Читать книгу WOLLUST ACH - Uwe, der Student - Gerhard Ebert - Страница 3
1.Das neue Leben
ОглавлениеIm Spätsommer saß Uwe eines Morgens erwartungsfroh und durchaus auch ein wenig stolz im D-Zug nach Weimar. Er fuhr zum Studium der Theaterwissenschaften am renommierten Deutschen Theaterinstitut auf Schloss Belvedere. Und während der Zug durchs Thüringer Land ratterte, wanderten die Gedanken zurück. Er sah seinen ehemaligen Chef vor sich, den Herrn Berger, der ihn nach seiner Rückkehr von der Prüfung mit seinen blanken Äuglein unter struppigen Brauen erwartungsvoll angeblickt hatte. Uwe hatte ihm sagen müssen, dass er angenommen und auch gesonnen sei, in Weimar anzufangen. Er versteckte sich ein wenig hinter Vater. Mit ihm habe er alles noch einmal besprochen. Und er habe ihm geraten, sich in diesen unvergleichlichen Zeiten nicht auf ein so ungewisses Geschäft einzulassen. Herr Berger hatte nur müde genickt, „ja, ja“ gemurmelt und gesagt, dass er alles verstehe. Er spüre sehr wohl: Die Zeiten des Handwerks seien vorbei. Wer wisse, ob in einigen Jahrzehnten oder gar schon Jahren überhaupt noch Schriftsetzer gebraucht werden. In Amerika werde gewiss schon daran herumgedoktert, künftig alles elektrisch zu machen. Er werde seine Druckerei schließen und sein Blei verramschen müssen. Das war bitter, gewiss. Uwe hatte stumm gestanden und nichts zu sagen gewusst. „Alles Gute, mein Junge!“ hatte der Chef gesagt. Er war eben ein Lieber! So war Uwe denn doch irgendwie im Guten ausgeschieden.
Auch seine „Film-Karriere“ hatte Uwe beendet. Er hatte dem Chef der Film-Form GmbH, dem Herrn Güntler, mit einer gewissen Genugtuung geschrieben, dass er vorerst aus dem Film-Schreibkurs aussteige, weil er im Begriff sei, ein Studium zu beginnen. Das werde ihn gewiss so beanspruchen, dass fürs Schreiben als reinem Luxus keine Zeit mehr zur Verfügung stehen werde.
Ja, es war toll, angenommen zu sein! Aber er durfte sich keinen Illusionen hingeben. Auch jetzt hämmerte er sich den Vorsatz ein, die Dinge grundsätzlich so zu nehmen, wie sie kommen würden und nicht zu lamentieren. Auf keinen Fall wollte er sich gehen lassen, wenn dies oder jenes schief gehen sollte. Was ja wohl nicht zu vermeiden sein würde.
Das ruhige und entspannte Sitzen im sanft rüttelnden Wagen führte indessen zu einem Ereignis, das Uwe gnadenlos aus seinen Erinnerungen ins aktuelle Dasein holte. Sein arg vernachlässigter kleiner Uwe machte nämlich so unverkennbar wie nachhaltig auf seine Existenz aufmerksam. Ohne dass Uwe auch nur irgendwie eine gegenteilige Maßgabe hätte an ihn richten können, forderte sein Schwengel in der Hose Beachtung ein und begann, sich aufzurichten. Welche im Moment ganz und gar ungewollte Aktivität Uwe brutal unterdrückte, indem er rasch aufstand und aus dem Abteil hinaus in den Gang trat. Dort stellte er sich nah an ein Fenster, um die unerwünschte Erhebung möglichst unsichtbar zu machen. Aber die Gefahr ging rasch vorüber. Sein lüsterner Schlingel nahm übel und sackte in sich zusammen.
