Читать книгу Die Furt von Windermere Grove - Gerda M. Neumann - Страница 12
Kapitel 6
ОглавлениеEntspannt von einem tiefen Schlaf schlüpfte Olivia am nächsten Morgen aus dem Bett und spähte zwischen den Vorhängen hinaus auf den Marktplatz. Die leuchtend gelben Bäume standen nahezu bewegungslos in dem fahlen Vormittagslicht, unter ihnen parkten mehr Autos als am Abend, doch viele waren es noch immer nicht. Ihrem Hotel gegenüber auf der anderen Seite des Platzes sah sie mehrere kleine Läden dicht gedrängt nebeneinander: Backwaren, Gemüse und Lebensmittel, weiter links folgten ein Pub und ein kleines Gasthaus mit einem großen Torbogen, an der linken Seite wurde die Aussicht von einem langen einstöckigen Haus abgeschlossen.
Eine Stunde später stand sie in dem Bäckerladen und verlangte einige kleine Brotstangen und zwei Nussschnecken. Als sie sich mit ihren Tüten im Arm zum Ausgang wandte, stellte sie fest, dass sie genauso gut innen durch einen schmalen Gang mit Gemüsekonserven in den nächsten kleinen Laden gelangen konnte. Sie versorgte sich mit zwei Äpfeln und einer Birne und hatte derweil herausgefunden, dass sie auch hier durch einen Gang weiter in den Lebensmittelladen kam. Mit dunklen, sehr alt aussehenden Regalen an den Wänden entlang, enthielt er alles, was man für das tägliche Leben brauchen mochte bis hin zu einer umfangreichen Auswahl von Aromaölen für Potpourris. Die Engländer hatten eine Schwäche für diese Mischung aus getrockneten Blüten und Blättern, die sie in Schalen in ihren Häusern aufstellten. Wenn der ursprüngliche Duft nachließ, konnte man ihn mit den Aromaölen wiederbeleben. Olivia schaute sich begeistert um, sie liebte diese kleinen Vorratsinseln, die man in England immer wieder mal antreffen konnte. Im vierten der kleinen Läden ließ sie sich einige dicke Scheiben verschiedener Käse abschneiden, stellte zwei Tüten frischer Milch dazu und war für den Tag versorgt.
»Ich komme mir fast wie im Schlaraffenland vor«, schaute sie die Verkäuferin munter an, »man findet immer noch einen schmalen Gang mit Regalen voll verführerischer Dinge, hinter dem sich ein weiterer Raum mit Essbarem auftut. Was von außen getrennt aussieht, gehört in Wahrheit zusammen?«
Die etwas derbe Frau hinter der Theke hielt beim Käseschneiden inne: »Das war nicht immer so hier, wissen Sie. Früher waren das einzelne Läden und einzelne Häuser und kleine Kaufleute. Aber die Zeiten haben sich hier auch geändert. Die alte Mrs String war sehr tüchtig, Sie verstehen? Noch als ihre Tochter schon die Bäckerei und den Lebensmittelladen führte, hat sie von hinten mitgemischt. Heute gehört alles ihrer Tochter, auch die Häuser. Die Familie lebt sehr bequem da oben, stelle ich mir vor. Aber sie haben ja auch fünf Kinder, da kann man schon Platz gebrauchen, ist alles ganz in Ordnung. Nur war es halt schön, als dieser Milchladen noch meinen Großeltern gehörte.«
