Читать книгу Die Furt von Windermere Grove - Gerda M. Neumann - Страница 8
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ОглавлениеUnter den großen Bäumen in Kew war Olivia die ganze Geschichte eher wie ein naturwissenschaftliches Rätsel vorgekommen, für das sie nicht zuständig war. Also hatte sie beschlossen, sich den Hauptakteur aus Hilfsbereitschaft und ein wenig Neugier anzuschauen und abzuwarten, ob der Fall dabei ein Rätsel blieb oder dem zaghaften Anfang einer Geschichte weiteres Material hinzufügte.
So fand sie sich jetzt folgerichtig hinter Gittern. Ihr gegenüber stand ein eher kleiner, kräftiger Mann von Ende zwanzig mit der braunen, beinahe gegerbt wirkenden Haut jener Menschen, die sich vorrangig im Freien aufhalten Sein Gesicht war gut geschnitten und offen, nur die Augenbrauen setzten so nah am Nasenbein an, dass es Olivia wie eine unpassende Verengung dieses klaren Gesichts vorkam. Lady Laureen begrüßte Mr Hobart aufmunternd. Er antwortete höflich, sah jedoch gleich darauf erwartungsvoll zu der fremden Besucherin hinüber.
»Ich habe heute Miss Lawrence mitgebracht. Miss Lawrence, darf ich Ihnen Mr Pierre Hobart-Varham vorstellen.« Sie gaben einander die Hand, anschließend setzten sie sich an den einfachen Holztisch, Olivia und Pierre Hobart einander gegenüber, Laureen an die Schmalseite; keinen Moment ließ der Gefangene Olivia aus den Augen, als sei neu erwachte Hoffnung mit ihr eingetreten, die er unbedingt festhalten wollte.
»Mr Hobart«, fuhr Laureen fort, »Miss Lawrence fährt in den nächsten Tagen beruflich nach Norfolk, sie wird dort Recherchen für einige literarische Artikel machen und in die Gegend von Windermere Market kommen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr von unserem Problem zu erzählen und sie so weit dafür zu interessieren, dass sie jetzt vor Ihnen sitzt.«
»Will sie über mich schreiben?« seine Augenbrauen schoben sich vollends zusammen.
»Nein, nein… Miss Lawrences Hauptgeschäft ist die Literatur, mit detektivischen Nachforschungen hat sie also nicht das mindeste zu tun. Andererseits wird sie sich dort oben umsehen und mit den Menschen reden; was bei solchen Gesprächen abfällt, kann man einfach nicht wissen. Sie verstehen?«
Sein Gesicht glättete sich wieder und Olivia fragte sich, ob der junge Mann in seiner neubelebten Hoffnung nicht mehr verstand, als gesagt wurde. »Mr Hobart«, versuchte sie einen leichten Schutzzaun zu ziehen, »es ist vollständig dem Zufall überlassen, ob ich in Ihrer Sache etwas Nützliches höre. Aber um dem Zufall eine Chance zu geben, brauche ich ein Netz, in dem Informationen hängen bleiben könnten. Bitte, erzählen Sie mir, warum Sie bei Ihrem Onkel zu Besuch waren.«
»Tja, warum kam ich nach Norfolk? Letztlich nur, weil Onkel Jonathan unser einziger Verwandter in England ist.«
Olivia sah zu Laureen und erhielt die umgehende Ergänzung: »Anwalt Hobart heißt Jonathan mit Vornamen.«
»Ich verstehe.« Ihre Aufmerksamkeit wanderte zurück zu dem jungen Mann.
»Ich kam aus Südafrika hierher, um dieses Land ein wenig kennenzulernen und vor allem, um nach Wegen zu suchen, das Obst, das ich anbaue, hier auf den Markt zu bringen.«
»Vielleicht holen Sie als erstes etwas in ihrer Familiengeschichte aus«, schlug Olivia vor.
