Читать книгу Die Furt von Windermere Grove - Gerda M. Neumann - Страница 11
Kapitel 5
ОглавлениеLicht und Wärme empfingen Olivia. Die Hotelhalle war holzgetäfelt bis zur Decke, im Kamin brannte ein Feuer und der Mensch am Empfang erwies sich als ausgesprochen höflich. Nachdem sie sich ins Gästebuch eingetragen hatte, zeigte er ihr das reservierte Zimmer, es lag im ersten Stock mit Blick auf den Marktplatz. Dort draußen brannten zahlreiche Straßenlaternen. Das Zimmer selbst war hell und gemütlich eingerichtet und gut geheizt, alles angenehme Punkte, die Olivia fast nicht mehr erwartet hatte.
Während sie auf den heißen Tee wartete, packte sie ihre Reisetasche aus. Bücher und Schreibunterlagen legte sie auf den kleinen Tisch am Fußende des Bettes. Die Mappe mit ihren Aufzeichnungen zum Mordfall Charlotte Hewitt nahm sie wieder in die Hand und blätterte darin. Nichts Neues – wie sollte auch. Dennoch durfte sie diese Zettel nicht offen liegen lassen. Also ab in die Reisetasche damit und dieselbe auf den Kleiderschrank. Der heiße Tee kam. Olivia goss sich ein und ging mit der Tasse zwischen den Händen erneut zum Fenster. Viel gab es da draußen nicht zu sehen. Es war inzwischen vollständig dunkel und unter dem kräftigen Nordostwind beugten sich die Bäume tief über die letzten parkenden Autos. Entschlossen zog sie die Vorhänge zu. Sie setzte sich an den kleinen Tisch und griff nach der Geschichte Norfolks, die sie gerade ausgepackt hatte: Die Nord- und Ostküste Norfolks war flach und bot dem Meer jede Angriffsmöglichkeit, so dass es durch die Jahrhunderte und Jahrtausende Verlauf und Aussehen immer wieder verändern konnte. Sie las von Wäldern unten im Meer und erfuhr von Mammutknochen, die Fischer in ihren Netzen gelegentlich aus der Tiefe heraufzogen, vor Cromer hatte man nicht nur Stoßzähne dieser gewaltigen Verwandten der heutigen Elefanten gefunden, sondern auch Knochen von Nashörnern, Riesenbibern und Säbelzahntigern. Es musste ziemlich warm hier gewesen sein in weit zurückliegenden Zeiten. Olivia hob den Kopf und lauschte auf das stärker werdende Heulen des Windes. Das war die richtige Begleitmusik für Gespenstergeschichten, auch damit hatte sie sich versorgt, als Gute-Nacht-Lektüre. In ihrer Norfolk-Geschichte fand sie, dass nicht nur in diesen Schauermärchen, sondern auch in der Realität Küstenstriche so lange ausgewaschen wurden, bis Häuser, auch Kirchen und mit ihnen die Friedhöfe in einer Sturmnacht ins Meer stürzten. Seit der Ankunft von Wilhelm dem Eroberer waren mehrere Dörfer in den Nordseewellen verschwunden. Das waren beinahe tausend Jahre, aber davon wurde das Faktum auch nicht gemütlicher. Sie überlegte, wie sehr Kinder solche gruselig-dramatischen Geschichten liebten; dass sie wahr waren, jedenfalls ungefähr so, wie die Großmutter sie im Winter hinter fest zugezogenen Vorhängen erzählen mochte, steigerte ihren Reiz sicherlich erheblich. Wie mochte sich dieses Wissen auf die Haltung zur Welt auswirken? Immerhin – das Meer war zehn bis fünfzehn Meilen entfernt, von seinem Toben erzählte nur der Wind. Sie lauschte wieder und war sicher, dass er gut erzählen konnte.
