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NORWEGEN.

WENN DIE ZEIT STILL STEHT

Claus Reitmaier wird in Norwegen zum besten Torwart der Liga gewählt – mit 41 Jahren

„Ich habe als Manager von Lillestrøm Claus Reitmaier nach Norwegen geholt, da ist er mit fast 105 Jahren noch Torwart des Jahres in Norwegen geworden.“

(Jan Åge Fjørtoft zum Online-Magazin torwart.de)

Was für ein schöner Angriff: ein Doppelpass auf dem rechten Flügel, eine Flanke in den Strafraum und ein passender Abnehmer für diese Vorlage: Kristofer Hӕstad, 22, Nationalspieler, steht fünf Meter vor dem Tor und hält den Fuß hin. Der Ball fliegt flach ins linke Eck. Gleich wird er jubeln, gleich steht es 1:1 im Spiel zwischen Lillestrøm SK und Start Kristiansand.

Aber im Tor von Lillestrøm steht Claus Reitmaier, 41. Er schnellt wie ein Tipp-Kick-Torwart nach unten und wischt den Ball mit der rechten Hand von der Linie.

Es scheint, als stehe die Zeit still. Es ist ein großer Moment im Fußball, und es ist egal, dass es Lillestrøm ist und nicht Barcelona; dass es Reitmaier ist und nicht Casillas. Es ist ruhig im Stadion, einen Augenblick lang. Dann wird es sehr laut – die Fans von Lillestrøm jubeln, und sie skandieren den Namen ihres deutschen Torhüters: „Reitmaiär! Reitmaiär!“

Lillestrøms Manager Jan Åge Fjørtoft sagte nach dem Spiel, dies sei „die beste Rettungsaktion gewesen, die ich je gesehen habe“. Alle redeten über Reitmaiers Tat, und irgendwann sagte einer, er habe schon einmal so eine Parade gesehen: von Gordon Banks, dem legendären Torhüter der englischen Nationalmannschaft. Der Torwart rettete damals gegen Pelé, der noch legendärer war als Banks.

Schütze Kristofer Hæstad sagte nur: „Das war ein Tigersprung.“

Man kann sich den Tigersprung auf Youtube ansehen, unter „nice save by Claus Reitmaier!“. Mehr als 33.000 Menschen haben sich bereits angeguckt, was da an jenem Juliabend im Jahr 2005 geschah, und wer Norwegisch spricht, kann auch den Original-kommentar des Reporters verfolgen. Er ist außer sich, er spricht von einer „Kanonräddning av Reitmaier“. Kanonräddning – das ist eine Supertat, die Rettungsaktion eines Supertorwarts.

Claus Reitmaier hat damals in einem Hotel in Lillestrøm gewohnt, er flog nach den Spielen heim nach Mönchengladbach, wo die Familie lebte, und kehrte zwei Tage später nach Norwegen zurück. Die Fans wollten, dass er ganz in ihr Land kommen sollte, dass er blieb, dass er auch noch mit 42, 43 oder 44 Jahren für Lillestrøm spielte. Die Fans wollten Reitmaiers damaliger Freundin eine Schifffahrt auf der Hurtigroute schenken – damit sie sieht, wie schön Norwegen ist, damit sie mit ihm und den Kindern in den Norden zieht. Auch ein Haus wollten sie der Familie zur Verfügung stellen. Claus Reitmaier fühlte sich geschmeichelt. „Aber das hatte keinen Sinn“, erzählt er, „Heinz Müller war dort auch unter Vertrag, das sollte ihm nicht von einem über 40-Jährigen kaputt gemacht werden.“ Reitmaier kehrte nach der Saison heim nach Deutschland und beendete seine Karriere. Einmal kam er noch zurück nach Lillestrøm. Dazu später.

Ron-Robert Zieler hat einmal gesagt, er schätze Jens Lehmann höher ein als Oliver Kahn; weil Lehmann kompletter gewesen sei. Über Kahn sagte er immerhin, dieser sei „der beste Linientorwart der Welt gewesen“.