»Wenn Sie das nicht langweilt?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Mein Großvater und Onkel Jonathans Vater waren Brüder, die Familie der Hobart sitzt seit immerhin zweihundert Jahren in Windermere Grove. Mein Großvater war ein abenteuerlustiger junger Mann, der mit dem Geld, das er für eine altmodische Kavalierstour durch Europa bekam, die halbe Welt bereiste. So kam er schließlich nach Südafrika. Er blieb dort einige Jahre, bevor er nach Norfolk zurückkam, seine Zukunftsaussichten zuhause prüfte und mit dem Einverständnis seines Vaters und einem großzügigen Startkapital nach Südafrika zurückkehrte. Nördlich der Karoo, einer ziemlich regenarmen Steppe, die er sehr liebte, ließ er sich nieder und wurde im Laufe der Zeit einer der erfolgreichsten Schafzüchter der Gegend. Er kehrte nie nach England zurück. Auf dieser Schaffarm wuchs mein Vater zusammen mit einem älteren Bruder und zwei Schwestern auf. Onkel Jonathan besuchte seine Verwandten 1961, bevor er nach Kanada ging, um Jura zu studieren.«
Pierre Hobart hielt inne. Als Olivia schwieg, fuhr er fort: »Mein Vater verliebte sich in die Schönheit der blauen Tafelberge am Kap und in die Tochter eines Weinzüchters. Die beiden heirateten, er erlernte die Weinzucht und alles, was sonst zur Führung eines großen Gutes gehört und führt heute die Arbeit seines Schwiegervaters weiter.«
»So kommt der Name Varham ins Spiel«, warf Laureen ein.
»Ja, richtig, mein Vater ist Dick Crossley Hobart-Varham. Vor einigen Jahren konnte er Ländereien, die direkt an unsere Güter grenzen, kaufen. Er gab sie mir und ich schaffte es, dort Obstplantagen anzulegen, die bereits guten Ertrag bringen. Mein Plan ist, eine Konservenfabrik zu bauen und mein Obst zusammen mit dem Wein meines Vaters nach England zu verschiffen. Deswegen vor allem kam ich hierher. Als erstes allerdings besuchte ich meinen Onkel, geriet in jener weltverlorenen Gegend in einen Hinterhalt und habe seitdem sehr viel Muße, über meine Pläne nachzudenken.«
»Wann kamen Sie nach Norfolk?«
»Das war am 5. Juli. Am 3. hatte Onkel Jonathan mich in Heathrow in Empfang genommen und mir anderthalb Tage lang London gezeigt. In Windermere Grove blieb ich zwei Wochen. Am Montag, dem 19. wurde Mrs Hewitt getötet, ich fand sie, als ich von den Culleys zurückkam. Ich hatte dort eine Art Abschiedsbesuch gemacht. Farmer Culley hat mehrere Felder Johannisbeersträucher, ich löcherte ihn mit Fragen über den Anbau, die Pflege und Lebensdauer dieser Sträucher, über die Art der Ernte und die Marmeladenfabriken, die sie ihm abkaufen. So kam unser Kontakt zustande. Den Dienstag wollte ich mit meinem Onkel verbringen, es gibt einige Familienangelegenheiten, und ich wollte noch einige Fragen für meine geschäftlichen Pläne in London mit ihm durchsprechen. Er hat Kenntnisse und Beziehungen, die mir weiterhelfen können. Mittwoch früh, so mein damaliger Plan, sollte ich nach London fahren.«
»Wie gut kannten sie Mrs Hewitt?«
»Als erstes müssen Sie wissen, dass ich niemanden, absolut niemanden in Norfolk kannte, bevor ich am 5. Juli dort hinkam. Von Onkel Jonathan wusste ich natürlich, mein Vater spricht hier und dort über seinen Vetter, aber er war nie in England und Onkel Jonathan war nur einmal 1961 unten gewesen. Da war ich noch gar nicht geboren – Mrs Hewitt lernte ich am zweiten Abend gemeinsam mit ihrem Mann kennen. Sie sind die nächsten Nachbarn meines Onkels. Kennen Sie die Gegend?« Olivia schüttelte den Kopf und er fuhr fort: »Das Herrenhaus von Windermere Grove, Ort und Herrenhaus tragen denselben Namen, liegt in einem kleinen Park versteckt vollkommen für sich, eine hohe, alte Allee führt zur Straße; gegenüber, ebenfalls tief hinter seiner Bepflanzung zurückgezogen, liegt Grove Lodge. Dort wohnte Mrs Hewitt mit ihrem Mann, er ist praktischer Arzt.«
»Ihnen gefällt Ihr alter Familiensitz, scheint mir?«
»Ja, er gefällt mir; auch die Landschaft von Norfolk ist für südafrikanische Augen weit und leicht besiedelt genug. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt – dieses angenehme Gefühl hat sich in der Erinnerung wahrscheinlich noch gesteigert«, schob er mit einem vorüberhuschenden Lächeln hinterher.