Wieder auf der Straße schaute Olivia sich noch einmal um und fand sich wieder vor vier schmalen Häusern: Das erste eierschalenfarben gestrichen, das zweite hellblau, das dritte und schmalste, in dem man Gemüse und Obst bekam, war schwarz-weiß und das letzte und gewichtigste ziegelsteinrot. In ihm wurde noch immer Brot gebacken, wie ihr der Duft verriet. Er begleitete sie noch ein kleines Stück des Weges. Durch den Torbogen des Gasthauses, den sie aus ihrem Fenster gesehen hatte, gelangte man in eine schmale Straße mit Reihenhäusern aus dunklem Ziegelstein und zur Kirche. Langsam schritt sie an den Gedenktafeln im Innern entlang. Sie lasen sich wie eine Heldenchronik des Ortes, weit waren die Leute von hier aus in der Welt herumgekommen, auch wenn ihre Lebensgeschichte oftmals recht früh ihr Ende erreicht hatte. Nachdenklich ging Olivia weiter. Das einstöckige Haus, welches den Platz an dieser Seite abschloss, enthielt unter anderem die Gemeindebücherei, die konnte vielleicht noch nützlich sein. Neugierig las sie die Buchtitel hinter den beiden Fenstern und wurde tatsächlich überrascht: Dort stand eine Sammlung von Grimms Märchen, mit einem Nachwort herausgegeben von Charlotte Hewitt. Ob das dieselbe war, deren Leichnam Pierre Hobart in der Furt gefunden hatte? Sehr wahrscheinlich – so oft würde es denselben Namen doch nicht geben. Müßige Gedanken, sie müsste das fragen. Wann war die Bücherei das nächste Mal geöffnet? Mittwoch ab 16.00 Uhr, also heute Nachmittag. Damit konnte man etwas anfangen. Sie fühlte sich belebt, als hätte sie eine Entdeckung gemacht. Und der Anfang eines Anfangs konnte es immerhin sein. Entschlossen ging sie zu ihrem Auto, legte den Proviant auf den Rücksitz und zog die Karte von East Anglia aus der Tasche. Auf einmal war sie sicher, dass eine Fahrt nach Paston genau das Richtige für den heutigen Vormittag war, wenn man die Absicht hatte, mit dem Nachmittag noch etwas anderes anzufangen. Die längste Zeit konnte sie einer Straße mit einer vierstelligen Zahl folgen, so würde sie hoffentlich nicht all zu viele Probleme haben, ihren Weg zügig zu finden. ›Ich werde das Meer sehen,‹ prickelte es durch ihre Glieder, während sie den alten Saab über die gewundenen Straßen nach Nordosten steuerte.
Die Landschaft wurde weiter und flacher. ›Wahrscheinlich könnte ich drei Tage vorausschauen,‹ sinnierte Olivia, ›wenn es nur nicht so verhangen wäre. Drei Tage voraus ist vielleicht schon das Nichts. Schließlich werden die Leute wissen, wovon sie sprechen, wenn sie sagen, Norfolk liege auf dem Weg nach nirgendwo. Was könnte das ›Nirgendwo‹ sein? Ein Loch auf dem Weg, groß genug, eine Kutsche zu verschlucken, wie es bei Virginia Woolf hieß… Doch der fragliche Weg führte vor mehr als fünfhundert Jahren durch das Moor, das war heute trockengelegt und die Straße asphaltiert. Ein Galgenbaum – so verwoben mit grauslichen Geschichten, dass sich niemand in seine Nähe wagt. Oder jener Raum zwischen Land und Himmel, den man nie erreicht, solange man auch unterwegs ist… Im Augenblick ist er gar nicht so weit weg, genau genommen dort hinten in der Kurve.‹ Olivia bremste. Hier war Knapton, sie musste durch den Ort hindurch und auf der anderen Seite weiter nach Paston, also bog sie nach rechts ab. ›…für einen Londoner könnte auch so ein abgelegener Ort das ›Nirgendwo‹ sein. Die John Paston, Vater und Sohn, hatten das vor fünfhundert Jahren schon so gesehen und den größten Teil ihres erwachsenen Lebens in der Hauptstadt verbracht. Sie konnten das tun, weil ihre Ehefrau und Mutter Margaret hier in Norfolk ausharrte und mit eiserner Hand und schwerem Herzen die Güter der Paston, nach denen heute noch der winzige Ort hieß, verwaltete. Das war zurzeit der Rosenkriege… die Woolf und die Pastons… Hoppla, da bin ich ja schon!‹
