Читать книгу WOLLUST ACH - Uwe, der Student - Gerhard Ebert - Страница 8
6.Das erotische Magazin
ОглавлениеAuf seiner S-Bahn-Fahrt morgens zum Theater und abends zurück nach Prenzlauer Berg musste Uwe in Gesundbrunnen umsteigen, und das lag in Westberlin. Der Bahnhof war zwar verdammt trist, aber dort gab es diverse Kioske, die noch spät abends neben Lebensmitteln, Obst und Gemüse Verlockendes boten, nämlich Zeitungen und bestimmte erotische Magazine. Uwe war gelegentlich schon neugierig stehen geblieben. Stets rumorte in ihm ein geradezu magisches Interesse, dem er allerdings bislang noch zu widerstehen gewusst hatte. Aber er wusste auch - es war nur eine Frage der Zeit, und er würde die Unkosten riskieren, würde sich solch ein Magazin mit Fotos von nackten Frauen kaufen.
Eines Tages suchte er die Wechselstelle auf. Der Kurs war nicht eben günstig, aber was sich in ihm als ein Bedürfnis hochgeschaukelt hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Er musste jetzt dieses Magazin kaufen! Schließlich war er nicht zuständig für das, was sich hier in Berlin an Irrsinn entwickelt hatte. Immer wieder hatte er gesehen, wie umsteigende Berliner vor allem Obst und Gemüse einkauften. Manchmal glaubte er zu erkennen, ob sie aus Ost- oder aus Westberlin stammten, aber meist blieb das offen. Es war kein gutes Gefühl, in solch anrüchiger Wechselstube zu stehen. Aber wie sonst sollte er an Westgeld kommen?
Als Uwe wenig später das gewünschte Magazin in der Hand hielt, das ihm der Kiosk-Inhaber so selbstverständlich wie ein Bündel Mohrrüben gereicht hatte, wurde ihm erst einmal siedend heiß. Könnte er in eine Kontrolle geraten? Er hatte zwar noch nie eine gesehen, aber der Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Was er da jetzt besaß, war Pornographie. Und die war in seiner Heimat nicht gerade erlaubt. Er faltete das Exemplar, das im Übrigen viel dünner war, als vermutet, zu einem kleinen Bündel, das in die Hosentasche passte und begab sich zum Bahnsteig. Niemand schien ihn beobachtet zu haben. Noch einmal wurde ihm siedend heiß, als der S-Bahn-Zug im Bahnhof Schönhauser Allee hielt, der erste Station wieder im Osten. Normaler Betrieb, aus- und einsteigende Fahrgäste, keine Polizei, Weiterfahrt. Welche Aufregung wegen eines lumpigen, aber verdammt teuren Stücks Papier mit nackten Frauen!
So schnell wie diesmal war er noch nie zur Dunckerstraße geeilt und dort im Haus die Treppen hoch zu seinem Quartier. Vorsorglich schloss er die Tür zum Zimmer ab, da Wirtin Nowack gelegentlich neugierig einen Besuch machte, wenn er nach Hause gekommen war. Dann faltete er das Magazin auf. Es war gerade einmal acht Seiten umfangreich, aber Seite für Seite gefüllt mit je einem Aktfoto einer wirklich attraktiven Schönen. Darunter, das hatte er schnell festgestellt, wenigstens drei, vier Mal das, was er für seinen Typ hielt: volle, wohlig runde Brüste und geile Schenkel. Die inneren Seiten ließen sich sogar auffalten, so dass auf praktisch vier Seiten ein ausgestreckt liegender Akt Platz gefunden hatte. Die Dame rekelte sich auf einer Decke und blickte verführerisch. Schon atmete Uwe heftig. So viel weibliche Nacktheit auf einmal hatte er noch nie gesehen. Er konnte nicht widerstehen. Er legte das Papier günstig und begann sein Spiel. Heftiger, lustvoller denn je. Fast hätte er vergessen, die fällige Entladung unter den Teppich zu platzieren.