Claus Reitmaier war auch ein Linientorwart. Vielleicht war er auf dem Kalkstreifen zwischen den Pfosten sogar noch stärker als Kahn – weil er so reaktionsschnell gewesen ist. Manchmal war er schneller als sein Schatten. Dennoch ist er kein großer Torwart geworden wie Kahn oder Lehmann, nicht in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Claus Reitmaier hat 335 Bundesligaspiele bestritten, aber er hat keine Titel gewonnen. Er hat nie für Spitzenteams gespielt, sondern für Karlsruhe und Wolfsburg, für die Stuttgarter Kickers und für Kaiserslautern – und für Gladbach, als es Gladbach schlecht ging. Reitmaier wurde nie in die Nationalmannschaft berufen. Zweimal sei er nahe dran gewesen, sagt er: vor der EM 1992 und vor der EM 1996. Es wurde jeweils ein dritter Torwart gesucht. 1992 wurde es nichts, weil Reitmaier mit den Stuttgarter Kickers abstieg. Wer nimmt einen Zweitliga-Torwart mit zu einer EM? Und 1996 wurde ihm Oliver Reck vorgezogen. „Ich wurde in eine Schublade gesteckt“, sagt er, „ich galt als schlechter Fußballer und als schwach bei Flanken.“ Beides sei seiner Meinung nach nicht richtig. Mitspieler, erzählt Reitmaier, hätten oft zu ihm gesagt, er sei nicht schlechter als Kahn oder Lehmann. „Aber ich hatte in der Öffentlichkeit nicht die Wertschätzung, die ich unter Kollegen hatte.“

Ein Journalist der Süddeutschen Zeitung hat Reitmaier einmal gefragt, wie er seine Karriere beurteilen würde. Er hat „beschissen“ geantwortet. Vermutlich war er damals enttäuscht, weil es nicht mehr weiterging in der Bundesliga, weil er abgeschoben wurde wegen seines hohen Alters. Das „Beschissen“ will er heute nicht mehr wiederholen. Er sagt stattdessen, er sei „nicht zufrieden“ mit seiner Karriere.

Claus Reitmaier hat seinen Ruf nie korrigieren können, er wurde nicht Nationalspieler und nicht Bundesliga-Meister, und irgendwann blieb ihm nur noch ein Ziel, ein Titel: ältester Torwart der Bundesliga zu werden. Das ist Uli Stein mit 42 Jahren und fünf Monaten. Reitmaier hat es nicht geschafft, weil sie ihn erst in Wolfsburg nicht mehr haben wollten und dann in Gladbach auch nicht mehr. Zu alt, hieß es in Wolfsburg. Über sein Ende in Gladbach, er war damals 40, rätselt Reitmaier heute noch. Er hätte dort so gerne noch weitergespielt, er liebte die Borussia, seit er ein Kind gewesen ist.

Claus Reitmaier ist in den siebziger Jahren in Würzburg groß geworden. Damals war man entweder Fan von Bayern München oder Anhänger von Borussia Mönchengladbach. Gladbach stand für schönen Fußball, ein 4:3 war den Fohlen lieber als ein 1:0, im Mittelfeld spielte Günter Netzer und im Tor stand Wolfgang Kleff. Viele liebten die Borussia für ihren freien, mutigen Fußball, aber Gladbach stand auch für ein Scheitern in letzter Sekunde. Reitmaier, der Romantiker, war Gladbach-Fan. Er stand im Tor des FV Würzburg 04 und träumte von der Bundesliga. Es wurde erst die Amateurliga (mit den Würzburger Kickers), dann die zweite Liga (mit Viktoria Aschaffenburg) und schließlich die erste Liga, aber die österreichische, er spielte für den Wiener Sportklub. Dort wollten sie ihn einbürgern und zur Nummer eins im Nationaltor machen, aber man wurde sich nicht einig über einen neuen Vertrag und über das mit der Einbürgerung. Reitmaier ging und sagte: „Lieber arbeitslos als Österreicher.“ Er kam bei den Stuttgarter Kickers unter und erst da, mit 27 Jahren, begann seine Karriere in der Fußball-Bundesliga. Sie endete mit 40, bei seinem Herzensklub Borussia Mönchengladbach.

Reitmaier verstand das nicht, er sagte damals, er spüre sein Alter nicht. „Ich bin nicht langsamer geworden, ich bin nicht verletzungsanfällig geworden, und mir tun die Knochen nicht weh, wenn ich morgens aufstehe – alles ist wie früher.“ Nur dort, wo er gerne spielen würde, in der Bundesliga, hörte das keiner mehr.