Olivia hielt an. Klarer war die Fernsicht auf das Meer zu nicht geworden, für Paston allerdings reichte sie noch. Sie parkte ihr Auto in Sichtweite der Kirche und stieg aus. Der dicke Turm war aus Flintstein gebaut und hatte die alte Familie sicherlich gesehen, und umgekehrt. Sie strich um die Kirche herum, hinein kam sie nicht, leider, denn ihre Neugierde richtete sich auf die Grabplatten der Pastons im Innern. Nicht weit weg stand eine Scheune, die ebenfalls die Jahrhunderte und Nordseestürme überdauert hatte. Die Wände waren hoch hinauf gemauert und das Dachgestühl massiv gezimmert. Olivia schaute sich um, doch nicht sehr lange. Wachsende Unruhe mahnte sie an den eigentlichen Grund ihres Aufenthaltes in Norfolk. Sie war hier, um, vielleicht, Laureen zu helfen, und bisher unerkanntes Material über den Mord an Charlotte Hewitt zu finden, von dem diese Mauern überhaupt nichts wussten. Widerstrebend drehte sie ihnen den Rücken zu und schritt dann zügig auf der Hauptstraße nach Norden. Kein Mensch und kein Auto, nicht einmal ein Haus war zu sehen, nur Weiden rechts und links der Straße, auf einer grasten Schafe, immerhin. Nach einigen hundert Metern kam sie an eine Kreuzung. Hier hatte die Gemeinde einen Lageplan aufgestellt, das war so überraschend wie hilfreich und nach einigem Hin und Her glaubte Olivia, ein schwarzes Quadrat als das Haus von Stanley Parnell herausgefunden zu haben und machte sich auf den Weg.
Das musste es sein. Sie stand an der Gartenpforte und schaute auf ein altes Haus mit kleinen Fenstern und Mauern, die sicherlich einen halben Meter dick waren. Die Haustür war blau gestrichen, die Wände weiß und das Dach vor nicht allzu langer Zeit mit Schindeln neu gedeckt. Darum herum erstreckte sich eine kurzgeschnittene Wiese mit zwei mächtigen Ulmen und ein einfacher Gartenzaun aus Holzlatten. Das Meer konnte sie nicht sehen, aber Pierre Hobart war vielleicht an einem klaren Tag hier gewesen. Das Ganze wirkte so still und zurückgezogen, dass sie es in einem Winkel ihrer Magengrube empörend aufdringlich fand, ohne Anmeldung über dieses Haus und seinen Besitzer hereinzubrechen. Für den Augenblick hasste sie das Detektivspielen, das ihr diese Unhöflichkeit abverlangte, andererseits hatte sie sich entschlossen, Pierre Hobarts vermutliche Unschuld aufzudecken, also war es Zeitverschwendung, weiter an der Pforte herumzustehen. Sie öffnete sie und schritt auf das Haus zu, nicht unbemerkt von seinem Bewohner, denn die Haustür öffnete sich, bevor Olivia sie erreichte. Ein untersetzter kräftiger Mann kam ihr entgegen: »Ist Ihr Auto zusammengebrochen? Kann ich Ihnen helfen?«
Darauf war Olivia nicht gefasst gewesen. Sie sah den ganz in dunkelblaue Wolle verpackten Mann an und schwieg.
»Kann ich Ihnen helfen?« wiederholte er sein Angebot.
»Ich hoffe es – dringend sogar. Aber mein Auto ist ganz in Ordnung.« Jetzt schwieg ihr Gegenüber in Blau und wartete. Sie sah ihn eine Weile ruhig an. Dieser Mann also war im entlegensten Südafrika aufgewachsen, von Beruf Ethnologe, seit Kindheitstagen konzentriert auf das Leben und Überleben der Buschmänner und fähig zu dauernder Freundschaft. Er hielt ihrem Blick abwartend stand und Olivia entschloss sich zur Offenheit.