Als er neu blätterte, überkam ihn neue Gier. Es war schwer, sich für eine der Schönen als potentielle Partnerin zu entscheiden. Er verweilte bei einem aufrecht sitzenden Weib, dessen langes schwarzes Haar auf ihre prächtigen Brüste fiel, sie gleichsam umspielte und dadurch hervorhob. Mit dunklen Augen schaute sie Uwe durchdringend an, als sei er just ihr Beischläfer. Jedenfalls in seiner exquisit angereicherten Phantasie, die ihm nun besser denn je half, sich ordinär körperlich zu befriedigen. Als er schließlich im Bett lag, bedrückte ihn seine widernatürliche Tour. Aber er sprach sich frei. Es war nicht seine Schuld, dass ihn die Natur potent gemacht hatte, ihm jedoch keine Frau dafür bot. Und ob er in der Linienstraße darauf eine Antwort finden würde, schien ihm höchst zweifelhaft. Aber umschauen müsste man sich natürlich schon einmal. Jedenfalls nahm er sich das vor.
Am nächsten Vormittag kam Uwe nur schwer in Gang. In Hausarbeit sollte die Strichfassung des Stückes entstehen, das gerade im Theater am Schiffbauerdamm gearbeitet wurde und zu dem die drei Studenten ihre Meinung kundtun sollten. Doch statt des Textbuches hatte Uwe erst einmal wieder dieses verführerische Heftchen in der Hand. Ihm war klar, dass er sich hüten musste, sich diese Porno-Schönen sozusagen als Lebensziele einzuprägen. Für ihn stand mittlerweile fest: Er war überhaupt nicht der Typ für diese Sorte Frauen. Von denen hatte bislang nicht eine ihn auch nur angeblickt. Wahrscheinlich war er nicht männlich genug für sie, jedenfalls was das Aussehen betraf. Auf alle Fälle fehlte ihm wohl so eine gewisse Brutalität, auf welche die blonden wie die schwarzen Schönen leider Gottes stehen. Andererseits mochte er es sich nun wirklich nicht auch noch selbst versagen, solche absolut attraktive Frauen wenigstens auf Fotos intensiv anzusehen, zumal, wenn sie sich freizügig im Adamskostüm präsentierten.
Nachdem Uwe dergestalt erst einmal Zeit verplempert und es immerhin geschafft hatte, sich nicht schon wieder vom Anblick einer papiernen Nackten in geile Verzweiflung treiben zu lassen, wühlte er sich in den Text des Stückes. Der Chefdramaturg hatte mit dem Stichwort „Geschwätzigkeit“ eine gewisse Orientierung vorgegeben. Alsbald fanden sich tatsächlich immer wieder Stellen im Text, wo die agierenden Gestalten über einen geringfügigen Sachverhalt mit einer Ausführlichkeit palaverten, die der Zügigkeit der Handlung ganz zweifellos abträglich war. Uwe machte seine Striche und war nach gut zwei Stunden ausgesprochen zufrieden mit sich. Er sah sich gerüstet für den Vergleich mit Christa und Ursula, der bei einem nachmittäglichen Treffen im Quartier von Christa in Krumme Lanke stattfinden sollte. Uwe machte sich freilich nicht auf den Weg, ohne vorher das heiße Papier mit den noch heißeren Damen sorgfältig zu verstecken.
Die U-Bahn-Fahrt erwies sich als ziemlich zeitaufwendig. Viele Stationen, viele Kurven. Und bei recht hohen Temperaturen nicht unbedingt ein Vergnügen. Schmuckes Grün dann rings am Bahnhof, eine schöne, ruhige Ecke Berlins offenbar. Christa war in der Karl-Hofer-Straße bei Verwandten untergekommen, und Uwe hatte wenig Mühe, das Haus zu finden. Sie begrüßte ihn locker, und er registrierte sofort, dass sie sich offenbar allein in der Wohnung aufhielt. In ihrem mit Schlafcouch, zwei Sesseln, Tisch und Schrank recht praktisch eingerichteten Zimmer hatte sie für drei Personen eingedeckt: Kaffee und Kekse. Auf dem Tisch lag außerdem einsatzbereit das Textbuch.
Es war warm im Raum, und Uwe trat ans offene Fenster. Von da bot sich nicht nur ein schöner Blick ins Grüne, man konnte auch den Weg einsehen, auf dem Ursula kommen musste. Aber sie kam nicht. Also warteten beide. Er am Fenster, sie am Tisch. Seltsame Situation. Austausch von Belanglosigkeiten. Sie fand, er hätte ein hübsches Sporthemd an. Er fand, ihr Zimmer sei hübsch. Anerkennend blickte er sich um. Dabei sah er, dass die Couch fast so einladend disponiert war wie der gedeckte Tisch. Samtenes Kissen auf samtener Decke.
