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Sonntag, 10. Juli, 8.57 Uhr. Flugplatz.

Jade hasste sein Grinsen. Jade hasste die Lässigkeit, mit der Al der Cessna einen Klaps gab und Sekunden später auch ihr. Und sie hasste die Vorstellung, dass Beatrix ebenso bedacht wurde, sobald Jade ihnen den Rücken zudrehte, und dass Beatrix dabei quiekte wie ein … egal. Das Schlimmste war, dass sie selbst so gequiekt hatte. Das war nun vorbei. In sehr naher Zukunft hatte es sich ausgequiekt, für alle drei. Oder genauer für alle vier, falls der vierte Passagier endlich kam.

Al Mandin, der Pilot. Der Held. Das Schwein. Sie war ihm freiwillig gefolgt und für kurze Zeit hatte sie geglaubt, ihre Flucht hätte ein Ende, Weißenhall wäre vergessen, die Behörde weit weit weg. Und die Hölle, zu der alles von dem Tag an wurde, als sich die Tür öffnete und diese gebückte Gestalt ihr Büro betrat. Genauer das Büro ihres Chefs, der ihr gegenüber hinter dem größeren Schreibtisch saß. Jade erinnerte sich sogar an das Datum. Montag, 4. April.

„Kronk“, stellte sich die Gestalt vor, „Graf Diopsid Kronk.“

Jade hatte ihn auf der Stelle erkannt. Er steuerte direkt auf Heribert Meier zu, ohne von ihr Notiz zu nehmen. Modriger Altmännergeruch wehte ihm nach. Es ginge um dieses Projekt, die Operation Bergfrieden, Meier wisse ja Bescheid. Warum es so lange dauere. Ob es Probleme gäbe.

Der Graf hatte Jade seinen gekrümmten Rücken zugewandt, während er ihren Chef mit rasselndem Wortschwall überschüttete. Jade spürte, wie die Narbe auf ihrer linken Wange mit jedem seiner Worte dunkler glühte. Da stand er zum Greifen nahe. Diopsid Kronk! Jades linke Hand umklammerten den Brieföffner, ein Geschenk ihrer Urgroßmutter. Den jetzt in diesen Rücken rammen! Jade vernahm Kronks schnarrende Stimme wie aus weiter Ferne, als hallte sie in einem unendlichen Raum.

„… kann die Stadt Weißenhall an den Einnahmen beteiligt werden, wenn die Fässer von einem Firmen-Konsortium unter meiner Führung zum Salzstock transportiert werden.“

Meier stammelte irgendwas von einem Planfeststellungsverfahren, das noch nicht abgeschlossen sei. Jade starrte ihn fassungslos an. Was hatte sie in den letzten zwei Monaten verpasst?

„Ich gehe davon aus, dass Sie recht bald die Eignung der Helldor-Stollen bestätigen werden.“ Kronk klang sehr sicher. „Sie tun damit nicht nur sich selbst einen großen Gefallen, sondern auch dem Herrn Forestier, wenn Sie verstehen.“

Jade sah Meier so eifrig nicken, dass ihm die Lesebrille von der kurzen Nase rutschte, während Kronks Rücken vor Zufriedenheit bebte. Meier schob seine Sehhilfe wieder zurück und warf einen warnenden Blick auf Jades Hand, die sich immer fester um den Brieföffner krallte. Der Graf hatte den Blick bemerkt und drehte sich langsam um. Jade zwang sich ruhiger zu atmen und ihm gerade in die Augen zu schauen.

Falls er sich mit Meier allein geglaubt und jetzt beim Anblick ihres narbigen Gesichts erschrocken hatte, war Kronk das nicht anzumerken. Nur seine Augen rollten, als müssten sie in Sekundenschnelle Jade und die gesamte Umgebung scannen. Seine Lippen bewegten sich unablässig und lautlos und mit ihnen die zerklüftete Nase und der spärliche Bart, der wie Moos an einem modrigen Baumstumpf bis zu seinen erstaunlich spitzen Ohren kroch. Wie bei einem alten Karpfen, der Wasser durch seine Kiemen pumpte.

