Читать книгу Spinner. Schelme. Scharlatane - Gerhard Dienes - Страница 16
Оглавление1756–1819
DER NARREN-
DATTEL
JOHANN
LOCHNER
Jeder, der zum Narrendattel geht, Hat die Absicht, daß er Spaß versteht …
Aus dem Narrendattellied
Donnerstag, 4. März 1813. Europa steht im Zeichen des Kampfes gegen Napoleon. Russische Truppen ziehen in das von den Franzosen geräumte Berlin ein, Preußen steht knapp vor der Kriegserklärung an Frankreich. In der kaiserlichen Residenzstadt Wien hat man anderes im Blick: Die hochlöbliche Polizei-Oberdirektion sieht sich mit einer heiklen Beschwerde konfrontiert: Fürsterzbischof Sigismund Anton von Hohenwart zeigt erbost an, dass sich der Vorstadt-Gastwirt Johann Lochner „vulgo Narrendattel“ am Abend des Faschingdienstags erkühnt habe, in seinem Bierhaus in Lichtental ein „nach kirchlichem Gebrauch eingerichtetes Begräbniß des Faschings“ zu inszenieren, dabei habe er eine „lächerliche pöbelhafte Leichenpredigt“ gehalten. Die Polizei-Oberdirektion sieht den Tatbestand „Herabwürdigung der katholischen äußerlichen Religionsübungen“ erfüllt und lässt den „Narrendattel“ verhaften. Der Übeltäter ist kein Unbekannter, sondern stadtbekanntes Original: Johann Lochner, der Wirt vom Bierhaus „Zur heiligen Anna“ in der Badgasse in Lichtental (Nr. 130, heute Badgasse 29), berühmt für seine Grobheiten, die er den Gästen an den Kopf zu werfen pflegt.
Des Narrendattels „Leichenpredigt“ ist ihm ein Dorn im Auge: Sigismund Anton von Hohenwart.
Für die Predigtparodie wird eine Geldstrafe von 100 Gulden beantragt, die dem Armenfonds zufallen solle, eine Arreststrafe will man dem Hausinhaber und Wirt nicht antun; für die Zukunft werden ihm jedoch „alle unanständigen Scherze bei strenger Verantwortung, alle Beziehungen und Gespräche von Religion sowie die Produzierung kirchlicher Ceremonien“ streng untersagt, ansonsten drohe ihm der Verlust seines Gewerbes. Der Polizeibezirks-Direktion wird aufgetragen, dem zuvor bereits zweimal verwarnten Narrendattel „ununterbrochen“ ihre Aufmerksamkeit zu schenken, immerhin habe man die Gewinnsucht als „Triebfeder seiner pöbelhaften, oft anstößigen Scherze“ erkannt. Johann Lochner betreibt sein Wirtshaus „auf der Wiesen“, wie die Wiener das Lichtental auch nannten, zusammen mit seiner Frau Maria Anna seit dem Jahre 1800; die Bezeichnung „Zur heiligen Anna“ wird 1726 erstmals erwähnt, das Grundstück hat eine Gesamtfläche von 75 Wiener Quadratklaftern, also etwa 270 m2. Das Wirtshaus hat hier Tradition: Auf dem Besitz haftet seit 1699 eine Bierschank-Gerechtigkeit – im Lichtental nichts Außergewöhnliches: Etwa ein Fünftel aller Häuser sind Gaststätten. Das kleine Lokal umfasst ein Schank- und ein Extrazimmer, zehn Tische, drei Doppelbänke, 27 Sessel und ein Kanapee – für die feineren Gäste – bilden die ganze Einrichtung. Über einen kleinen Hof gelangt man zum Gastgarten, von Josef Richter in den Eipeldauerbriefen abschätzig als „Hühnersteign“ bezeichnet.
Ein grünes Käppchen in die Stirne gedrückt, pflegt Lochner seine Gäste mit den legendären Worten zu begrüßen: „Na, ist denn nirgends a Bradl z’haben als da bei mir?“ Jedes „Frauenzimmer“, das in sein Wirtshaus kommt, wird – auch in Begleitung eines Mannes – von ihm „punziert“, das heißt: Er gibt ihm einen Kuss. Lochners Erfolgsrezept sind seine „göttlichen“ Grobheiten, die er den Gästen an den Kopf wirft und über die sich diese „fast bucklicht“ lachen (Emil Karl Blümml und Gustav Gugitz, Altwienerisches).Als Josef Richter 1807 in den Eipeldauerbriefen über den pfiffigen Grobian aus der Vorstadt berichtet, wird Lochner endgültig zu einer Wiener Berühmtheit, das Geschäft blüht. Wie Richter, der mit dem Narrendattel persönlich bekannt ist und von ihm so manche Grobheit einstecken muss, später erzählt, hat der Eipeldauer-Artikel diesem „einige tausend Gulden tragn“.
Altwiener Vorstadt Lichtental: die Badgasse im Jahre 1901. Foto von August Stauda.
Anno 1811 widerfährt dem Wirt in Lichtental die Ehre, zum Helden eines Theaterstücks aufzusteigen. Joachim Perinet widmet ihm ein Lustspiel mit dem Titel Die Zusammenkunft beim Narrendattel, das am 13. Juli 1811 am Leopoldstädter Theater Premiere feiert und beim Publikum großen Anklang findet. Kritiker wie Adolf Bäuerle sprechen zwar von einem „läppischen, elenden Geistesproduct“, doch das kümmert die Zeitgenossen wenig – sogar in Graz, wo das Stück 1812 aufgeführt wird, kommen die Zuschauer in Scharen. Die Titelrolle des Narrendattel verkörpert in Wien Karl Schikaneder, der in Vorbereitung seiner Rolle beim wirklichen Narrendattel „Lektion nimmt“; Johann Lochner selbst verfolgt die Premiere aus einer Loge des Theaters; das Publikum applaudiert ihm am Ende der Vorstellung.