»Sie sind Mr Parnell?« Ihr Gegenüber nickte und wartete wieder.
»Wären Sie bereit, mit mir über Mr Pierre Hobart-Varham zu sprechen?« Jetzt war die Verblüffung auf seiner Seite.
»Sie kennen Pierre? Davon weiß ich ja gar nichts!«
»Das ist auch fast nicht möglich.« Olivia stellte sich als Journalistin und gute Bekannte der Verteidigerin Laureen Gaynesford vor. Bei einem gemütlichen Gespräch vor ihrem Kamin sei sie auf Norfolk und ihre Absicht zu sprechen gekommen, einige Tage hinaufzufahren. Daraufhin habe Mrs Gaynesford von dem Mord berichtet und sie gebeten, in dieser Sache die Ohren offenzuhalten.
Sie standen noch immer auf dem Gartenweg. Stanley Parnell ließ sie keinen Moment aus den Augen, auch nicht, als sie geendet hatte. Was in seinem Kopf vorging, wagte Olivia nicht zu sagen.
»Aus Ihrer Kleidung schließe ich, dass Sie dem Aufenthalt in frischer Luft nicht abgeneigt sind. Lassen Sie uns einen Spaziergang ans Meer machen, im Gehen redet es sich leichter. Ich bin sofort bereit.«
Tatsächlich sperrte er zwei Minuten später in wetterfester Kleidung seine Haustür zu und führte sie zu einem Fußweg, der sich zwischen den umhegten Weiden schließlich im Dunst verlor.
»Sie halten Pierre für unschuldig?« eröffnete er das Gespräch.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Warum sollten Sie sich sonst seiner annehmen?«
»Zum Beispiel, um die Wahrheit herauszufinden.«
»Aber Ihrer Meinung nach liegt die Wahrheit nicht dort, wo das Gericht sie zu finden glaubt. Sonst wären Sie nicht hier. Da das Gericht Pierre für schuldig hält, tun Sie es demnach nicht.«
»Sagen wir, ich möchte wissen, was wirklich passiert ist.«
»Nun, dann können Sie endlich nur herausfinden, dass Pierre die Tat nicht begangen hat!« Parnell klang sehr entschieden. »Was kann ich dazu beitragen?«
»Wie gut kennen Sie ihn?«
»Ziemlich gut. Sein Vater ist mein bester Freund und Pierre ihm im Wesen ähnlich.«
»Wie lange kennen Sie seinen Vater?«
»Gemeinsam mit Dick bin ich am Nordrand der Karoo-Halbwüste aufgewachsen, er auf einer großen Schaffarm und ich als Sohn des dortigen Lehrers. Für ihn war die Landwirtschaft als ein Miteinander von Mensch und Erde das aufregendste Thema, das er kannte und kennt. Er liebt das Land. Pierre ebenso. Ich steckte meinen Kopf schon damals mehr in Bücher, es gab bei mir zu Hause davon mehr als Schafe, wenn Sie so wollen. Ich las alles über die Geschichte und Geographie Südafrikas, was auf den Bücherbrettern meines Vaters und beim Pfarrer herumstand, darüber hinaus Romane, Abenteuer- und Entdeckungsgeschichten und Märchensammlungen; unter ihnen gab es einige wenige Aufzeichnungen der Geschichten, die die afrikanischen Menschen sich am abendlichen Feuer erzählen. Schließlich ließen mich jene Afrikaner, die seit alters her, seit nahezu ewig ein Anrecht hatten, dort zu sein, nicht mehr los.«
»Das sind die Buschmänner, Pierre erwähnte es.«
»Ja, die Buschmänner – Dick und ich diskutierten sehr viel, als wir älter wurden, über unsere Lieblingsthemen und über fast alles sonst. Wir fühlten uns, als könnten wir ganze Kontinente neu entdecken – ich bekam eine Stelle in Kapstadt, kurz bevor Pierre zur Welt kam und sah ihn aufwachsen, er hat den gleichen freien Geist wie sein Vater und die gleiche Großherzigkeit.«
»Sie leben schon lange in Norfolk…«
»Stimmt, gut zwanzig Jahre. Die ganze Zeit hindurch haben Dick und ich lange Telefongespräche geführt und in den letzten acht bis zehn Jahren war ich mehrmals bei ihm auf Besuch. Jedesmal war Pierre auch da.«
»Und doch besuchte er Sie hier nur ein Mal.«
»Richtig. Mehr Freiraum ließ ihm sein Onkel nicht. Pierre und ich hatten ursprünglich andere Pläne, hatten aber nicht vermutet, wie viel Zeit Mr Hobart sich für seinen Neffen nehmen würde.«
»Wie erklären Sie sich das?«
»Ganz einfach, wir kannten ihn beide nicht.«
»Sie haben ihn nie gesehen?« Olivia machte kein Hehl aus ihrer Überraschung.