Uwe indessen blieb höchst nachdenklich zurück. Ihm war von der Natur soeben ein überdeutliches Signal zuteil geworden. Und das hieß, künftig trotz aller Studiererei nicht zu vergessen, dass auch gelebt werden musste, und zwar ganz besonders in bestimmter Hinsicht. Uwe war bewusster denn je, dass er einen mächtigen Nachholbedarf hatte. Nachdenklich ging er zurück ins Abteil. Die paar Leute, die dort saßen, hatten wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass er kurz draußen gewesen war. Nun saß er wieder in seiner Ecke und schwor sich, das Thema Sex endlich und endgültig nicht mehr nur von der theoretischen Seite anzugehen. Die Theorie, nahm er sich vor, sollte fortan der Theaterwissenschaft vorbehalten sein, und die Praxis seinem Geschlecht. Sozusagen!
Und er ahnte gleichsam greifbar, da würden so oder so noch viele Enttäuschungen zu verkraften sein. Denn eine wirklich liebreizende Frau, die ihm geradezu mystische Schauer durch den Körper jagte, wenn er sie nur sah, lief höchstwahrscheinlich nicht auf den Straßen von Weimar herum. Und wie es damit auf Belvedere bestellt war, wusste er ja schon aus eigener Anschauung. Möglicherweise, gestand er sich ein, waren seine Sehnsüchte nach einer schönen Frau einfach nicht von dieser Welt, weil total fern jeder Realität. Wie auch immer, er musste ran an das Problem, musste verhindern, als schrulliger Intellektueller zu enden.
Die neuerliche Beschäftigung mit Thema eins der Männer hatte Uwe die Reise nach Weimar verkürzt. Als er auf Belvedere eintraf, erwartete ihn die erste Überraschung. Er würde gar nicht in einem der Kavaliershäuser unterkommen, sondern in einem zusätzlich angemieteten Wohnhaus am Rande von Weimar. Er sollte sein Gepäck deutlich kennzeichnen, es würde vom Fahrer zum Ratstannenweg gebracht. Er selbst sollte sich schon mal zu Fuß auf den Weg machen; denn Studenten des 2.Studienjahres seien schon vor Ort und würden ihn im Empfang nehmen. So trabte er denn los und machte die erste Bekanntschaft mit seinen künftigen Kommilitonen.
Der kleine Trupp, der sich gebildet hatte, suchte zunächst einmal mit Mühe, die Unterkunft zu finden. Am Restaurant Falkenberg waren sie nach links abgebogen, von wo es nachhaltig bergauf ging, und die Max-Liebermann-Straße erwies sich als elend lang. Sie hatten schließlich fast eine Stunde gebraucht, bis sie nach ein, zwei unnötigen Umwegen endlich an dem für damalige Verhältnisse wohlerhaltenen, schmucken Haus anlangten.
So viel stand schon mal fest: Der tägliche Fußmarsch hoch nach Belvedere würde, was die Gesundheit betraf, gewiss gut sein, was jedoch den Zeitaufwand betraf, mehr als ärgerlich. Die launig theatralische Begrüßung vor Ort indessen ließ solche Abwägungen erst einmal vergessen. Für die Studenten standen Erdgeschoss und erstes Stockwerk mit Bad und Küche zur Verfügung. Natürlich hatte das ältere Semester, das sie jetzt so fröhlich begrüßte, bereits die Einzelzimmer belegt, und Uwe fand sich in einem Eckzimmer für drei Personen wieder. Seine Mitbewohner: Heinrich aus dem fernen Mecklenburg und Erich aus dem nahen Halle. Für jeden standen ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl zur Verfügung. Nun lag es an ihnen, daraus etwas zu machen.
Studium! Neben allerhand Theorie überraschend auch Praxis. Vor allem das Stanislawski-Seminar! Die Leitung der Hochschule war der Meinung, dass künftige Dramaturgen und Regisseure auch einmal auf der Bühne gestanden haben sollten, und wenn es die einer Probebühne an einer Schule gewesen war. Für Uwe eine arge Herausforderung. Er ahnte, dass ihm die Schauspielerei Ärger machen würde. Weil er wusste, dass er im Grunde total verklemmt war. Und nicht nur ein kundiger Dozent, auch seine Mitstudenten würden das zu sehen bekommen. So kam es denn auch. Und das war echt demütigend.