Schweratmend stützte er sich auf seinen Stock und hob ohne Vorwarnung den linken Arm. Ein gichtgekrümmter Zeigefinger richtete sich auf Jades Hals. Trotz der Entfernung glaubte Jade zu spüren, wie sich der gelbe spitze Nagel in ihre Kehle bohrte.

„Was haben Sie da!“

Die Knöchel von Jades linker Hand traten weiß hervor und der Brieföffner bog sich. Aber sie hielt seinem Blick stand. Ohne zu antworten.

„Die Kugel da.“

Jade war längst klar, dass sich der Finger nicht auf ihr Gesicht, sondern auf ihren Hals richtete, auf die Glaskugel, deren Gewicht sie deutlich auf ihrem Brustbein spürte.

„Wagen Sie es nicht!“

Ein Speichelfaden floss aus Kronks rechtem Mundwinkel.

„Woher haben Sie die?“

Jade schob ihren Stuhl rückwärts bis zur Wand. Sie würde diesem Gnom nicht antworten, und schon gar nicht auf diese Frage.

„Woher?“

Hinter Kronk hatte sich Meier erhoben und kam mit unsicheren Schritten näher.

„Aber Frau von Bronsky, sie können doch dem Herrn Grafen …“

„Fassen Sie mich nicht an!“ Es war genauso scharf herausgekommen, wie Jade es beabsichtigt hatte, und bewirkte, dass Kronk seinen Arm sinken ließ. In seinen Augen stand deutlich Wir sehen uns noch! Jade schüttelte langsam den Kopf. Kronk stieß seinen Stock in den Boden und hinkte zur Tür.

„Narbengesicht.“

Vielleicht hatte Jade sich das Wort nur eingebildet wie vorher den Satz in Kronks Augen. Aber sie zweifelte nicht an ihrem Verstand. Noch nicht.

Sie sah ihn im gelben Licht der Straßenlaterne vor ihrem Haus. Sie hatte die Abendrunde mit Ronja beendet. Ronja knurrte und ihr Nackenfell sträubte sich. Jade hielt die Hündin zurück, beruhigte sie aber nicht.

„Was wollen Sie?“, fragte sie, als sie sich auf Hörweite genähert hatte.

Kronk schien zu lächeln, so weit das mit seinem Gesicht möglich war.

„Eine schöne Kugel haben Sie da.“

Jade sah ihn regungslos an. Man hatte ihm damals nicht nachweisen können, dass er den Unfall verursacht hatte, von dem sie die Narbe als Erinnerung behalten hatte. Daran ist der Graf schuld!, hatte Katarina gesagt. Katarina, ihre Urgroßmutter.

„Ich biete Ihnen eine hübsche Summe, wenn Sie mir …“

„Verschwinden Sie!“, fauchte Jade und in Ronjas Kehle rollte ein drohendes Knurren.

„Halten Sie den Hund fest.“

„Nur so lange ich kann.“ Jade tat, als müsse sie Ronja mit aller Kraft zurückreißen. Sie wartete, bis die gebeugte Gestalt hinter der nächsten Straßenecke verschwand. Dann betrat sie das Haus der Bronskys. Aus dem Zimmer ihres Bruders dröhnte Death Metal, ihr Vater hatte sich wie üblich in seinem Arbeitszimmer verschanzt. Jade füllte Ronjas Futternapf und ging hinauf ins Bad. Vor dem Spiegel nahm sie langsam die Halskette ab, an der die Glaskugel in einem Geflecht aus Silberdraht hing. Diese Kugel hatte sie an einem ganz besonderen Ort gefunden, einem Ort, den Katarina für sie ausgesucht hatte. Und jetzt tauchte der Graf auf und bot ihr Geld dafür. Eine hübsche Summe. Und machte einen Deal mit Meier. Was war geschehen in den zwei Monaten, die sie außer Gefecht war.