»Einmal in ferner Vergangenheit, Dick glaubt, dass es 1961 war, traf ich Jonathan in Südafrika. Er besuchte seinen Onkel, den Vater von Dick, ich hatte Semesterferien, fuhr aber hinauf in die Kalahari – in Sachen Buschmänner – und sah ihn nur einen Tag lang, jedenfalls erinnere ich mich an kein weiteres Zusammentreffen, und Dick auch nicht.«
»Hat Ihr Freund von seinem Vetter erzählt, damals oder seither?«
»Warum wollen Sie diese mordfremden Dinge wissen?«
»Sie gehören zu Pierre Hobart. Im nahen Umfeld des Mordes liegt die Lösung nicht, also suche ich im weiten.«
»Nun gut. In letzter Zeit, genauer gesagt seit Pierres Verhaftung, war Jonathan Hobart häufiger Thema, wie Sie ganz richtig hoffen. Er kam damals gemeinsam mit einem Jugendfreund aus der Umgebung von Windermere nach Afrika. Beide waren eine Weile bei Dicks Vater, bereisten dann das Land und kamen zurück. Dieser Freund ist der Karoo verfallen, er hat in England Landwirtschaft studiert, erwarb am Rand der Steppe Land und züchtete Schafe. Dick studierte zu dieser Zeit bereits den Weinanbau in der Kapregion und war bei dem zweiten Aufenthalt der beiden Engländer auf seines Vaters Farm nicht dabei.«
»Dieser der Wüste verfallene Engländer züchtet dort noch immer Schafe?«
»Nein, vor einer Reihe von Jahren hat er seine Farm verkauft und ist nach Norfolk zurückgekehrt.«
»Warum das denn?«
»Der Wollmarkt war seit längerem in der Krise. Sie hatte damit begonnen, dass Persianermäntel außer Mode kamen und damit die Felle der Karakullämmer nicht mehr gefragt waren. Trotzdem behauptete sich Südafrika als einer der wichtigsten Wollproduzenten der Welt ganz gut. Einstweilen, der Druck der amerikanischen Wollproduktion wurde immer spürbarer, ihm folgten die Handelsbeschränkungen in Zusammenhang mit der Apartheidpolitik. Inzwischen ist Australien eine starke Konkurrenz. Mancher Farmer versuchte umzusatteln. Dick meint gehört zu haben, dass unser Mann eine glückliche Gelegenheit nutzte, sein Land zu verkaufen – außerdem habe ich häufiger beobachtet, dass die Menschen, wenn sie älter werden, in ihre Heimat zurückkehren. Vielleicht hat beides zusammengespielt.«
»Wissen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Und seine Adresse hier in Norfolk natürlich auch nicht?«
»Nein!«
»Was für ein uninteressanter Mann das sein muss. Trotzdem war er so stark, sich in ein karges, wildes, einsames Land so dramatisch zu verlieben, dass er seiner Heimat den Rücken kehrte und seine Existenz am anderen Ende der Welt aufbaute.«
Olivia bohrte ihren Blick in die Undurchdringlichkeit der grauen Welt den Weg voraus. Sie waren im Reden nicht sehr schnell gegangen und doch glaubte sie, das Meer zu riechen. Sie hörte Möwenschreie, hatte sie wohl die ganze Zeit schon gehört ohne ihnen Beachtung zu schenken, doch sie klangen, als hätten die Vögel ihre Schnäbel in Tondämpfer gesteckt. Ihre Instinkte wehrten sich gegen diese herabgedämpfte Einsamkeit. »Wie weit ist es noch bis ans Meer?« wandte sie sich an ihren Begleiter.