Olivia warf einen flüchtigen Blick über die kahlen, grauen Wände um sich. »Versuchen wir, hier herauszukommen! Das Ehepaar Hewitt lernten Sie am zweiten Abend kennen. Erzählen Sie mir von diesem Abend.«
»Es handelte sich um eine altmodische Einladung, wie ich sie aus englischen Büchern kannte. Überhaupt läuft das tägliche Leben meines Onkels so ab wie in den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, jedenfalls, wenn er auf Windermere ist. Außer dem Arztehepaar war noch der Pfarrer mit seiner Frau eingeladen. Es war ein netter Abend, an dem vor allem über Südafrika geredet wurde. Am folgenden Samstag gab mein Onkel eine große Einladung, bei der Mr und Mrs Hewitt sowie das Pfarrerehepaar wieder dabei waren, dazu zwei Farmer aus der Gegend, der eine oder andere juristische Kollege mit seiner Frau und einige junge Frauen und Männer in meinem Alter. Ich erinnere mich, dass ich mich länger mit Mr Hewitt unterhielt, aber über nichts Berichtenswertes.« Er sah Olivia bedauernd an. »Es wird nicht interessanter. In der folgenden Woche unterhielt ich mich mit Mrs Hewitt über deren Gartenpforte hinweg, sie war wirklich sehr nett, gerade sechzig Jahre alt geworden und von einer herzlichen und offenen Art, dass man sich in ihrer Nähe gut aufgehoben fühlte. Am Freitag, dem 16. Juli, machten mein Onkel und ich einen Gegenbesuch im Arzthaus, außer uns war noch eine Mrs Upton aus dem Dorf eingeladen. Ich glaube, sie ist – sie war mit Mrs Hewitt eng befreundet. Auch das war ein netter Abend, über den es weiter nichts zu berichten gibt. Ich wüsste jedenfalls nicht, was.« Pierre Hobart fuhr sich durch die Haare.
»Was können Sie zu dem Arzt sagen?«
»Zu Mr Hewitt? Er ist sicher einige Jahre älter als seine Frau und wirkt physisch etwas erschöpft. Er kommt mir außerordentlich gebildet und sehr aufgeschlossen vor. Etwas hat mich anfangs irritiert. Er kann bei Tisch oder beim Tee einen einzelnen Gast unverwandt und unverstellt studieren, sie verstehen, was ich meine? Er schaut einen einfach an. Wenn man schließlich den Mut aufbringt, ihn ebenfalls fest anzusehen, antwortet er mit einem Bündel Lachfalten um jedes Auge und die Situation ist wieder entspannt.«
»Redselig ist er demnach nicht sonderlich?«
»Nein, ganz bestimmt nicht! Ich schätze, er ist ein Mensch für kleine Gesprächsrunden. Er hört sehr genau zu und antwortet sehr präzise. Das schnelle Hin und Her, das leicht bei großen Einladungen entsteht und auch recht nett sein kann, ist kaum seine Sache.«
»Dann lebt noch der Pfarrer in der unmittelbaren Nachbarschaft, nicht wahr?«
Mr Hobart wirkte zunehmend ratlos. »Er ist vierzig, seine Frau zwei Jahre jünger, sie haben drei Kinder, fünf Katzen und einen alten Hund. Das Kochen besorgt die Tante des Pfarrers, die ebenfalls im Haus wohnt, ein alter Knecht von der benachbarten Farm genießt eine Art Familienanschluss und kümmert sich um den ziemlich großen Garten; der Gemüsegarten erinnerte mich immer an Bilderbücher aus Kindertagen – wenn Sie noch lange so weiterfragen, werde ich verrückt!«
»Das sehe ich. Aber warum?«