Jade beschloss, die Kugel zurück in Katarinas Versteck zu legen. In den Bauch des Bären Bramabas.

Für den nächsten Morgen hatte sie sich vorgenommen, Meier zur Rede zu stellen. Gestern, nach Kronks Auftritt im Büro, hatte es ihr Chef sehr eilig gehabt, aber heute würde er ihr antworten müssen. Doch Meier kam ihr zuvor. Er habe sie schon lange informieren wollen, eröffnete er ihr, als sie gegen neun das Büro betrat, aber aus Rücksicht auf ihre Krankheit … Meier lächelte nachsichtig. Die Operation Bergfrieden sei ein Teilbereich eines umfassenden Projekts namens Helldor 21, dessen Leitung und Organisation man „von höchster Stelle“ in seine Hände gelegt habe. Hierbei streckte Meier seine Hände vor, als ob Jade seinen Ausführungen sonst nicht folgen könne. Es ginge um die Einlagerung spezieller Abfälle in dem seit langem stillgelegten Salzstock.

„Sie kennen den Stollen.“

Sicher kannte Jade den Helldor-Stollen.

„Was hat Kronk damit zu tun?“

Nichts, erklärte Meier. Der Graf habe Helldor lediglich als idealen Ort für die Einlagerung vorgeschlagen. Dankenswerterweise. Und einen Firmen-Verbund gegründet, der alle wichtigen Aufgaben und Arbeiten im Zusammenhang mit Helldor 21 übernehmen könne. Ideal sozusagen. Sicher müsse man ein Projekt dieser Größenordnung europaweit ausschreiben, aber Kronks Konsortium habe beste Aussichten, den Zuschlag zu bekommen. Und jetzt, schloss Meier mit einem wichtigen Blick auf seine Armbanduhr, habe er einen Termin beim Bürgermeister.

Jade blieb hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Über ihrem Kopf hing eine vergrößerte Fotografie des schiefen Turms von Pisa, die Meier noch nie hatte leiden können. Eben deshalb mochte Jade sie nicht abnehmen. Lange starrte sie auf die geschlossene Bürotür.

kobold: hi ich bins

Ela hatte fast schon den merkwürdigen Chat vom Sonntag vergessen. Wie beim ersten Mal war es kurz vor Mitternacht, als sich kobold einloggte.

kobold: habt ir schon was unternomen?

Was wollte der Typ?

MissVerständnis: worum gez

kobold: operazion bergfrieden

MissVerständnis: ?

kobold: helldor wird das neue asse

Ela zögerte. Entweder war das ein Spinner, oder …

MissVerständnis: wer sagt das

kobold: ich

Ein Spinner, eigentlich mehr als klar.

MissVerständnis: wer ist ich

Das Fenster wurde geschlossen, kobold hatte sich verpixelt. Aber es gab ein paar Experten bei den WAAMPIREn, die seine IP-Adresse rauskriegen konnten. Falls Ela sich entschließen sollte, kobold so ernst zu nehmen, dass sie die Experten informierte. Danach sah es nicht aus.

Nebenan wurde eine Zimmertür geschlossen, ihr Vater ging zu Bett. Elas Mutter war fort. Sehr weit fort, hatte Papa gesagt, sie wird nicht zurückkommen. Die Erinnerung an Charlotte war beinahe verblasst. Ela machte in einem Jahr Abitur. Solange würde sie in Weißenhall bleiben, bei ihrem Vater. Außerdem hatte Ela hier ihre Leute.

Ela fuhr den Rechner runter und löschte das Licht.

Jasper Reineke war Bürgermeister von Weißenhall Er lag auf seinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Am Nachmittag hatte er ein längeres Gespräch mit Heribert Meier geführt, dem Projektleiter von Helldor 21. Alles lief reibungslos, niemand hatte Einwände angemeldet. Herzliche Grüße von Forestier. Jasper Reineke war erleichtert. Da konnte der Kerl ruhig wiederkommen. Der mit dem Wolfsgesicht.