Nachdem sie eine weitere Stunde über ihrer Geschichte von Nord-Norfolk verbracht hatte, klappte sie das Buch zu und beschloss, dem Ruf ihres Magens zu folgen, der womöglich noch hohler klang als der Wind. Als sie auf dem dicken Läufer den Gang entlang schritt, übertönte sein Heulen jedes Geräusch im Haus und im Treppenhaus schien es, als würde sich durch jeden der einzelnen Kamine ein Windgeist herein zu winden versuchen. Der Empfangschef führte sie in einen Speiseraum, holzgetäfelt wie die Eingangshalle, in dem ein Feuer prasselte, ruhig und friedlich und gänzlich unbeeindruckt von möglichen Geistern im Schornstein. Olivia setzte sich an einen Ecktisch am Fenster, die jetzt mit schweren grüngemusterten Vorhängen im Stil von William Morris verdeckt waren. Sie bestellte schwarzen Tee mit Rotwein und sah sich unauffällig um. Hier gab es Menschen, auch wenn die oberen Etagen so auffällig leer geklungen hatten. Sie hatten sich jeweils mit ein, zwei leeren Tischen dazwischen über den Raum verteilt: ein älteres Ehepaar, zwei Männer, konzentriert über Papiere gebeugt, ein einzelner älterer Herr, drei Männer, die wie Vertreter aussahen und am hintersten Tisch auf einer gepolsterten Eckbank eine ältere Frau über einer dampfenden Suppe. Suppe war gut. Olivia bestellte sich eine Bohnensuppe und überbackene Champignons mit Rahmkartoffeln. Als sie danach noch einen kleinen freien Raum in ihrem Magen und irgendwo weiter oben in sich die Lust verspürte, in dem behaglichen Speisezimmer unter dem Murmeln der Menschen und dem Prasseln des Feuers friedlich sitzenzubleiben, bestellte sie ein Stück warme Apfelpastete und einen weiteren Tee. Sie konnte Pierre Hobart-Varham verstehen, der sich in diesem Hotel so gut aufgehoben gefühlt hatte. Als schließlich nur noch wenige Schluck Tee übrig waren, trat der Kellner an ihren Tisch: Die alleinsitzenden Frau ließe sie bitten, zu ihr herüberzukommen. Olivias Augen glitten an dem Kellner vorbei zur Eckbank und trafen auf einen freundlichen, wiewohl zurückhaltenden Blick in einem faltigen Gesicht. Eine Weile verharrten sie so, dann nickte Olivia dem Kellner zu, der sich umstandslos zurückzog, trank ihren Tee aus und erhob sich. Die Frau erhob sich ebenfalls von ihrer Eckbank und reichte Olivia die Hand: »Ich bin Maud Bolton und gehöre zum Inventar dieses Raumes. Würden Sie mir die Freude machen und einen Portwein mit mir trinken?«
Sie setzte sich wieder, Olivia stellte sich ebenfalls vor und tat es ihrer Gastgeberin gleich. »Entschuldigen Sie mein Verhalten, bitte, üblicherweise bin ich nicht so aufdringlich. Aber Sie sehen so reizend aus, dass ich dem Wunsch nachgab, Sie kennenlernen zu wollen. Eine alte Frau wie ich kann das vielleicht einfach sagen – darf ich uns einen Portwein bestellen oder möchten Sie lieber etwas anderes?« Olivia war einverstanden mit Portwein.
In der nächsten Viertelstunde erfuhr sie, dass Mrs Bolton Gärtnerin gewesen war, ihr ganzes Leben lang hier oben im Norden, aus Nebensätzen hörte sie von einem Ehemann, der vor einigen Jahren gestorben sein musste, und von Kindern, die ihr eigenes Leben führten. Das Beständigste waren die Bäume, auf die Mrs Bolton sich zunehmend spezialisiert hatte. Im Gegenzug erzählte sie selbst von ihrer journalistischen Arbeit, die sie trotz der reisefeindlichen Jahreszeit nach Windermere Market geblasen hatte. Die Winde, die eine ganze Weile kaum zu hören gewesen waren, trieben es plötzlich besonders arg und ein nachdenklich listiges Lächeln schlich sich zwischen die vielen Falten von Olivias Gesprächspartnerin: »Das ist ein toller Wind! Hören Sie? Hier oben sagen manche Leute, dass jemand ihn herbei gepfiffen hat.«
»Und glauben die Leute das auch?«
»Das ist schwierig zu entscheiden. Geschichten, die über Generationen erzählt werden und manchmal so etwas wie eine Bestätigung finden, liegt meist irgendetwas Wahres zugrunde.«
»Was für Bestätigungen sind das denn?«
»Im letzten Winter fand ein alter Kollege von mir, auch ein Gärtner, eine Pfeife, eine Ecke hatte zwischen den Steinmurmeln oben an der Küste von Salthouse auffällig genug hervor geblinkt. Er kratzte sie vollständig heraus, besah das Ding, das aussah wie ein kleines, gerades Metallrohr und dennoch alt und fremd und steckte es in die Tasche. Zu Hause reinigte er es sorgfältig und blies vorsichtig hinein. Er sprach von einem leichten hohen Ton, den er daraus hervorbrachte; unmittelbar danach habe sich ein ungeheuerlicher Sturm erhoben und über eine Stunde lang um sein Haus getobt und an den Fensterläden gerüttelt. Glücklicherweise sei alles in bestem Zustand und habe so dem Wüten standgehalten.« Sie hielt inne.