»Weil alles so idyllisch wirkt, dass der Tod von Mrs Hewitt nur ein böser Spaß sein kann! Wer sollte so etwas tun? Dazu so brutal? Und wer kann im Ernst ein Interesse daran haben, diesen Frieden zu zerstören?«
»Vielleicht wollte er ihn gar nicht zerstören? Windermere Grove scheint eine Dorfgemeinschaft zu sein, die gut funktioniert. So etwas gibt es auch heute noch. Ich erinnere mich an kleine Gebirgsdörfer in den Salzburger Bergen, in denen die Bewohner zusammenstehen wie ein großer Familienclan. Abgesehen davon hat jeder soviel zu tun, dass er seinen Nachbarn schon deshalb in Frieden leben lässt. Das läuft prima.« Olivia sah zu Laureen hinüber. »Sie erkennen die Menschen in Mr Hobarts Beschreibungen wieder?«
»Ja, so ist es. Und die zahlreichen anderen, die ich im Verhör kennenlernte, bauen dieses Bild einfach weiter.«
»Wenn man davon absieht, dass in diesem Tatbestand keine einfache Antwort für unser Problem aufzudecken ist, kann man sich letztlich doch nur freuen.«
»…oder wahnsinnig werden. Alle sind eigentlich furchtbar nett. Es ist eine Freude. Und ich bin so nett wie sie alle und versuche, einer Leiche zu helfen. Und durch all die Nettigkeit sitze ich nun im Knast und finde keinen Ausweg, weil die Nettigkeit all der netten Leute Ringelreihen um mich tanzt wie die Kinder unter dem Holunderbusch und die aneinander gefassten Hände all der netten Leute mich zum Gefangenen machen.« Pierre Hobart hatte sich mit seinem Stuhl so weit vom Tisch weggeschoben, dass er seine Arme durchdrücken konnte, die Hände umklammerten die Tischkante und die Fläche um die Knöchel war weiß.
Olivia sah ihn betroffen an. »Mr Hobart«, begann sie ernst und vorsichtig, »es tut mir leid, dass ich mir nicht klar gemacht habe, was es für Sie bedeutet, das alles wieder von vorn zu durchdenken.«
»Sie standen da wie ein Mensch, der lauter neue Fragen stellen wird und ich spürte auf einmal wieder Hoffnung.«
»Neue Fragen können nur aus schon gestellten herauswachsen, verstehen Sie das?«
»Ja, ja, ich verstehe das.« Endlich sah er wieder auf und blieb rätselnd an Olivias Gesicht hängen. Nach einer schweigenden Minute fuhr er sich mit der linken Hand über die Augen, zog mit der rechten den Stuhl zurück an den Tisch und war bereit für die nächste Frage.
»Was haben Sie mit Ihren Tagen in Norfolk angefangen?«
Die Verzweiflung kehrte umgehend in sein Gesicht zurück: »Nichts, was Ihnen weiterhelfen würde. Wirklich nichts!«
»War Ihr Onkel die ganze Zeit in Windermere Grove?«
»Beinahe, er hat einen Sozius und konnte sich für die Dauer meines Besuches freimachen. Das hat mich ehrlich überrascht. In der zweiten Woche waren wir in Windermere Market, dort hat er seine Kanzlei. Er zeigte mir alles und stellte mich seinen Angestellten vor. Ich habe mir anschließend zwei Stunden das winzige Städtchen angesehen, während er die dringendsten Sachen erledigte. Er lud mich als Abschluss zu einem wunderbaren Essen in das große Gasthaus am Marktplatz ein. Das Gasthaus ist sehr alt und sehr behaglich – wenn schon, dann sollte man mich dort gefangen setzen«, versuchte er an die hoffnungsfrohere Stimmung von vor einer halben Stunde anzuschließen.