Für Jade war es kein Problem, die entsprechenden Unterlagen einzusehen. Als Meiers Sekretärin hatte sie freien Zugang zu den meisten internen Akten, oder sie wusste, wo sie suchen musste. Bis zum nächsten Montag hatte sie herausgefunden, um welche Art „spezieller Abfälle“ es bei Helldor 21 tatsächlich ging. Um schwach und mittelstark strahlenden Atommüll, der in dem 1911 stillgelegten Salzstock Helldor verschwinden sollte. Meier war mit der Koordination und Ausführung beauftragt worden. Jade fand ein Schreiben des Bundesumweltministeriums, in dem man großes Interesse an dem Projekt bekundete. Unterzeichnet war es mit dem charakteristisch unleserlichen Schriftzug von Edouard Forestier, dem seit der letzten Wahl zuständigen Minister. Angeblich war Helldor schon früher im Gespräch gewesen, doch man hatte 1967 den Salzstock Asse bei Braunschweig vorgezogen, den die GSF – Gesellschaft für Strahlenforschung – offiziell als Forschungsbergwerk betrieb, aber jahrzehntelang zur Lagerung von Atommüll missbrauchte. Dumm gelaufen, denn der als so sicher gepriesene Salzstock war undicht. Jetzt stand die Bundesregierung vor dem Problem, die maroden Fässer aus der Asse wieder rauszubekommen und woanders verschwinden zu lassen. Selbstverständlich auf Kosten der Steuerzahler. Doch welch Überraschung, niemand wollte das Zeug vor seiner Haustür haben, erst recht nicht nach dem Schock, den die Reaktorkatastrophe von Fukushima ausgelöst hatte, heute vor genau einem Monat. Damit nicht genug standen in einigen Bundesländern Landtagswahlen an. Schöne Scheiße.

Jade lehnte den Kopf gegen den schiefen Turm von Pisa. Sämtliche Vorbereitungen für Helldor 21 waren in den letzten zwei Monaten durchgezogen worden, die sie in einer Ostseeklinik im letzten Winkel von MeckPomm verbracht hatte. Sogar die öffentliche Auslegung der Pläne, ohne eine einzige Reaktion innerhalb der Widerspruchsfrist. Zumindest bei so etwas konnte man sich auf die Weißenhaller verlassen – in manchen Augen regelrecht ein Standortvorteil.

Jade stöhnte. Wäre sie nur hier geblieben. Und jetzt kam Meier auch noch mit Er habe sie schon lange informieren wollen, aber aus Rücksicht auf ihre Krankheit … Lächerlich! Eine glatte Lüge. Meier konnte nach Kronks Auftritt bloß nicht mehr zurück. Überhaupt Kronk. Als Unternehmer war er nach Jades Kenntnis noch nie in Erscheinung getreten, und plötzlich hieß es, sein Firmen-Konsortium habe die besten Aussichten, sich an dem Projekt eine goldene Nase zu verdienen.

Aber so schnell ging das nicht. Nicht bei dem Giftzeug, an dem man noch in ein paar tausend Jahren Spaß haben würde.

Um so überraschter war Jade, als Meier sie schon tags darauf anwies, einen Vertrag mit AniBehConsort vorzubereiten, über die Durchführung aller Arbeiten im Zusammenhang mit Helldor 21. Betreiber des ABC-Konsortiums war Graf Diopsid Kronk. Jade war fassungslos. Sie wartete den Büroschluss ab, um Heribert Meier darauf anzusprechen.

„Die Sache mit Helldor …“, begann sie.

„Hören Sie, Frau von Bronsky.“ Meier benutzte als Einziger konsequent das von, wenn er Jade ansprach und es klang jedesmal wie eine Narbe auf ihrem Namen. Jade war überzeugt, dass Meier diesen Effekt beabsichtigte.