Blieben die zweite Liga und das Ausland. Beim Zweitligisten Erfurt kündigte er nach acht Monaten, weil ihn die eigenen Fans beschimpften; sie warfen ihm vor, er würde sich nicht mit dem Verein identifizieren; er würde immer noch zurück wollen in die Bundesliga. Reitmaier war 41 Jahre alt und arbeitslos. Er saß zu Hause in Mönchengladbach, joggte mit seiner Freundin, spielte mit seinem einjährigen Sohn und wartete darauf, dass sich noch einmal ein Verein bei ihm melden würde. Es traf sich, dass mehr als 1.000 Kilometer weiter nördlich ein Klub einen Torwart suchte. Bei Lillestrøm SK hatte sich Heinz Müller, ebenfalls ein deutscher Keeper, die Hand gebrochen. Trainer Uwe Rösler, noch ein Deutscher, und der fröhliche Manager Fjørtoft, der früher bei Eintracht Frankfurt spielte, riefen Reitmaier an, und der Veteran, der zuvor nie in Norwegen gewesen war, kam nach Lillestrøm.

Claus Reitmaier denkt gerne an die Zeit in Norwegen zurück. „Santa Claus“ nannten sie ihn dort, oder? Reitmaier lächelt. Ja, er erinnere sich auch noch sehr gut an seinen Spitznamen in Norwegen: „Ich hieß Santa Claus, weil ich die Fans immer reichlich beschenkt habe mit meinen Paraden.“ Er lächelt noch einmal, er denkt nach, offenbar läuf ein Film in seinem Kopf, dann sagt er: „Die haben sich damals immer total gefreut, wenn ich aufs Spielfeld gelaufen bin, sie haben mich gefeiert.“ Mit Santa Claus. Mit Reitmaiär, Reitmaiär.

Was Claus Reitmaier am Ende in Deutschland zum Verhängnis wurde, sein Alter, half ihm hier. „Klar, das spielte bei der Popularität eine Rolle.“ Er hatte die 41 auf dem Rücken stehen: sein Alter. Auch dazu gibt es eine schöne Geschichte. Die Vier von 41 hing etwas seitlich neben der Eins, das lag daran, dass sie ihm, als er einsprang, Heinz Müllers Trikot mit der Eins gegeben hatten – und die Vier einfach vor die Eins klebten.

Schon vor dem Match gegen Start Kristiansand hatte er gute Spiele gemacht, etwa zu Hause gegen Vålerenga Oslo, es war ein Derby, denn Lillestrøm liegt nur wenige Kilometer von Norwegens Hauptstadt entfernt. „Es ist das größte Derby in Norwegen“, sagt Reitmaier, „und vor diesem Spiel hatte Lillestrøm fünf Jahre lang nicht gegen Vålerenga gewonnen.“ Diesmal gewann Lillestrøm. Weil Reitmaier gut hielt und weil der ehemalige Lauterer Michael Mifsud kurz vor Schluss das 2:1 erzielte.

Oder das Spiel in Trondheim. Dort hatte Lillestrøm mehr als 25 Jahre lang nicht gewonnen. Kein Wunder, Rosenborg Trondheim war ein Dauer-Meister, ein Champions-League-Teilnehmer, Norwegens Vorzeigeklub. Aber Lillestrøm gewann 2:1, und Claus Reitmaier hielt einen Elfmeter. „Er schoss sehr gut“, schrieb Reitmaier später auf der Fanpage des Klubs, „aber ich war im richtigen Eck und hielt. YESSSSSS! Kurz vor Schluss schoss Arild das 2:1, und wir gewannen das Spiel nach Jahren! Was großartig war, besonders für die Fans. Jeder kam zu mir und sagte mir, was es für die Leute bedeutete! Ich war so glücklich, ein Teil davon zu sein!“

Er war jetzt ein halber Held. Zum ganzen, zum großen Helden wurde er wenig später gegen Start Kristiansand. Dabei sollte er dieses Spiel gar nicht mehr machen.