»Ein paar hundert Meter. Bei klarerem Wetter hätten Sie es die ganze Zeit über gesehen.« Sie gingen weiter.
»Haben Sie und Mr Hobart-Varham noch weitere Engländer aus Ihren Erinnerungen gegraben, die auf der Schaffarm seines Vaters vorbeikamen? Übrigens, gibt es diese Farm noch?«
»Es gibt sie noch. Dicks älterer Bruder hat sie übernommen – ein Engländer ist uns im Zusammenhang mit Jonathan tatsächlich eingefallen. Jonathan hat ihn irgendwo in unserer Gegend getroffen und mitgebracht; ich war schon weg, Dick aber erinnert sich vage: John hieß er wohl, er war einige Jahre älter als Jonathan, kam aus der gleichen Gegend hier in Norfolk und war im Auftrag einer englischen Handelsgesellschaft seit zwei Jahren oder etwas mehr oder weniger in Südafrika tätig. Die zwei oder genauer die drei haben sich dann wohl in Johannesburg wiedergetroffen.«
»Hat John auch einen Nachnamen?«
»Keinen, den wir noch wüssten.«
»Vielleicht erinnert sich Mr Hobart-Varhams Bruder genauer?«
»Dazu kann ich nichts sagen.«
»Warum ist er denn überhaupt im Gedächtnis hängengeblieben?«
»Er hatte entscheidenden Einfluss auf den Lebensweg von Jonathan. Die beiden gingen von Südafrika gemeinsam nach Kanada, ohne Umweg über England. Dieser John wurde von seiner Firma dorthin versetzt, glaubt Dick sich zu erinnern. In Kanada blieben sie zusammen, Jonathan beendete sein Jurastudium und arbeitete als Jurist viele Jahre in Kanada, bevor er nach Schottland ging und schließlich nach Norfolk zurückkam. Dieser John ist wohl nach einigen Jahren in Kanada gestorben.«
Sie standen am Meer. Der weiße Dunst, der kein Nebel war, begrenzte das Gesichtsfeld und schlich sich wie eine kalte Spinne Olivias Rücken hinauf. Die Möwen schwiegen gerade. Nur die kleinen Wellen kamen mit rhythmischer Gleichmäßigkeit unter den Schleiern hervor wie die Pfoten verspielter Katzen unter einem Vorhang. Beide schauten ihnen zu.