»Wie heißt dieses Gasthaus?«
»The Old Brewery House.«
»Anwalt Hobart ist dort gut bekannt?«
»Ja, alle vom Besitzer bis zum Laufburschen in diesem Hotel haben großen Respekt vor ihm. Er isst dort mit Geschäftsfreunden, einmal zu Weihnachten mit den Angestellten, und wenn es abends mal gar zu spät wird, übernachtet er auch dort. Ich kann mir nicht denken, dass das oft passiert, denn es sind nur sechs Meilen nach Windermere Grove, aber manchmal eben doch.«
»Was haben Sie weiter von Norfolk gesehen?«
Pierre Hobart sah zu Laureen hinüber und seufzte, aber seine Verzweiflung wirkte schon ein ganz klein wenig theatralisch: »Wir sind die verschieden aussehenden Küsten abgewandert, den Geröllstrand in der Nähe von Blakeney Point, es war ein wunderbar friedlicher Tag in zartblauer Weite, in der man die Möwen und das Knirschen der Schritte auf den kleinen runden Steinen hörte, kaum ein Mensch war unterwegs; und die Steilküste bei Hunstanton mit den roten und weißen Gesteinsschichten. Es war Ebbe und wir gingen weit hinaus, diesmal gluckste das Wasser gelegentlich unter den Sohlen und das Kleintierleben in den Wasserlachen und im Schlick hatte für mich an jenem Tag etwas rätselhaft Beglückendes.« Er sah in Olivias aufmerksames Gesicht und schien ein wenig von seiner Hoffnung darin wiederzufinden. »Wir besichtigten einige uralte Schlösser und mehrere große Parks, ich weiß kaum noch, wie sie heißen… Wir waren in Norwich – sie sehen, es ist ein Besichtigungsprogramm, wie es jeder machen könnte, es hätte nur nicht jeder einen so kundigen Führer wie ich, Onkel Jonathan kennt die Gegend ausgezeichnet. Ganz am Anfang machten wir einen ausgedehnten Spaziergang in Windermere Grove. Er zeigte mir, welches Land einst seiner oder unserer Familie gehörte und welches noch heute in ihrem Besitz ist, wenn auch verpachtet. Dabei lernte ich Farmer Culley kennen. Und zwei oder drei Mal habe ich allein große Spaziergänge durch die Gegend gemacht, wenn Onkel Jonathan sich doch mal ausruhen musste.«
»Haben Sie viel miteinander geredet?«
»Unterwegs nicht so sehr, da sprachen wir vor allem über das, was wir sahen und wenn es nichts zu sagen gab, schauten wir uns um. Gelegentlich fiel einem allerdings etwas ein und dann redeten wir natürlich. An den Abenden im Herrenhaus haben wir unausgesetzt geredet, hier in meiner stillen Umgebung habe ich mich gefragt, wie das möglich war, schließlich hatten wir uns ja nicht sehr gut gekannt. Aber er kann so ausgezeichnet Gespräche führen und interessante Fragen stellen, dass ich im Grunde schon in London zu vergessen begann, wie fremd er mir hätte sein sollen. Vielleicht lernen Sie ihn kennen, wenn Sie nach Norfolk fahren, es lohnt sich. Sicher kann er Ihnen auch Geschichten über die Gegend erzählen, die Sie sonst nirgends hören, so etwas suchen Sie doch, nicht wahr?«
»Ja, richtig. Lady Gaynesford legte mir so etwas Ähnliches auch schon ans Herz.« Sie sah Laureen voll an. »Wenn Sie beide dasselbe meinen, versuche ich es am Ende wirklich – wie ist der Kontakt zwischen Ihrem Onkel und Ihrem Vater?«
Pierre Hobart dachte nach, schließlich formulierte er: »Locker, aber konsequent – so weit ich zurückdenken kann, kam immer um den Jahreswechsel herum ein Brief mit den wichtigsten Nachrichten der vergangenen zwölf Monate. Mein Vater macht es genauso. Seit Onkel Jonathan Windermere Grove geerbt hat, kommen auch zwischendurch Nachrichten, die den Besitz betreffen. Er hat keine Kinder, was bedeutet, dass mit ihm die englische Familienlinie ausstirbt. Der Besitz fällt dann an meinen Vater oder seine Kinder. Ob die beiden Vettern in ihrer Korrespondenz konkretere Pläne entwickeln, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Dieser ganze Bereich ist mir erst hier in dieser übertriebenen Ruhe in den Sinn gekommen.«
»Sie haben in Norfolk nicht darüber geredet?« Es überraschte Olivia, ohne dass sie hätte sagen können warum.
