erhalten haben. Als Nichtchristen erlangen sie daher keinerlei Eigentumsrecht an den christlichen Schriften. Man könnte sie mit Recht fragen: Wer seid ihr denn eigentlich? Wann und woher seid ihr gekommen? Was macht ihr auf meinem Grund und Boden, da ihr nicht zu den Meinigen gehört? Mit welchem Recht, Markion, fällst du denn eigentlich meinen Wald? Wer erlaubt dir, Valentin, meine Quellen anders zu leiten? Wer gibt dir, Apelles, die Macht, meine Grenzen zu verrücken? Das Besitztum gehört mir! Wie könnt ihr übrigen hier nach eurem Gutdünken säen und weiden? Mein ist das Besitztum, ich besitze es von jeher, ich habe es zuerst besessen, ich habe sichere Übertragungstitel von den ersten Eigentümern selbst, denen die Sache gehört hat. Ich bin Erbe der Apostel«. (Praescr 37).
Den heutigen Leser beschleicht bei solchen Sätzen das Gefühl, dass jemand um jeden Preis Recht behalten will, wobei der Zweck die Mittel heiligt und Sachlichkeit nicht angestrebt wird. Hier redet der juristisch geschulte Christ Tertullian, der den Prozess zu gewinnen strebt, dem aber die Wahrheit irgendwie abhanden gekommen ist, weil er sie fest zu besitzen meint. Ein Suchen nach der Wahrheit kommt für ihn nicht mehr in Frage, und jene Sucherreligiosität25 der Ketzer, die sich z. B. auf Jesu Wort Mt 7,7/Lk 11,9 (»Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan«) stützten, war ihm ein Gräuel. Er schreibt:
»Ich möchte es ein für allemal gesagt haben: Niemand sucht, als wer etwas nicht hat oder es verloren hat. Jene Alte (sc. im Evangelium) hatte eine von ihren zehn Drachmen verloren (Lk 15,8 f); deshalb suchte sie; sobald sie sie aber gefunden hatte, hörte sie auf zu suchen. Der Nachbar hatte kein Brot (Lk 11,5 – 8); deshalb pochte er; sobald ihm aber aufgemacht und es ihm gegeben war, hörte er auf zu pochen. Die Witwe begehrte vom Richter, angehört zu werden (Lk 18,1 – 8), weil sie keinen Zutritt erhalten hatte; sobald sie aber Gehör erlangt hatte, drang sie nicht länger in ihn. Folglich gibt es ein Ende für das Suchen, Klopfen und Bitten«. (Praescr 11).
»Seit Jesus Christus bedürfen wir des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet wurde. Wenn wir glauben, so wünschen wir über das Glauben hinaus weiter nichts mehr. Denn das ist das erste, was wir glauben: es gebe nichts mehr, was wir über den Glauben hinaus noch zu glauben haben«. (Praescr 7).
Kein Wunder, dass Tertullian zufolge beim Streit mit den Ketzern weiter nichts herauskommt, »als dass man sich den Magen verdirbt oder Kopfschmerzen bekommt«. (Praescr 16).
Doch begnügte sich Tertullian nicht mit dem Argument der Prozesseinrede, sondern bemühte sich auch um eine hier nicht weiter darzustellende, äußerst genaue, umfängliche Widerlegung der Monarchianer, Markioniten und der geläufigen Spielarten der Gnosis.26
Karl Holl hat Tertullians antiketzerische Arbeitsweise so beschrieben:
»Für jede Meinung findet er einen Kontrast, um sie lächerlich zu machen. Er hat auch über dieses Mittel freimütig bekannt:›Wenn man da und dort lacht, so wird man damit nur der Sache hier gerecht werden. Manche Dinge sind es wert, auf diese Weise widerlegt zu werden, damit man ihnen nicht durch die ernsthafte Behandlung Verehrung zollt‹.«27
Es ist daher kein Zufall, dass dieser Charakter, als er Montanist war und gegen die römische Kirche kämpfte, die einst von ihm so hoch gepriesenen kirchlichen Liebesfeiern (Apol 39,16 – 21) in den Schmutz zog.28 Und als der römische Bischof Kallist grundsätzlich das Recht des Bischofs festschrieb, Todsündern (d. h. Unzuchtsündern) Vergebung zu gewähren, löste das bei Tertullian scharfen Protest aus.29 Bei seinem Charakter nimmt es nicht wunder, dass Tertullian sich zuletzt sogar von den Montanisten getrennt und eine eigene Sekte gegründet hat.30
III. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Irenäus und Tertullian
Während Tertullian die Rechtsgrundlage der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Gnosis bestreitet, akzeptiert Irenäus die Gnostiker als Disputanten über die Schrift, da ihre Bekehrung nicht ausgeschlossen sei. Er schreibt z. B.: »Wir wollen … die Reden des Herrn anführen, ob wir nicht vielleicht durch Christi Lehre einige von ihnen überzeugen … können«. (Haer III 25,7). Irenäus will allein mit der Schrift siegreich sein; Tertullian lehnt das ausdrücklich ab. Bei ihm gibt eine »der Schrift und Exegese übergeordnete Instanz … den Ausschlag. Die Schrift bleibt folglich aus dem Disput, und eine Berufung der Gnostiker auf sie wird nicht zugestanden.«31 Er weigert sich also strikt, zum Zweck der Urteilsfindung mit den Ketzern zusammen auf den Text selbst zurückzugehen.