Unvermutet trat Christa zu ihm heran, und zwar näher, als das eigentlich schicklich gewesen wäre. Bitte, es konnte Zufall sein, aber er spürte ihre sich anschmiegende Brust an seinem Oberarm. Was ihn prompt ziemlich in Wallung brachte. Ohne Zweifel: Sie suchte körperliche Nähe! Welch überraschende Herausforderung. Er erstarrte zur Salzsäule. Jetzt keinen Fehler machen! Doch wie reagieren? Erst einmal gab er sich der ungewohnten Empfindung hin. Denn was er da spürte, war kein Papier, sondern eine lebendige Frau! Hatte er zu lange gezögert? Just, als er sich zu einem kühnen Satz aufraffen, als er nämlich sagen wollte: „Schön, dich zu spüren“, trat Christa zurück und schlug vor, schon mal Kaffee zu trinken. Wenn Ursula sich verspäte, sei es ihre Schuld. Resolut nahm sie Platz und schenkte ein.
Uwe verharrte ziemlich benommen am Fenster, überlegte fieberhaft, ohne es sich merken zu lassen. War hier so etwas wie eine sturmfreie Bude?
„Ja, ja, nehmen wir einen Schluck“, sagte er nun möglichst beiläufig, trat zum Tisch und setzte sich Christa gegenüber.
Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass sie unter der dünnen Bluse gar keinen BH trug. Sollte er das als Signal deuten? Ihm blieb keine Zeit, darüber zu grübeln. Sie reichte ihm die Kekse und schaute ihn dabei mit blitzenden Augen an, als biete sie sich selbst. Jedenfalls kam Uwe das so vor. Und auf einmal war er geradezu hilflos. Solche Art, Interesse signalisiert zu bekommen, war ihm neu, und von Christa hätte er derlei nicht erwartet. Sie war eine aufgeweckte und freundliche Frau, durchaus ansehnlich, aber bislang immer leicht distanziert im gegenseitigen Umgang. Offenbar wusste sie im Moment genau, dass Ursula gar nicht kommen würde. Und sie wusste offenbar ebenso genau, dass ihre Wirtsleute für Stunden irgendwo in der Stadt weilten. In derlei Gedanken vertiefte sich Uwe, statt seinerseits sofort gewisse diskrete Signale auszusenden. Er schlürfte den heißen Kaffee, sie knapperte einen Keks. Funkstille.
Ewiges Elend also! Wieder einmal verstand Uwe aus einer potenziell erotischen Situation nichts zu machen! Auch, weil er im Moment ja leider ganz andere Weiber im Kopfe hatte. Vor allem aber, weil Christa ihm letztlich nicht so verführerisch schien, dafür alle nun einmal leider mit einem Beischlaf verbundenen Risiken einzugehen. Gewiss, er hätte sie nicht gleich heiraten müssen. Das war noch das geringste Problem. Doch nebenher mal schnell eine Frau zu vögeln und dann zur Tagesordnung überzugehen, als sei nichts gewesen, das war einfach nicht in seinem Kalkül. Doch was noch gewichtiger war: Er hatte keinen Gummi bei und außerdem noch gestern kostbare Ladungen einfach vergeudet. Welch eine Schande, wenn er hier einen verführerischen Mann mimen und dann kläglich versagen würde! Was wiederum nicht unbedingt eintreten musste. Und außerdem: Warum, zum Teufel, sagte sie nicht einfach: „Komm, schlaf mit mir!?“
Christa riss ihn aus seinen Gedanken. Sie blätterte ihr Textbuch auf, nun wieder die spröde Sachlichkeit in Person. Ihre Beziehung, die noch eben eine ganz überraschende Wendung hätte nehmen können, pendelte sich wieder auf Normalität ein. Beim nun folgenden Vergleich der unterschiedlichen Vorschläge für Streichungen des Textes stellte sich alsbald heraus, dass sie merklich rigoroser gewesen war als Uwe. Sie gab das zu, beharrte aber auf ihren Überlegungen. Uwe war nicht erpicht darauf, mit ihr zu debattieren und sich unnötig in geistige Unkosten zu stürzen. Er ahnte, dass sie zu einer Beschäftigung veranlasst worden waren, für die sich letztlich niemand ernsthaft interessieren würde; denn die Proben am Theater liefen ja längst. Der Regisseur würde nicht bereit sein, wegen ihrer Striche eine neue Diskussion vom Zaune zu brechen.