Eigentlich hatte Claus Reitmaier nur für sechs Wochen in Lillestrøm unterschrieben, als Ersatz für den verletzten Heinz Müller. Die sechs Wochen waren um. Außerdem war Müller wieder fit. Doch Manager Fjørtof sagte zu Reitmaier: Bleib bis zum Ende der Saison. Und Reitmaier blieb, weil es so gut lief, weiterhin Mitglied im Lillestrømer „Spillerstall“, wie der Kader in Norwegen heißt.

Aber vor dem Spiel gegen Kristianstad ging es erst einmal in den Urlaub. Auf der Fanpage von Lillestrøm schrieb er: „Weil ich meine Familie so schnell verlassen hatte (als er spontan für Müller einsprang, Anm. d. Autors), erlaubte mir Uwe (Rösler), zwei Wochen Urlaub zu machen. Die Mannschaft bekam nur eine Woche, und sie trainierte die ganze Woche vor dem Spiel gegen Start. Ich kam erst am Freitag vor dem Spiel aus Spanien zurück, flog am Samstag nach Norwegen und – sehr gut für mich – wir spielten erst am Montag, so dass ich zweimal mit der Mannschaft trainieren konnte.“

Aber würde er gegen Start Kristianstad auch spielen?

Heinz Müller war wieder gesund, der gute Müller, der heute in der Bundesliga für Mainz 05 spielt. „Bis zum Spieltag wusste man nicht, wer spielt“, erinnert sich Reitmaier. „Heinz rechnete natürlich damit, dass er zurückkehrt.“ Schließlich war er die Nummer eins, bevor Reitmaier kam, schließlich war Reitmaier schon 41, ein Fußball-Opa also, und schließlich hatte Reitmaier zwei Wochen Urlaub gemacht. Es kam anders. „Wir hatten erst Mittagsruhe“, erzählt Claus Reitmaier, „danach war im Hotel eine Besprechung, und da sagte Trainer Rösler, dass ich spiele. Bei der zweiten Besprechung im Stadion war Heinz dann nicht mehr da.“ Das hatte sich schnell herumgesprochen, Journalisten erfuhren es, und schon am Nachmittag stand auf den Online-Seiten der Zeitungen Dagbladet oder Atf enposten: „Skandal! Müller haut ab, weil er nicht spielt!“


Claus Reitmaier im Juli 2005.

Foto: imago

Claus Reitmaier weiß nicht, was damals wirklich geschah. „Heinz hat gesagt, er habe die Abfahrt zum Stadion verpasst.“ Tatsächlich kam der Ersatztorwart später nach, er saß dann auch auf der Bank – und sah den Tigersprung seines Konkurrenten.

Nach dem Spiel gegen Start Kristiansand saß Reitmaier entspannt in seinem Hotel in Lillestrøm, er trank eine Fanta und aß einen Apfel. Er genoss das Lob, und er sagte, dass es gerade diese Spiele seien, wegen denen er mit 41 Jahren, wenn andere schon Brillen mit Gleitsichtgläsern tragen, immer noch nicht aufhören will: Spiele, die er für seinen Verein entscheiden kann. In denen er zeigen kann, dass er schneller reagiert als andere Torhüter.

Manager Fjørtoft sagte, Reitmaier könne selbst entscheiden, wann er gehe. „Er kann so lange bleiben, wie er will.“ Er ging dann im November 2005, nach einem Pokalfinale gegen Molde FK. Reitmaier hatte noch nie einen Titel gewonnen, nun konnte es so weit sein, endlich. Mit 41.

Claus Reitmaier hat seine Gefühle auf der Fanpage von Lillestrøm SK niedergeschrieben: „Beim Aufwärmen war ich in einer so großartigen Form. Kjell (der ihn warm schoss, Anm. d. Autors) konnte kein einziges Tor gegen mich erzielen, ich war wirklich großartig und ich dachte: Gut, das brauche ich für mein wirklich letztes Spiel. Ich wusste, dass ich keinen anderen Vertrag mehr unterschreiben würde, und dies würde das Ende sein, mit einem Pokal in meinen Händen! Ich war so sicher, dass wir gewinnen würden! In meinem letzten Spiel mein erster Titel!“