„Diese Sache, wie Sie es nennen, Frau von Bronsky, hat allerhöchste Priorität. Heute morgen hat sich Bürgermeister Reineke persönlich an mich gewandt und eine schnelle Erledigung des Genehmigungsverfahrens angemahnt.“

„Aber …“, versuchte Jade zu widersprechen. Es müssen doch neue Untersuchungen des Helldor-Stollens vorgenommen werden, wollte sie hinzufügen, aber Meier ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Wir können uns auf Gutachten berufen, die Helldor mindestens ebenso gute, wenn nicht in einigen Punkten wesentlich bessere Eigenschaften attestieren als vergleichbaren Standorten. Im übrigen haben wir die volle Unterstützung des Umweltministers der Bundesrepublik Deutschland.“

Heribert Meier atmete schwer, als hätte ihn diese aufgeblasene Feststellung überanstrengt. Jade nutzte die Pause.

„Die Gutachten, von denen Sie sprechen, sind mehr als vierzig Jahre alt. Damals waren die Richtlinien längst nicht so streng wie …“

„Frau von Bronsky.“ Wenn Meier schon die Arme hinter dem Rücken verschränkte und seinen Bauch vorstreckte. „Über diese Gutachten befinden Spezialisten, die in den letzten Wochen großartige Arbeit geleistet haben, und nicht Sie. Das übersteigt, wie Sie sicherlich einsehen werden, ihre Befähigung bei weitem. Und glauben Sie nicht, es sei uns entgangen, dass Sie in den letzten Tagen in den Helldor-Akten herumgeschnüffelt haben. Ich will Ihnen trotzdem entgegenkommen. Helldor 21 bedeutet für Weißenhall einen erheblichen Aufschwung. Das Projekt zieht bedeutende Investitionen in die Infrastruktur unserer Region nach sich, zum Beispiel eine bessere Anbindung an das Schienennetz der Bahn. Ich sage nur: Arbeitsplätze. Zudem handeln wir im ureigenen Interesse der gesamten Republik, wenn Sie mir folgen können.“

Arrogantes Arschloch! Jade hielt Meiers Blick stand, den der wohl für durchdringend hielt. Der Spitzbauch des Amtsleiters hatte sich ihr bis auf wenige Zentimeter genähert. Und was für rosige Aussichten zauberten plötzlich ein solch dämlich-glückliches Lächeln auf sein Gesicht?

„Herr Meier, ich kann nicht akzeptieren …“

„Sie haben mir nicht richtig zugehört, Frau von Bronsky.“ Meier lächelte noch immer. „Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Entscheidungen dieser Behörde zu akzeptieren.“

„Aber …“

„Liebe Frau von Bronsky, jetzt beruhigen Sie sich erst mal.“

Jade wusste, dass ihre Narbe glühte und ihr ein furchterregendes Aussehen verlieh. Was bildete sich dieser Kerl ein, sie Liebe Frau von Bronsky zu nennen? Meiers Lächeln wurde mit jedem weiteren Wort unerträglicher.

„Sie sehen einfach zu schnell rot, wie damals bei meiner Afrikareise. Ich sprach noch heute Morgen mit Frau Behrli darüber.“

Was hatte denn die Behrli damit zu tun, diese Schnepfe aus der Rechnungsprüfung? Meier blickte übertrieben deutlich auf seine Rolex.

„Es ist wirklich schon spät. Und Sie wollen uns doch nicht schon wieder Ärger machen? Ich habe hier ein Couvert für Sie mit einem Autoschlüssel und einer Anweisung an die Kollegen in Fleschbeck. Da fahren Sie morgen hin und holen ein paar Unterlagen ab. Der kleine Ausflug wird Ihnen gut tun. Und“, er beugte sich gönnerhaft vor, „nehmen Sie sich den restlichen Tag frei, wir brauchen den Wagen erst am Donnerstag zurück. Einen schönen Abend noch.“ Er war schon halb aus der Tür raus, da drehte er sich noch mal um. „Und belasten Sie ihr zartes Köpfchen nicht mit Dingen, von denen Sie nichts verstehen.“