Schließlich sprach Stanley Parnell in die Stille: »In Afrika, am Rand der Kalahari, ist es zwischen Mittag und Nachmittag so still, als würde sich alles Leben von den Anstrengungen des Daseins befreien. Für die Buschmänner sind das die Stunden des Todes, die Spanne, in der die Geister der Ahnen aus den Gräbern erstehen und als bleiche Schatten herumstreichen.«
»Und wofür steht die Nacht…«
»Sie ist die Zeit der Jagd, der Gefahr und der erhöhten Aufmerksamkeit. Die Nächte sind so schwarz, dass man fast nichts sieht. Man fühlt das Land, das man nicht sieht, um sich herum hingestreckt und begreift, dass man ein Weißer ist, ein Außenstehender, denn man hat vergessen, was man am Tage sah, weil man sich zu sehr auf die Augen verließ. Die inneren Augen und vor allem die Füße haben die kleinen Mulden, hervorstehende größere Steine, die einzelnen Sträucher nicht aufgezeichnet, die jetzt zur Orientierung nötig wären. Man hat kein Gefühl für Entfernungen, nicht einmal für die Richtung, aus der die einzelnen Geräusche der Nacht kommen. Das wirft einen vollständig auf sich selbst zurück und gleichzeitig empfindet man dieses Selbst als vollständig fremd – auch hier kann einem Ähnliches widerfahren. Nur ist dieses Land nicht gefährlich und auch nicht wirklich weit.«
Sie schauten den Wellen noch eine Weile zu, schließlich wandte Olivia ihren Blick zu ihrem Begleiter. Der verstand: »Wir sollten uns wieder bewegen, bevor die Kälte unsere Beine bewegungsunfähig macht, nicht wahr? Leider müssen wird denselben Weg zurückgehen, den wir gekommen sind.«
»Bei dieser eindrücklichen Nicht-Aussicht ist das kein großer Verlust.« Olivia kehrte zögernd dem Meer den Rücken. Die kleinen Wellen schienen ihr mit einem Male wie Verbündete in Feindesland. Am liebsten hätte sie laut geschrien oder wäre den Strand entlang gerannt. Vielleicht würde das wenigstens die Möwen aus ihrer Ruhe schrecken. Stattdessen passte sie ihren Schritt dem von Stanley Parnell an und nahm den biographischen Faden der Hobartschen Familie wieder auf: »Anwalt Hobart ging also von hier nach Südafrika, direkt weiter nach Kanada und Schottland, bevor er schließlich heimkehrte, sozusagen. Haben Sie eine Vorstellung, wann das gewesen sein könnte?«
»Ich bin 1981 hierhergekommen, er dürfte sechs bis acht Jahre später gekommen sein.«
»Was war der Grund?«
»Warum fragen Sie mich das? Ich glaube, sein Vater war gestorben und er trat sein Erbe an.«
»Sie haben ihn nie aufgesucht, obwohl er der Vetter ihres besten Freundes ist und noch fast in der Nachbarschaft wohnt?«
»Nein, ich sah nie eine Veranlassung dazu. Ich persönlich kannte ihn ja nicht.«
»Und Sie wollten nicht mit jemandem über Afrika reden?«
»Warum sollte ich mich ihm aufdrängen.«
»Warum kamen Sie denn ausgerechnet nach Norfolk?«
Mr Parnell warf ihr einen leicht belustigten Blick zu: »Sie wollen mir aber nicht erklären, dass auch das noch mit Pierre zu tun hat, oder?« Als Olivia ihn abwartend anschaute, gab er sich geschlagen: »Norfolk ist landschaftlich relativ weit und menschenleer…«
»Das kann man wohl sagen«, murmelte sie vor sich hin.
»…das Leben hier ist nicht allzu kostspielig und London liegt gerade noch in Reichweite.«
»Es spielte keine Rolle, dass es das Land der Vorfahren ihres Freundes war?«
»Nicht dass ich wüsste. In dem Fall hätte ich Jonathan wahrscheinlich auch heimgesucht. Glauben Sie nicht?« Seine Belustigung hielt an.