Claus Reitmaier irrte sich. „Sie waren viel, viel besser“, schrieb er. „Und das Schlimmste war, ich konnte keine Rettungstat für die Mannschaft machen. Das 1:0 war eine Eins-gegen-eins-Situation, und beim 2:0 nach einer Ecke stand kein Mitspieler am kurzen Pfosten und ich sah nur ihren Stürmer. Ich wusste, dass ich den Ball nicht vor ihm bekommen konnte, aber ich versuchte, nahe an ihn heranzuspringen, um den Ball zu blocken, aber es gelang nicht und er traf. Irgendwie schossen wir kurz vor Schluss zwei Tore und ich war so sicher, dass wir das Spiel vor der Verlängerung gewinnen würden. Aber sie erzielten zwei schnelle Tore und mein Traum war vorbei, was für ein schlechter Tag. Und das war die Krönung meiner Karriere: Ich hatte nie Glück! Deshalb gewann ich nie einen Titel … Es tat mir so leid für uns und für die Fans, aber am Ende will ich jedem einzelnen Fan in Norwegen danken, dass sie mir so einen guten Abschluss meiner Karriere beschert haben.“

Doch er kam noch einmal zurück, im Juni 2006.

Reitmaier war nun 42 Jahre alt, ein Engagement bei Mainz 05 war daran gescheitert, dass er während der laufenden Saison keine Spielgenehmigung erhalten hatte. Lillestrøm hatte damals, im Juni 2006, wieder ein paar Verletzte und nur einen gesunden Keeper, sie brauchten einen, der sich zur Absicherung auf die Bank setzte. Also half Reitmaier noch einmal aus. Er hatte ein halbes Jahr nicht trainiert, er hatte nur Waldläufe gemacht mit seiner damaligen Freundin, und Trainer Rösler sagte: Lass es langsam angehen. „Aber ich habe mich sofort reingehauen“, erzählt Reitmaier, „ich wurde nicht müder vom Trainieren, sondern frischer und schneller.“ Würde er vielleicht doch spielen? Nicht nur auf der Bank sitzen?

Als die Nachricht nach Lillestrøm drang, dass Santa Claus noch einmal zurückkehren würde, waren die Fanforen voll mit Einträgen – und der Forderung, er solle wieder die Nummer eins sein und Spiele retten. Wie damals gegen Kristiansand. Und wenn nicht: Einen tollen Empfang wollten sie ihm bereiten, egal, ob er spielte oder nicht. Sie wollten Lieder einstudieren, ein paar Titel hatten sie schon, etwa: „Santa Claus kommt in die Stadt“ oder: „Seht, dort tanzt der Großvater“. Sie hatten ihn schon bei seiner ersten Zeit in Lillestrøm nicht nur „Santa Claus“ genannt, sondern auch „Großvater“, liebevoll natürlich. Alle fanden die Idee gut, ihn zu besingen, nur einer meinte: „Vielleicht ist die Zeit zu kurz, ein ganzes Lied einzustudieren.“ Er hatte wohl recht, ein Lied wurde es nicht, aber ein ganz großer Empfang. Als Claus Reitmaier das Åråsen-Stadion betrat, wurde es laut, ganz laut: „Reitmaiääääär!“, „Santa Clauuuus!“, „Großvateeeer!“

„Die Leute sind fast durchgedreht“, erinnert sich Reitmaier. Er spürte die Zuneigung nicht nur im Stadion. Claus Reitmaier wohnte im Hotel, er lief ein paar Mal durch die Stadt, aber er kam nie weit. Die Leute hielten ihn an, „jeder hat mich angesprochen“, sagt er.

Natürlich war es anders in Norwegen. Anders als in der Bundesliga. „Die meisten Stadien waren schon auf dem Niveau des deutschen Profifußballs“, erzählt Claus Reitmaier, „aber zwei, drei waren dabei, die waren wie ein Dorfspielplatz.“ Hamar zu Beispiel.

Hamar ist zwar die größte Binnenstadt Norwegens, was sich zunächst recht bedeutend anhört; es gibt dort auch eine Universität. Aber Hamar, das 130 Kilometer nördlich von Oslo liegt, hat nur knapp 30.000 Einwohner, und der hiesige Fußballverein hat bislang noch nicht viel erreicht: einmal, 1970, ein dritter Platz in der Liga, ein paar Mal im Halbfinale des Pokal-Wettbewerbs. Der Verein wird in Norwegen HamKam genannt, das ist die Abkürzung für Hamarkameratene – zu Deutsch: die Kumpel von Hamar.