Nachdem die zwei denn also ihre Strich-Vorschläge bienenfleißig verglichen und dabei alle Kekse aufgefuttert hatten, schien Uwe die Zeit gekommen, sich davon zu machen. Christa hatte keinerlei neue Signale gesendet, jedenfalls nicht solche, die er auch wahrgenommen hätte. Ihn trieb inzwischen ein ganz anderer Gedanke. Ihm war so nebenbei in den Sinn gekommen, den freien Nachmittag zu nutzen, endlich einmal die Linienstraße zu erkunden. Kaum gedacht, befeuerte die Idee seine Neugier. Er hatte es jetzt sehr eilig. Mochte Christa sich wundern, es war ihm gleichgültig.
Eine Stunde später war Uwe - vom Bahnhof Friedrichstraße kommend - in Richtung Linienstraße unterwegs, und das recht unzufrieden. Es war sehr heiß geworden, und sein Unternehmen, ahnte er, eigentlich irgendwie Schwachsinn. Viel naheliegender wäre es gewesen, sich in Richtung Müggelsee auf den Weg zu machen, denn dort, hatte er beim Tanzen in der „Melodie“ erfahren, gab es angeblich neben dem normalen Badestrand einen besonderen Strand für Nudisten.
Den zu besuchen, fand er, hätte eigentlich allererste Priorität haben müssen, insbesondere bei dieser Hitze. Und das wäre wunderbar ganz ohne Badehose möglich gewesen. Allein, der Müggelsee lag weit draußen vor Berlin. Was ihn eigentlich hinderte, war allerdings die Erkenntnis, dass er ja wohl oder übel auch selbst hätte nackt herumlaufen müssen. Das wäre für ein Bad im Wasser gewiss höchst angenehm gewesen, außerhalb jedoch durchaus problematisch. Zu solch demonstrativer Nacktheit, gestand sich Uwe, hätte er nicht den Mut gehabt. So nahm er denn die Hitze in Kauf und trabte weiter.
Inzwischen war er beim Circus Barlay angekommen, der sich auf einem geräumten Trümmergelände einquartiert hatte und mittlerweile sesshaft geworden war. Eine schmucklose niedrige Außenfront mit vier Portalen, darüber in roten Versalien das Wort Barley, und dahinter sichtbar ein hölzerner Rundbau mit Kuppel. Seine Wirtin, erinnerte er sich, hatte jüngst geschwärmt vom Zirkus. Das sei eine tolle Sache für Berlin. Er hingegen spürte wenig Neigung auf Löwen und Elefanten. Er spazierte weiter.
Im Hintergrund nun das frisch herausgeputzte Hotel „Johannishof“, ein schmuckloses Geschäftshaus eigentlich, jetzt vornehm einladend. Doch welche Kontraste! Auf einmal unübersehbar Folgen des Krieges. Uwe war an der Ruine eines ehemaligen Kaufhauses angelangt. Und dort lockte sein Ziel. Nur noch um die Ecke: ein mäßig großer Platz, auf den die Oranienburger Straße und die Linienstraße münden.
Der erste Eindruck: Tristheit. Ein paar Kneipen, zwei Kioske, Straßenbahn-Haltestelle, normaler Großstadtbetrieb. Links drüben die Linienstraße. Uwe schritt hinüber, bog in die Straße ein. Ziemlich trist auch hier. Meist drei Stockwerke hohe, unansehnliche Häuser. Eigentlich eine enge, schmutzige Gasse, fand Uwe und bummelte neugierig weiter. Was hatte er eigentlich erwartet? Er fragte es sich plötzlich und wusste es nicht. Hatte er ernsthaft geglaubt, hier würden am helllichten Tage Dirnen flanieren? Er kehrte um. Hatte er etwas Wichtiges übersehen? Jetzt schaute er sich die Haustüren genau an. Aber auch da keinerlei Anzeichen für irgendeine käufliche Nudität, jedenfalls keines, das er dafür hätte halten können. Nun betrat er eine Kneipe. Biergestank, Zigarettenqualm. Uwe spürte sofort, dass er hier absolut nicht hingehörte. Aber bei der Hitze würde ein Bier gut tun. So hielt er die kritischen Blicke der verknöcherten Alten aus, die da herum saßen. Sich sonderlich umzuschauen, lohnte nicht. Er starrte ins Bier und grübelte.