Doch müssen bei beiden Kirchenvätern gleichfalls außertheologische Gesichtspunkte ins Spiel gebracht werden, die ihnen bei ihrer Polemik die Feder geführt haben mögen. Ohne sie würden wir das, was damals wirklich vorging, nicht verstehen.32
Besonders verdächtig schien Tertullian die weitgehende »Demokratisierung« unter den gnostischen Christen. Er schreibt hierüber:
»Ich will nicht unterlassen, auch von dem Wandel der Häretiker eine Schilderung zu entwerfen, wie locker, wie irdisch, wie niedrig menschlich (sic!) er sei, ohne Würde, ohne Autorität, ohne Kirchenzucht, so ganz ihrem Glauben entsprechend. Vorerst weiß man nicht, wer Katechumene, wer Gläubiger ist, sie treten miteinander ein, sie hören miteinander zu, sie beten miteinander – und der Heide auch mit, wenn er etwa dazukommt; sie werfen ihr Heiliges den Hunden und ihre, wenn auch unechten, Perlen den Säuen hin. Das Preisgeben der Kirchenzucht wollen sie für Einfachheit gehalten wissen, und unsere Sorge für dieselbe nennen sie Augendienerei. Was den Frieden angeht, so halten sie ihn auch unterschiedslos mit allen. Es ist in der Tat auch zwischen ihnen, obwohl sie abweichende Lehren haben, kein Unterschied, da sie sich zur gemeinschaftlichen Bekämpfung der einen Wahrheit verschworen haben. Alle sind aufgeblasen, alle versprechen die Erkenntnis. Die Katechumenen sind schon Vollendete, ehe sie noch Unterricht erhalten haben«. (Praescr 41).
Ein besonderes Ärgernis stellten die ketzerischen Frauen dar. Über sie schreibt er im unmittelbaren Anschluss:
»Und selbst die häretischen Frauen, wie frech und anmaßend sind sie! Sie unterstehen sich zu lehren, zu disputieren, Exorzismen vorzunehmen, Heilungen zu versprechen, vielleicht auch noch zu taufen«. (ebd.).
Ein anderer Punkt, der seinen besonderen Widerstand erregte, war der laxe Umgang der Gnostiker mit Autorität und besonders dem Bischofsamt.33 Darüber schreibt er:
»So ist denn heute der eine Bischof, morgen der andere; heute ist jemand Diakon und morgen Vorleser; heute einer Priester und morgen Laie; denn sie tragen die priesterlichen Verrichtungen auch Laien auf«. (Praescr 41).
Eine solche Vorstellung war auch Irenäus unerträglich, der seit 178 n. Chr. Bischof der Gemeinde von Lyon und Vienne war. Sein striktes Festhalten daran, dass der Vater Jesu Christi und der Schöpfer der Welt identisch seien, mag auch politisch mitbedingt gewesen sein. Die Vorstellung vom Ordnungsgefüge in der Gemeinde und vom Ordnungsgefüge im Himmel entsprachen einander. Wäre im Himmel Raum für einen unbekannten Gott gewesen, hätte das zugleich die Gefahr bedeutet, dass die Gemeinde ins Wanken geraten könnte. Und eine demokratische Kirche, wie sie bei den Ketzern im Ansatz vorhanden war, widerstritt vollends der Vorstellung eines patriarchalischen Gottes.
Und schließlich vertraten beide Ketzerbestreiter mit Nachdruck die Auferstehung des Fleisches, Irenäus sogar in ihrer chiliastischen Variante.34 Das begründeten sie in ausführlichen Exegesen von 1Kor 15 und relativierten dabei vergeblich 1Kor 15,50 (»Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht erben«)35, um den von ihnen bekämpften gnostischen Paulusschülern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Hatte dieses unangenehme Pochen auf der fleischlichen Auferstehung Jesu und der Gläubigen sowie – nicht zu vergessen – der Ungläubigen (zum Verdammungsgericht)36 nicht auch eine politische Dimension? Wurde doch mit ihr eine klerikale Autorität erst geschaffen.
Nun wäre es sicher verfehlt, theologische Grundsätze direkt auf politische Überzeugungen zurückzuführen. Die religiöse Wirklichkeit ist komplizierter, und die Annahme einer direkten Bedingtheit der Theologie durch die Gesellschaft ist zu simpel. Immerhin beleuchtet der Hinweis auf die Konsequenzen der Theologie für die Politik eine Dimension, um die es in dem Streit zwischen Tertullian und Irenäus auf der einen und den gnostischen Ketzern auf der anderen Seite auch ging.
Gleichzeitig sieht man daran, dass und wie die entstehende katholische Kirche ein viel leichteres Auskommen mit dem Staat haben konnte (und umgekehrt) als die alles in Frage stellenden Ketzer, die in ihrer religiösen Suche und Neugierde eine stete Gefahr für das geschlossene System eines Irenäus und Tertullian darstellten.