»Was machen Sie denn den ganzen Tag in dieser Einöde?«
»Ich arbeite für die Buschmänner. Das ist mein Beruf geblieben.«
»Ist ja toll! Und wie sieht das aus?«
»Nun, es gibt einige Organisationen, die sich für die Rechte der Buschmänner stark machen oder nach Kompromissen zwischen deren Lebensform und der ihnen fremden Welt suchen, die mit Bergwerken und Gruppen sesshafter Viehzüchter auch in die Kalahari vorrückt. Noch sind die meisten Buschmann-Gruppen Nomaden, die sich bei jedem Auftauchen fremder Gruppen erneut in unbewohnte Gebiete zurückziehen. Doch irgendwann wird das nicht mehr möglich sein, außerdem ist diese Verdrängung alles andere als eine gute Lösung. Einige der Organisationen sitzen in London und nehmen meinen wissenschaftlichen Beistand in Anspruch. Ich bin an der aktuellen Diskussion beteiligt geblieben, es gibt also Forschungsaufträge und Kongresse. Sie kennen diesen Betrieb?« Als Antwort erfolgte ein Nicken und er ergänzte: »Ich fahre in der letzten Zeit hin und wieder zu Gesprächen mit der Regierung nach Botswana, wo man in der Folge des Diamantenreichtums auch soziale Projekte wie eine Schule und eine Gesundheitsstation für Buschmänner einrichten will. Wie man die freien Menschen an solche festen Stationen binden kann, ist mir äußerst unklar, aber diese Fragen führen uns hier endgültig ins Abseits.«
»Ja, leider.« Olivia sah Parnells Zaun im Dunst auftauchen: »Eine andere abseitige Frage: Wie komme ich in die Kirche von Paston?«
»Hoffen Sie, dass der Mörder dort ins Gebet versunken ist?«
»Nein, ich interessiere mich auch noch für andere Dinge.«
»Das sollten Sie aber nicht!« der Ton war leichthin und ironisch und der begleitende Blick warnte sie, dass ihr Gegenüber die Rollen zu vertauschen suchte.
Sie sah ihn nachdenklich an und beobachtete, wie sich die Ironie langsam zurückzog. »Mr Parnell, auch wenn Sie möglicherweise keinen Sinn darin finden können, wäre es nett, wenn Sie herausbrächten, wo dieser Mann vom Rand der Karoo heute steckt und ob er nicht doch einen Namen hat, es muss ja nicht John sein. In den nächsten Tagen wohne ich noch in Windermere Market im Old Brewery House, vielleicht melden Sie sich – am Ende kommt Ihnen ein Gedanke, der mir weiterhelfen kann – man soll das nie ausschließen!« ergänzte sie, als die Ironie in sein Gesicht zurückkehrte. »Werde ich Sie hier finden können?«
»Sie können. Ich sitze über einem größeren Aufsatz und bin darüber sehr ortstreu. Sie könnten vorher anrufen.« Brav zog Olivia ein Notizbuch aus der Tasche und schrieb sich Parnells Telefonnummer auf. Vielleicht würde sie das nächste Mal wirklich so höflich sein.
»Wo steht Ihr Auto?«
»Bei der Kirche. Offenbar verfolgte mein Unbewusstes den gleichen Gedanken hinsichtlich des Mörders wie Sie vorhin.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie diesen schmalen Pfad nehmen, kommen Sie direkt bei Ihrem Auto heraus.« Das klang friedlich und zum Abschied gab er ihr die Hand.
Der Pfad bedeutete eine deutliche Abkürzung gegenüber der Straße, allerdings begegnete ihr auch hier keine Menschenseele. Am Auto angekommen suchte sie sich ein Schokoladencroissant aus der Bäckertüte und umkreiste essend noch einmal die verschlossene Kirche. Bevor sie jedoch dem Gedanken nachgab, jemanden zu suchen, der ihr aufsperren könnte, warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Nein, es war heute wichtiger, in die Gemeindebücherei zu gehen, die öffnete zudem ganz ohne ihr Zutun. Olivia wendete ihren Wagen. »Jetzt weiß ich noch immer nicht, ob John Paston einen Grabstein hat oder wenigstens eine Messingtafel!«
Der Himmel hob sich ein wenig, als Olivia die kurvenreichen Straßen landeinwärts steuerte, aber der Blick wurde nicht wirklich weiter. Während sie einparkte, konzentrierten sich ihre freilaufenden Gedanken auf einen Punkt: heißer Tee.