Hier war nichts zu holen! Welch anregende Aussichten hingegen bei ihm im Koffer in der Dunckerstraße! Plötzlich hatte es Uwe sehr eilig, zur Straßenbahnlinie 46 zu kommen. Sie zuckelte heute besonders langsam, und er ärgerte sich, nicht doch S-Bahn gefahren zu sein. Wenn in ihm der Gedanke an Selbstbefriedigung erst einmal erwacht war, fiel es meist sehr schwer zu widerstehen. Da konnten ihn nur unerwartete äußere Umstände abhalten. Was ihm diesmal nicht widerfuhr. Abends zur Vorstellung dann, diesmal im Maxim Gorki Theater, war er schlaff und dekonzentriert. Die Darsteller hätten wie die Götter spielen können, er hätte es nicht mitgekriegt.
Welch absoluter Anfänger Uwe in Sachen Theater war, wurde ihm schmerzlich bewusst, als er am nächsten Abend im Deutschen Theater die Aufführung von Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ sah. Was da auf ihn einstürmte, hieß ehrlicherweise: Theater neu lernen, Theater neu begreifen! Zu ungewöhnlich, zu überwältigend waren die Eindrücke.
Als der Schlußbeifall verklungen war, blieben die drei erst einmal sitzen. Dieser Moment des Innehaltens war einfach nötig. Dann bat Christa, noch zusammen zu bleiben, noch zu reden. Uwe und Ursula stimmten sofort zu. Im verqualmten Theaterrestaurant fanden sie Platz. Wieder blieb es zunächst still zwischen ihnen. Jeder war noch mit seinen Eindrücken beschäftigt. Schließlich brach Christa das Schweigen. Geradezu kategorisch sagte sie:
„Ab heute, Leute, bin ich Brecht-Anhänger! Mit Haut und Haaren!“
Das war, als hätte sie einen Fehdehandschuh nach Belvedere geworfen; denn dort vertrat Prof. Kuckhoff eine abwartende Haltung. Er kreidete Brecht an, dass seine Courage uneinsichtig bleibt, dass sie aus ihrem Unglück nichts lernt. Brechts Auffassung war, das Publikum solle Erkenntnis gewinnen, nicht die Courage; denn sie könne in ihrer Zeit und unter den Bedingungen des Krieges nichts lernen außer der Kunst zu überleben. Uwe hatte sich mit dieser Problematik immerhin schon so weit beschäftigt, dass er heute hatte nachvollziehen können, worum es in dem Streit ging. Daher stimmte er Christa jetzt ohne irgendwelche Hintergedanken zu und sagte:
„Brecht-Anhänger ist vielleicht gleich bisschen zu weit gegangen, aber ich muss sagen, ja, ich bin auch hingerissen. Eine ästhetisch so vollkommene Inszenierung überzeugt hundertprozentig.“
Nun blickten beide neugierig auf Ursula. Sie zögerte.
„Die Aufführung ist phantastisch, keine Frage“, sagte sie schließlich, „aber deswegen werfe ich doch die klassische Dramaturgie von Aristoteles bis Lessing nicht über Bord.“
„Die Welt verändert sich“, meinte Christa prompt, „auch das Theater“.
„Da bin ich nicht so gläubig“, konterte Ursula.
„Ist das eine Frage des Glaubens?“ fragte Uwe.
„Nein, eine Frage des Wissens!“ konstatierte Christa.
Für einen Moment schien es, als kämen sich Uwe und Christa an diesem Abend doch noch nahe. Aber das geschah nur bezüglich ihrer Statements. Nachdem die ausgetauscht worden waren, lösten sich ihre Positionen wieder in Alltäglichkeit auf. Es war ohnehin Aufbruch angesagt; denn das Restaurant schloss zur Mitternacht.
Als Uwe wenig später beim Umsteigen im Bahnhof Gesundbrunnen an dem bestimmten, zur dieser Zeit geschlossenen Kiosk vorbei kam, fällte er kein gutes Urteil über sich. Ist der Mensch grundsätzlich nicht lernfähig? Etwa gar, weil nach wie vor die Triebe eines Tieres in ihm herrschen? Uwe kroch ins Bett ohne nachzuschauen, ob das heiße Papier noch an Ort und Stelle war.