Die Kumpel von Hamar empfingen Lillestrøm SK mit Claus Reitmaier im Spätsommer 2005. „Die Zuschauer lehnten an einer Stange hinter dem Tor“, erinnert sich Reitmaier, „das Vereinsheim war ein paar Meter dahinter.“ Reitmaier hätte sich, wenn er gewollt und sie verstanden hätte, mit den Zuschauern hinter seinem Tor unterhalten können.

„Es gab aber auch schöne Stadien“, sagt er, „in Stavanger zum Beispiel oder in Tromsø.“ Tromsø ist die nördlichste Universitätsstadt der Welt, sie liegt jenseits des Polarkreises. Im Sommer wird es dort nie dunkel und im Winter nie hell. Reitmaier weiß das, aber er hat es nicht erlebt. „Wir sind leider nicht über Nacht geblieben“, sagt er.

Er liebte nicht nur die Fans von Lillestrøm, er mochte auch die anderen, die in Stavanger, Tromsø oder Hamar. Denn sie waren nie beleidigend. „Sie waren fanatisch, aber fair“, sagt er, „und sie sangen das ganze Spiel, fast wie in England.“ Und sehr viele Fans von Lilles trøm haben ihre Mannschaft bei den Auswärtsspielen begleitet.

Und noch etwas war wie in England: Die Torhüter wurden bei Flanken stärker angegangen als in Deutschland. „Einmal kam ein hoher Ball in den Strafraum“, schrieb Reitmaier auf der LSK-Fanpage, „und ich sprang mit angezogenem Knie hoch, um ihn zu fangen – und Iversen rannte in mich rein. Meiner Meinung nach war das ein Foul, ich war überrascht, dass der Schiedsrichter zu mir kam und sagte, ich solle vorsichtig sein, was ich täte. So merkte ich, dass die Torhüter nicht so geschützt werden wie in Deutschland – aber es war eine gute Erfahrung.“

Die Torhüter wurden auch bei Rückpässen stark unter Druck gesetzt. Reitmaier machte eines seiner ersten Spiele, es ging gegen Vålerenga Oslo, „da sind bei jedem Rückpass die Stürmer auf mich draufgegangen, zwei, drei Mann sind im Vollsprint auf mich zugerannt – ich hatte keine Sekunde Zeit. Das war 90 Minuten Forechecking. Das hatte ich zuvor in meinem ganzen Leben nicht erlebt.“ Auch im Training wurde „immer Vollgas gegeben“, sagt Reitmaier, „die Jungs hatten eine super Einstellung, die sind marschiert wie verrückt“.

„Die norwegischen Spieler wollen alle nach England, nicht nach Deutschland“, sagt er. Spieler und Fans schauen die Premier League im Fernsehen, nicht die Bundesliga, Rooney und Lampard sind Kabinengespräch, nicht Schweinsteiger oder Lahm. „Ich weiß auch gar nicht, ob die mich kannten, als ich nach Lillestrøm kam, aber die meisten waren dann wohl überrascht, was ich brachte.“

In Lillestrøm hat man Santa Claus nicht vergessen. Noch heute bekommt er Post aus Norwegen – auf seiner Homepage und auf Facebook findet er Sprüche, sie sind immer voll von Respekt und Zuneigung. Vor drei Jahren machten die Fans ein Quiz, in dem gefragt wurde, wann Santa Claus sein erstes Spiel für LSK gemacht hatte, und 2011 hat Lillestrøms isländischer Nationaltorwart Stefán Logi Magnússon in einem Interview mit dem Fanportal lsk.no gesagt, er sei jetzt in einem fortgeschrittenen Alter und sehe sich „als Mentor, wie es Claus Reitmaier mal gewesen ist“.

PS: Im Oktober 2011, im Alter von 47 Jahren, hat Claus Reitmaier noch einmal einen Vertrag als Torwart (und Torwart-Trainer) unterschrieben: beim SV Halstenbek-Rellingen in der Oberliga Hamburg. In den ersten vier Spielen hielt er zwei Elfmeter. Ein Jahr später, im Herbst 2012, baten die Halstenbek-Rellinger ihn nochmals, als Torwart auszuhelfen – wie damals in Lillestrøm.

Die unhaltbare Pudelmütze

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