Jade kochte, als sie dem wippenden Gang ihres Vorgesetzten nachblickte. Wütend stopfte sie den Umschlag in ihre Handtasche. Was Meier soeben vor ihr ausgewalzt hatte, konnte er sich in die Haare schmieren. Sie sehen einfach zu schnell rot, wie damals bei meiner Afrikareise. Ja, da hatte sie sich eingemischt, und wie. Jade grinste schwach. Aber die Atembeschwerden hatten erst begonnen, nachdem sie die Tabletten genommen hatte, die der Amtsarzt ihr verschrieben hatte, ganz sicher. Und dann ging alles sehr schnell. Am nächsten Tag lag das Gutachten vom psychologischen Dienst auf ihrem Schreibtisch mitsamt der Überweisung in die Ostseelinik. Schon war man sie los. Für zwei Monate. Ein abgekartetes Spiel, man wollte sie aus dem Weg haben. Leider konnte sie das nicht beweisen, und dann blies ihr noch dieser kleine dreckige Zweifel in den Nacken und kicherte: Sie haben recht, du bist nicht ganz dicht.

Aber Anita Behrli aus der Rechnungsprüfung konnte sich auf was gefasst machen!

kobold: Neuigkeiten?

Ela schaltete den Computer aus und legte sich aufs Bett. Sie hatte mittlerweile das Gefühl, kobold lauerte jeden Abend darauf, dass MissVerständnis im Chat auftauchte, um sie unverzüglich anzutexten. Es nervte.

Aus der Ortsmitte von Weißenhall hallten die mitternächtlichen Glockenschläge von Sankt Orbit herüber. Bisher hatte Ela mit keinem der WAAMPIRE über den seltsamen Besucher gesprochen, und kobold anscheinend auch mit niemandem der Anderen. Aber wenn das so weiterging, würde sie es tun. Nächste Woche trafen sie sich seit längerem mal wieder in Wolles Keller.

Meier war auf einer Dienstreise in den Kongo gewesen. Und Jade hatte ihrem Chef öffentlich vorgehalten auf Staatskosten Urlaub zu machen. Doch dann hatte Meier nach seiner Rückkehr – o Wunder – eine Anordnung des Außenministeriums vorlegen können, zwecks Inspektion einer kongolesischen Mine. Dort wurde Kobalt gefördert, ein Erz, das hierzulande in keiner nennenswerten Menge vorkam, weshalb keine deutsche Firma damit Geschäfte machte. Mit einer Ausnahme. Die Firma PETRUS, die ihren Hauptsitz in der Nähe von Weißenhall hatte, bot Kongo-Kobalt zu konkurrenzlos niedrigen Preisen an, dass selbst die für ihre Dumpinglöhne berüchtigten Chinesen nicht mithalten konnten. Das sei, hatte Meier mit einem triumphierenden Lächeln erklärt, der Grund seiner Reise gewesen. Im Übrigen, und dabei war er so dicht an Jades Gesicht herangekommen, dass sie die Speichelfäden zwischen seinen Zähnen zählen konnte, solle sich Jade nicht noch einmal erdreisten, den Sinn seiner Handlungen anzuzweifeln, sonst …

Sonst! Jade war auf hundertachtzig und legte nach. Der Weißenhaller Kurier brachte ein Interview mit einer kritischen Angestellten. Darin hieß es, Amtsleiter Heribert Meier habe von dem Kongo-Trip keine einzige brauchbare Erkenntnis mitgebracht, dafür aber einen sehr menschlich aussehenden Kopf. Am nächsten Tag konterte Meier (ebenfalls im Weißenhaller Kurier, der Reporter hieß Jeff Stieneck), der Kopf sei aus Holz, und er hätte ihn als Geschenk von einem Bantu-Häuptling bekommen. Der wäre tödlich beleidigt gewesen, wenn Meier abgelehnt hätte. Im übrigen hätte er sehr wohl Erkenntnisse gewonnen, die er allerdings nicht mit jeder Sekretärin diskutiere.