Stanislawski-Seminar - genannt nach dem russischen Schauspieler, Regisseur und Theaterpädagogen Konstantin S. Stanislawski und eigentlich eingerichtet und durchgeführt als Grundausbildung für Schauspieler. Für Theaterwissenschaftler sollte es nur eine allerdings wichtige Übung sein. Das hieß: Gespielt musste werden, selbst wenn es amateurhaft blieb. Die Studenten des Seminars bekamen zur Aufgabe, vorbereitet zu erscheinen, und zwar mit der Idee zu einer Etüde, die sie ihren Kommilitonen aus dem Stegreif vorspielen sollten.
Geradezu Horror für Uwe! Er verstand die Welt nicht mehr. Da hatte er einst in seiner Kammer an Ideen für Filme gewerkelt, und jetzt versagte er, wenn es um simple Einfälle für kurze Spielchen ging. Das Problem war, dass man die Idee dann selbst realisieren musste. Also schien es ratsam, der Phantasie nicht zu viel Freilauf zu lassen, sondern besser dicht am selbst erlebten Alltag zu bleiben. So ernüchternd prosaisch das Spiel auch ausfallen würde! Für Laien war es kompliziert genug; denn die Requisiten, die man eigentlich gebraucht hätte, musste man sich vorstellen! Und dann auch noch so damit umgehen, dass die Zuschauer erkennen konnten, womit man hantierte.
So kam denn Uwe auf die Idee, den Leuten vorzuführen, was er jüngst mit seinem Proviant erlebt hatte, den sie in der Mensa in Empfang nehmen konnten. Meist war das Brot und Marmelade, auch Margarine und Obst. Diesmal hatte es neben Marmelade auch einen Hering gegeben, aber einfach so, ganz ohne Verpackung! Wie das kostbare Stück rund eine Stunde lang neben Büchern, Schreibblock und Turnschuhen in einer Aktentasche transportieren? Uwe opferte für den Hering zwei Blatt Papier vom Schreibblock und hoffte, dass die Tüte, in der die Marmelade immerhin gereicht wurde, den Transport überstehen würde. Aber das war nicht gelungen. Hering und Marmelade waren sich innig nahe gekommen. Und Uwe war nicht bereit gewesen, auf beides zu verzichten. Also hatte er die Marmelade gründlich vom Hering abgeleckt. Und er hielt diesen Vorgang für eine interessante physische Handlung. Denn darauf vor allem kam es an im Stanislawski-Seminar, auf die physische Handlung!
Wobei, wie gesagt, auf der Bühne grundsätzlich nicht die realen Gegenstände zur Verfügung standen. Was bezüglich eines Herings ja sogar recht plausibel war. Manchmal gelangen den Studenten mit vorgestellten Gegenständen sogar verblüffend genaue Darstellungen. Meist aber wurde lange herumgerätselt, was da wohl eben zu sehen gewesen war. Uwe hatte sich an dem Tag wirklich redlich Mühe gegeben, hatte gründlich geleckt. Aber ein Hering war nicht zu sehen gewesen. Also begann die Raterei. Allen voran Professor Otto Lang, der mit seinen funkelnden Augen noch im Nachhinein geradezu entgeistert auf die Bühne starrte, so dass Uwe ordentlich mulmig wurde. Da die Seminarteilnehmer bei bestem Willen nicht dahinter kamen, was er da soeben vorgeführt hatte, musste Uwe Auskunft geben. Welch Entsetzen! Vor allem beim Professor. Er konnte einfach nicht fassen, dass man Marmelade von einem Hering ableckt. Igittigitt! Der Mann hatte offenbar keine Ahnung, was Hunger ist. Was man ihm natürlich nicht aufs Brot schmieren konnte. Ab diesem Tag war das Seminar für Uwe gelaufen. Da auch andere Wissenschaftler mit dem Spielen so ihre Probleme hatten, wurden sie noch im ersten Semester zu einer Gruppe zusammengefasst, die in besonderen Seminaren für Kunst aufgeschlossen werden sollte. So lernte Uwe ganz außerplanmäßig die Uta von Naumburg kennen.