»Nein, darüber sprachen wir nicht.«
»Wundert Sie das heute?«
»Bisher nicht, aber wenn Sie weitermachen, tut es das am Ende noch.«
»Dann lassen wir es lieber ruhen – haben Sie Geschwister?«
»Das nennen Sie einen Themenwechsel?« fast hätte der junge Mann gelacht. »Ja, ich habe zwei jüngere Schwestern. Vielleicht wird eine in zwanzig Jahren Herrin von Windermere Grove, man kann es scheinbar nicht wissen. Auch darüber kann ich jetzt nachdenken.«
»Ich dachte, Sie sind der Älteste?«
»Ja und?«
»Damit würden Sie, wenn Ihr Vater nach dem Tod von Jonathan Hobart auf seinem Weingut am Kap bleiben will, der Erbe von Windermere.«
»Du meine Güte, Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde nach England kommen? Mir gefällt Norfolk, wirklich, aber ich bin am Kap zuhause! Sie produzieren wirklich die verrücktesten Probleme.«
»Das ist schön, dann lasse ich wenigstens nicht nur Frustration zurück. Aber ich habe den Eindruck, ein wirklich anregendes Thema ist das für Sie auch nicht – kann ich Ihnen Bücher bringen? Über Obstanbau, über internationalen Handel – was weiß ich. Dann müssen Sie nicht ausschließlich in Ihren Gedanken spazieren gehen.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Sicher. Ich meine immer, was ich sage. Schicken Sie mir eine Liste, der Auftrag wird umgehend ausgeführt.« Olivia lächelte: »Hoffentlich kann Ihnen das wirklich helfen, ich fürchte, ich gehe zu sehr von mir aus, Bücher würden mir diese Lage allenfalls erträglich machen. Hier ist meine Adresse«, sie gab ihm ihre Karte, »auch zu benutzen, wenn Ihnen doch noch etwas Interessantes einfällt, man kann nie wissen.« Sie stand auf.
»Ja, mir fällt noch etwas ein! Verrückt, dass ich erst jetzt darauf komme.« Pierre Hobart hielt inne und sein Gesicht überschattete sich erneut. »Es ist genauso wenig wichtig wie alles andere.« Als er nicht weitersprach, setzte Olivia sich wieder und schaute ihn abwartend an. Er riss sich zusammen und brachte ein kärgliches Lächeln zustande: »Jetzt schauen Sie wieder mit diesem vielversprechenden Blick. Nun denn, mir ist eingefallen, dass ich einen Tag bei einem alten Freund meines Vaters verbracht habe. Allein, Onkel Jonathan nutzte den Tag zur Erholung. Es ist Stanley Parnell, er lebt in Paston sehr nah am Meer. Mein Onkel überließ mir seinen Wagen, was ich sehr großzügig fand. Er ist überhaupt sehr großzügig.«
Es entstand eine Pause. »Wer ist Stanley Parnell?« half Olivia nach.
»Er ist der älteste Freund meines Vaters, sie wuchsen beide dort oben nördlich der Karoo auf. Stanley kämpfte für die Rechte der Buschmänner, ohne jeden persönlichen Rückhalt. Er hatte in der Zeit, in der ich mich an ihn erinnere, eine gute Position im South African Museum in Kapstadt, wo er einer der Spezialisten für die Buschmänner war. Von seinen Zielen habe ich keine genauen Vorstellungen, er bekam zunehmend Schwierigkeiten und verließ angesichts der ständig ausgepichteren Apartheidsgesetze Südafrika, ich denke 1981. Seitdem lebt er in Paston und kann aus dem Fenster wieder das Meer sehen. Mein Vater blieb mit ihm in gutem Kontakt und seit Mandela Präsident wurde, kommt Stanley regelmäßig zurück nach Kapstadt. Aus Freundschaft zu meinem Vater besucht er mich hier im Gefängnis immer, wenn er in London zu tun hat.«
»Und das fällt Ihnen erst jetzt ein!« staunte Olivia.
»Ist das so unbegreiflich? Er hat mit dem Mord gar nichts zu tun! Und darum drehte sich doch unser Gespräch.« Er sah sie fragend an.
»Sie haben Recht. Trotzdem hätte ich gern seine Adresse, wenn es Ihnen nicht allzu indezent vorkommt. Ausgerechnet Paston will ich auf alle Fälle aufsuchen, Virginia Woolf schrieb einen fabelhaft anregenden Essay über die Familie Paston – damit sind mir meine Pflichten wieder eingefallen!« Olivia sprang auf. Sie hielt noch einmal inne, um die Adresse von Mr Parnell aufzuschreiben, dann verabschiedete sie sich von dem Gefangenen mit der Zusage, die Ohren offen halten zu wollen und eilte so schnell, wie das Aufschließen und Zusperren der Gefängnistüren es ihr erlaubte, hinaus in die Freiheit.