»Glaubt er, oder glauben Sie, dass das Rasen draußen um sein Haus herum mit dem Ton aus der Pfeife im Innern in Verbindung stand?« wunderte sich Olivia.
»Schwer zu entscheiden. Er hat diese Pfeife einigen Bekannten gezeigt und man kam, so berichtete er mir später, zu der Ansicht, dass sie aus Bronze und mehrere tausend Jahre alt sein könnte. Trotzdem vergaß er sie. Aber die Pfeife meldete sich zurück. Mein Kollege fühlte sie im nächsten Frühjahr in der Tasche, als er wieder am Strand unterwegs war. Und er blies ein zweites Mal hinein. Unmittelbar danach erhob sich ein Sturm, er kam allerdings nicht vom Meer, erzählte er, sondern fegte parallel zur Küste über den Strand, dass die kleinen Steine zu rollen begannen. Er selbst stemmte sich gegen diese entfesselte Gewalt und sah sehr fern am Meer, im Meer, er konnte es nicht genau erkennen, eine weiße Gestalt, die auf ihn zukam. Da er keine Lust auf einen Begleiter hatte, wandte er sich weg und ließ sich vom Sturm Richtung Salthouse treiben. Als er sich einmal umsah, war die weiße Gestalt etwas näher gekommen und schien nun zu laufen. Sie hatte etwas ungeheuer Furchterregendes an sich, das er aber nicht genauer in Worte zu fassen vermochte. Er eilte weiter, was mit diesen Naturgewalten im Rücken nicht schwer fiel, aber immer, wenn er sich umsah, hatte sich der Abstand zwischen der rennenden Gestalt und ihm verringert. Er fühlte, wie Angst in ihm aufstieg, und da an diesem leeren Strand von keinem Menschen weit und breit Hilfe in Aussicht stand, folgte er einer Eingebung und schleuderte die Pfeife so weit er es eben vermochte Richtung Meer. Wenig später legte sich der Sturm und als er sich umsah, war niemand mehr zu sehen, nur ein weißer Schleier über den kleinen Wellen, die friedlich an die Küste leckten – das ist seine Geschichte.«
»Und was denken Sie dazu?« wollte Olivia wissen.
»Was soll ich denken? Mein Kollege erzählte mir die Geschichte vor einigen Wochen und der ausgestandene Schrecken beutelte ihn erneut, obwohl das Erlebnis bereits Monate zurücklag. Ich weiß, dass er ein besonnener Mensch ist und ein guter Gärtner, der von den natürlichen Zusammenhängen allen Lebens weiß – hören Sie«, sie hob ihren linken Zeigefinger, »draußen ist es wieder ruhig geworden. Das sollte ich als Aufforderung annehmen, nach Hause zu gehen. Es war nett, dass Sie mir Gesellschaft geleistet haben. Ich bin sehr häufig abends hier, vielleicht habe ich noch einmal das Vergnügen, Sie zu einem Portwein einladen zu dürfen.«
Mrs Bolton erhob sich und trat einige Schritte in den Raum. Im Aufstehen nahm Olivia Geräusche unter dem Tisch wahr. Zwei riesige dunkelgraue Doggen kamen unter der Eckbank hervor und stellten sich abwartend hinter ihre Herrin. Mrs Bolton, die schon im Sitzen nicht sehr groß gewirkt hatte, schien auf einmal noch kleiner. Das faltige Gesicht neigte sich noch einmal kurz vor Olivia, dann schritt die kleine Frau hinaus, nahezu lautlos gefolgt von den beiden gewaltigen Hunden. Noch in Olivias Gesichtsfeld griff sie in ihre Manteltasche, zog ein Schlüsselbund daraus hervor und eine Hundepfeife, die die Form eines glatten Metallröhrchens hatte. Dann fiel die Schwingtür des Speiseraumes hinter ihr mit leisem Rauschen in den Rahmen.