Welch steinerne Schönheit indessen ganz und gar kein Ersatz war für die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse. Mit Uwes Mannwerdung sah es nach wie vor erschreckend elend aus. Aus den verschiedensten Gründen. Zunächst einmal verhinderte die Dreierbelegung des Zimmers, dass man irgendwie ein Weib mit auf Bude hätte bringen können. Abgesehen davon, dass Uwe ja gar keine Bettgespielin zur Verfügung stand. Zum anderen war just auf Belvedere eine Moraldebatte im Gange. Auf strenge Trennung zwischen Mädchen- und Männer-Kavalierhaus wurde gedrungen. Weil nämlich ein Student zwei Studentinnen geschwängert hatte. Gleichzeitig! Dieser Dussel!
Die Hochschulleitung sah sich gezwungen, strengere Maßstäbe anzulegen. Doch diese Strenge tangierte Uwe ja gar nicht. Sein Problem war nach wie vor, überhaupt erst einmal an eine Frau heranzukommen. Er lebte, wie auch seine Zimmergenossen, im Ratstannenweg ausgesprochen isoliert. Wenn sie abends ihr Zimmer erreichten, war grundsätzlich noch Selbststudium angesagt. Meist bis spät in die Nacht. Von Frauen war nur die Rede. Bei dem Thema hatte meist Heinrich das Sagen, denn er hatte in Schönberg in Mecklenburg eine Freundin und war fest entschlossen, ihr treu zu bleiben. Erich war solo, hatte aber wohl schon bisschen Erfahrung. Jedenfalls verstand er, diesen Eindruck zu erwecken.
Was für Uwe durchaus nahe gelegen hätte, nämlich sich im Studienjahr eine Freundin anzulachen, kam nicht zustande, weil – zumindest nach allererster Sondierung – in der Gruppe keine Frau war, die sein Interesse geweckt hätte. Einige Wochen später allerdings, sozusagen nach zweiter Sondierung, kam ihm Ellen ins Visier, und zwar beim Fechten. Nicht nur, dass er gegen sie antreten musste, er konnte sie während dieses Unterrichtes stets gut beobachten. Und er fand, dass sie nicht nur eine attraktive Figur hatte, sondern dass sie überhaupt ein echt appetitliches Mädchen war. Forsch, agil, und immer gut gelaunt.
Vorerst jedoch, so lange seine Erkundungen gewissermaßen aus der Ferne erfolgten, war für Uwe nach zwei, drei Wochen ziemlich gewiss: Auf ganz Belvedere gab es nur eine Studentin, die ihn erregen konnte, wenn er an sie dachte: Ruth-Maria! Sie war von stattlicher Figur, vollbusig, sehr impulsiv, und verdammt gut anzusehen. Doch leider zu groß für ihn. Und außerdem schon liiert, nämlich mit Götz, der im letzten Studienjahr war und wie sie schon einen gewissen Sonderstatus genoss. Also Ruth-Maria, eine zweifellos künftige Film-Diva, musste Uwe sich aus dem Kopf schlagen.
Das war sein Problem. Er träumte noch immer von einer auffallenden Schönheit, eben von einer potentiellen Film-Diva. Schließlich hatte er noch zu Hause im Kino genug davon bewundern können. Allen voran: Sonja Ziemann. Sie war zurzeit seine heimliche Geliebte. Für sie wäre er durchs Feuer gegangen. Auch im Kreistheater hatte Uwe noch eine heimliche Flamme gehabt. Ingeborg Ottmann, eine junge Schauspielerin, die neben dem gastierenden Erich Ponto als Faust ein himmlisches Gretchen gespielt hatte.
Solch hinreißend schöne Frauenzimmer waren leider auf Belvedere nicht auszufinden. Uwe ergriff Ernüchterung. Er nahm sich vor, bescheidener zu sein. Ein schönes, aber eben leider unerreichbares Idol im Kopf blockiert fürs Leben! Das musste sich ändern! Auch durfte er auf gar keinen Fall wie früher völlig die Übersicht verlieren, wenn er sich denn doch verknallen sollte. Er musste es grundsätzlich ruhiger angehen. Der tägliche Umgang mit teils sehr viel erfahreneren Männern hatte ihn ohnehin desillusioniert.