Jade hatte klein beigeben müssen. Sie musste in den folgenden Wochen mit den Sticheleien der Kollegen leben, besonders denen der Kolleginnen wie Anita Behrli. Bis sie dann nach einem Nervenzusammenbruch im Behandlungszimmer des Amtsarztes landete. Tabletten. Psychologischer Dienst. Ostseeklinik.

Man hatte sie ausgebootet, davon war Jade überzeugt. Rechtzeitig zum Start des Genehmigungsverfahren für Helldor 21. Meier wollte keine undichte Stelle in seiner Behörde und die Berliner Regierung musste zeigen, dass sie die Probleme der Atomenergie im Griff hatte. Im Gegensatz zu den Japanern. Was kam da gelegener als ein sicheres Endlager? Möglichst schnell, möglichst geräuschlos und möglichst vor den nächsten Wahlen.

That's it.

Oder?

Jade sog zischend die Luft durch die Zähne. Der Tee, den sie sich nach dem abendlichen Rundgang mit Ronja aufgebrüht hatte, war verdammt heiß. Sie hatte sich die Zunge verbrannt. Warum blies der kleine dreckige Zweifel wieder in ihren Nacken? Sie lauschte in das nächtliche Haus.

Aus Berylls Zimmer drang die übliche finstere Musik. Jades kleiner Bruder war zwölf Jahre jünger, aber überragte sie um einen Kopf. Manchmal fühlte sie sich mit dreißig schon so verdammt alt. Sie ging ins Bad und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr sie die Narbe entlang, die linke Wange hinauf bis unter das Auge, das seit der Operation leicht schräg stand. Jade hatte sich an den Anblick gewöhnt, sie hatte sich gegen das Tuscheln hinter ihrem Rücken und die mitleidigen Blicke einen Panzer zugelegt. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gelangt, dass trotz aller geheuchelter Freundlichkeit neunundneunzig Prozent der Menschen einen Sicherheitsabstand zu ihr hielten. Möglicherweise war das etwas zutiefst Menschliches, ein angeborener Reflex, eine Fluchtreaktion. Vor dem Andersartigen, dem Hässlichen, das sich trotzdem zeigte. Ein Weglaufen vor der Angst, selbst so hässlich sein zu können, wenn ein böses Schicksal es so wollte. Oder ein böser Graf, wie ihre Urgroßmutter gesagt hatte.

Katarina.

Jade verließ das Bad und betrat ihr Zimmer. Auf dem Bett saß Bramabas und starrte sie mit schwarzen Knopfaugen an. Aus einer aufgetrennten Naht am Bauch zog Jade die Kette hervor, die sie seit Kronks Auftritt in Meiers Büro nicht mehr angelegt hatte. Kronk, der auf seine Weise ebenso entstellt war, wie sie.

Jade betrachtete die Glaskugel, die sie im letzten Herbst mit feinen Silberfäden umsponnen und an einer dünnen Kette befestigt hatte. Sie fühlte ihr Gewicht, ihre kühle glatte Oberfläche und sah die filigranen blauen Linien in ihrem Inneren. Wie sehr die Kugel sie an Katarina erinnerte. An ihre Geschichten, über die alle den Kopf geschüttelt hatten. Jade sah das faltige Gesicht ihrer Urgroßmutter vor sich, ihre grauen, fast blinden Augen, hörte ihre leise Stimme.