Der Erfolg verlangt wie damals üblich nach einer Parodie und diese wird prompt von einem unbekannten Autor geliefert: Am 18. August 1811 erlebt am Josefstädter Theater das Stück Die Wiedervereinigung beim Narrendattel seine Uraufführung, wieder ist der Zuspruch des Publikums groß, die Figur des Narrendattel wird von Tobias Kornhäusel verkörpert, dem es angeblich gelingt, Johann Lochner „in seiner ganze Eleganz von Grobheit“ darzustellen.
Der Wirt ist populärer denn je, sein Lokal bestens besucht, wie Josef Richter bestätigt: „Seit d’Leut sein Kopie aufn Theater haben kennen glernt, lauft alles ins Lichtenthal hinaus, um’s Original z’kennen, und da hat er sein Gartl täglich voll, und da denkt er sich also, und sagts seinen Gästen so gar ins Gsicht: ich bin ein Narr in mein Sack; ihr seyd aber die wahren Narrn, weil ihr so weit zu mir herauslauft, um Grobheiten z’hohln.“
Der Narrendattel Johann Lochner wird zu einer stehenden Figur, auf ihn bezieht sich Ferdinand Raimund in seinem 1822 verfassten Zauberspiel Die gefesselte Phantasie, wenn der grobe Harfenist Nachtigall im 1.Aufzug, 14.Auftritt, ein „zweiter Narrendattel“ genannt wird.
ZU TODE GESTORBEN
„Zwölf Anekdoten zum Todlachen“: Die Geschichten rund um den Narrendattel fanden reißend Absatz.
Bei seinem frühen Tod durch „Schlagfluß“ am 27. Jänner 1819 hinterlässt der 63-jährige Johann Lochner immerhin 4.929 Gulden Wiener Währung, unter großer Teilnahme der Wiener Bevölkerung wird er am Währinger Allgemeinen Friedhof vor der Nußdorfer Linie beigesetzt. Es ist ein Leichenbegängnis, wie er es sich gewünscht hätte: Alle, die „auf den Gründen draußen“ Bier trinken, sind gekommen: Biermusikanten und „Bierharpfenisten“, Blinde und Sehende, Zuckerwerk-Hausiererinnen und Krapfenweiber. Drei Priester begleiten den Zug, drei Glocken läuten und zwei Posaunisten entlocken ihren Instrumenten klagende Töne, „alles had g’wannt und bet’t“, erzählt Franz Xaver Karl Gewey, der Nachfolger Richters, in seinem launigen Nachruf, verfasst in eigenwilliger Wienerischer Mundart, in den Eipeldauerbriefen: „Der 27te Jäner 1819 war an allgemein’r Tag der Trau’r für alli Narr’n in Wien, b’sunders für die Liechtenthaler, denn an den Tag seyn’s alli armi Wais’n wor’n, indem ihnen herzinniggeliebtester Vater, oder Datl, der Weltberühmte sogenannte Narr’ndat’l, Herr Johann Lachner (sic!), privilegirter Spaßvog’l, Bierwirth und Hausinhaber Nro. 130 in Liecht’nthal das Zeitliche mit den Ewig’n verwechselt, und si zun größt’n Leidwes’n sein’r Kinder wirkli z’tod gestorb’n had – nid umsunst had die Natur den Mann Gottes den Nahmen Lachner g’geb’n, indem er dö Narr’n, dö zu ihm häuffi hinauspofelt seyn, durch alli seini Schnack’n und Schwänk, Verklaidungen und Scenespielarei’n, Glampf ’ln und Poss’n so rasend had lach’n g’macht, daß se si oft a Hand, oder an’n Fueß häd’n auslach’n mög’n, dadurch had si der Herr Lachner (tröst’n God) sehr große Verdienst um den Staat erworb’n, da er n den Zeitpunkt, wo die Zeit’n g’rad so schlecht war’n, daß der g’mani Mensch völli allerweil verzweif ’lt’r um’rgang’n iß, durch sein’n gued’n Hamor den’n niderg’detscht’n Leud’n, dö zu ihm als ihner’r Tröst’r auf a Glas Bier eini gang’n seyn, alli Traurikeit weg narriert …“
Johann Lochner, der Grobian und „privilegierte Spaßvogel“ aus der Badgassse in der Vorstadt Lichtental, wurde zur literarischen Figur, man begegnete ihm auf den Bühnen und belustigte sich an den zahlreichen Anekdoten über ihn.
Das Gasthaus in der Badgasse 29, später „Zum Narrendattel“ genannt, existierte bis in unsere Tage. Ein „Kulturverein Narrendattel“ bemühte sich um einen regelmäßigen Kulturbetrieb im Lokal, das, so der Wunsch der Betreiberfamilie, in seiner Ursprünglichkeit erhalten bleiben sollte. Im Jahr 2000 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, das Haus stand in der Folge leer. Da das Bundesdenkmalamt einen Denkmalschutz für nicht gerechtfertigt hielt, wurden das Haus „Zur heiligen Anna“ und das Nachbargebäude „Zum Blumenstock“, beide aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammend, schließlich 2014 abgerissen – ein Altwiener Erinnerungsort verschwand unwiederbringlich.
Geblieben ist im Wienerischen der „viel liebenswürdiges Gemüt verratende Ausdruck“ (Blümml/Gugitz) „Narrendattel“ für einen „Spaßmacher“ und nicht allzu verrückten Menschen, vergessen ist jedoch der Mensch, für den der Begriff einst geprägt wurde und der die Traurigkeit der Zeitgenossen so erfolgreich weg narrierte …