Es war einmal ein Mann, der böse Bronko, der eine Zauberkugel besaß. Da kam der Bär Bramabas und nahm sie dem bösen Bronko fort. Er sprach das Zauberwort und sofort wurde der böse Bronko zu Stein. Da flogen tausend Schmetterlinge zum Fenster herein und zerschmetterten den bösen Bronko in tausend Krümel. Die verstreuten sie in der weiten Welt. Die Kugel aber versteckte der Bär Bramabas in seinem Bauch. Ich schenke ihn dir, kleine Jade. Hab ihn lieb, dann wird er dich beschützen, wo immer du bist. Aber achte auf die Kobolde. Die kommen nachts aus dem Berg, wenn die Menschen schlafen, denn sie suchen nach der Zauberkugel, die einst der böse Bronko stahl. Doch solange der Bär Bramabas bei dir ist, werden sie dir nichts anhaben können.

Jade blinzelte gegen die Tränen. Sie hielt die Glaskugel vor ihr Gesicht und starrte hinein, bis sich ihr Blick in dem Netz der blauen Fäden verirrte. Und da sah sie es wieder, das Zeichen wie ein Wort in einer unbekannten Schrift, einer fremden Sprache. Und gleichzeitig hörte Jade dieses Wort, ohne dass ein Laut die Stille des Zimmers durchdrang. Jade hob den Kopf und lauschte dem Klang.

Das Schlagen der Eingangstür dröhnte durch das Haus und zerstörte ihn. Jade schloss die Faust fest um die Kugel. Schwere Schritte schleppten sich die knarzende Holztreppe hinauf. Ihr Vater hatte wieder Überstunden gemacht. Jetzt würde er für Stunden in seinem Arbeitszimmer verschwinden. So ging das jede Nacht und Jade wusste warum. Sie schob die Glaskugel in den Bärenbauch zurück. Die Musik aus Berylls Zimmer war verstummt.

Rebell: wer bistn du

kobold: ich?

Rebell: nee du

Beryll alias Rebell verdrehte die Augen. Was für ein Blitzmerker war denn da in den WAAMPIRE-Chat geraten.

kobold: wolte nur schaun

Rebell: und - was interessantes gefundn?

kobold: ihr habt gegne asse gekämpft

Rebell: quatsch

Wolles langhaariger Alter hatte gegen die Asse gekämpft und dafür die Site eingerichtet. Beryll, Ela und die Anderen nutzten sie nur zum chatten.

kobold: und helldor?

Rebell: was is mit helldor

kobold: weiß nich

Beryll schaute auf. Draußen war bereits finsterste Nacht. Kurz vor eins. Helldor? Er tippte wieder.

Rebell: warum fragste dann???

In dem Moment ging noch jemand online. MissVerständnis. Beryll wusste natürlich, wer sich dahinter verbarg.

kobold: hi miss

Ach, daher wehte der Wind. MissVerständnis hatte ein Date mit einem Kobold. Soso. Beryll wollte gerade eine „nette“ Bemerkung schreiben, als MissVerständnis schon wieder verschwunden war.

Rebell: ;-))

Funkstille. Beryll wollte schon nachlegen, dass da wohl nichts zu machen wäre, haha, da hatte sich auch kobold verpisst. Beryll grinste. Damit würde er Ela beim nächsten WAAMPIRE-Treffen in Wolles Keller kommen. Kurz überlegte er, ob er die elektronischen Spuren, die der kobold hinterlassen hatte, weiterverfolgen sollte. Die IP-Adresse war automatisch gespeichert worden, dafür hatte Wolles langhaariger Alter gesorgt, und Beryll wusste, wo sie zu finden war. Er gähnte und schaltete den Rechner und die Children of Bodom aus.

Nebenan fand die Wanderung seiner Schwester mal wieder kein Ende. Jede Nacht lief sie wie eine Gefangene im Zimmer auf und ab, nie ging sie mit Freunden aus. Aber wer wollte schon mit einem solchen Gesicht Arm in Arm gesehen werden? Beryll schämte sich höchstens eine Zehntelsekunde für diesen Gedanken. Plötzlich verstummten Jades Schritte. Beryll lauschte. Auch aus dem Arbeitszimmer seines Vaters drang kein Laut. Über das Haus der Bronskys legte sich die Stille wie ein nasses Tuch. Beryll schloss die Augen.

Cave Cobaltum

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