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Sonntag, 10. Juli, 9.04 Uhr. Flugplatz.

Pleased to meet you, hope you gess my name, sangen die Rolling Stones. But what's puzzling you is the nature of my game ... Jade hatte das Gespräch angenommen. Auf dem Display eine ihr unbekannte Nummer.

„Ja?“

Eine Weile lauschte sie einer männlichen Stimme, dann drückte sie das Gespräch weg.

Al Mandin schaute sie fragend an. Jade ging auf ihn zu. Am liebsten hätte sie ihm das Handy zwischen die Zähne gedrückt.

„Woher hat der meine Nummer?“

„Wer?“ Er hatte die Frechheit unschuldig zu gucken.

„Der, dem du sie gegeben hast.“

„Ich habe deine Nummer niemandem … ach so, du meinst unseren Gast.“

„Also doch“, sagte Jade. Und das einzige, was sie von einem Wutausbruch zurückhielt war, dass es sowieso egal war und dass es bald beendet sein würde. Nur noch dieser eine kleine Flug. Vorbei an der Heulenden Hex, das hatte Jade zur Bedingung gemacht, wenn Al wollte, dass sie mitflog. Und Al wollte! Jade lächelte unwillkürlich. Sie wusste nur zu genau warum, wie sie auch über alles andere bestens informiert war, seit sie Als Email-Account geknackt hatte. Wie konnte man nur so ein dämliches Passwort benutzen! Jade lächelte nicht mehr.

„Was … was wollte er denn?“

„Er wird sich etwas verspäten.“

„Und warum?“

„Frag ihn doch selbst.“ Jade hielt ihm ihr Handy hin.

„Ist ja auch nicht so wichtig“, murmelte Al und wandte sich wieder der Cessna zu.

Jade drehte sich weg. Sie musste sich zusammenreißen. Nicht dass er Verdacht schöpfte und den Flug abblies. Sie musste sich zwingen freundlich zu bleiben, zu ihm und zu den unablässig plappernden Botox-Lippen. Etwa eine halbe Stunde, hatte der fremde Gast gesagt. Er würde sich beeilen. Hoffentlich.

Jade ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Es war ein sehr kleiner Flugplatz, der fast ausschließlich von Privatleuten genutzt wurde. Ein flacher Hangar begrenzte das Areal im Westen, daneben hatte ein heruntergekommenes Café ein paar Tische und Stühle nach draußen gestellt. Auf einer der beiden Pisten war soeben eine zweisitzige Piper Tomahawk gelandet, mehr war seit ihrer Ankunft nicht passiert. Trotz des Fluglotsenstreiks, der an diesem Wochenende den Linienverkehr in Norddeutschland lahmlegte, durften Kleinflugzeuge starten und landen, solange sie unter 3000 Metern blieben, hatte Al erklärt. Für deren Sicherheit war lediglich ein „Türmer“ notwendig, und der hatte heute einen recht übersichtlichen Job.

Jade betrachtete die beiden Männer, die aus der Piper kletterten. Wie ein Schock durchzuckte sie der Anblick des jüngeren, besonders sein vorstehendes Kinn. Aber es war nicht der Wolf. Jade schloss die Augen. Diese Verwechslung suchte sie seit Monaten mit grausamer Regelmäßigkeit heim. Eine Zeit lang hatte sie kaum aus dem Haus gehen können, ohne hinter jedem Strauch, in jeder Gasse das Wolfsgesicht zu sehen. Begonnen hatte es an dem Tag, als sie auf dem Klinikgelände stand, den Rücken an die Eiche gepresst, und das tiefe Knurren hörte, das langsam um den Baum wanderte. Damals war sie ihm entkommen, hatte von Amanda, der Zehnkämpferin, erfahren, dass er sich schon öfter nach ihr erkundigt hatte, und war danach quer durch die Stadt und den Nebel vor ihren Augen bis zum Bronsky-Haus gerannt.

Schwer atmend lehnte sie an der Haustür und suchte hastig den Schlüssel, während ihr Blick immer wieder die Straße absuchte. Es war niemand zu sehen. Oder jemand hatte sich perfekt verborgen. Leise betrat sie das dunkle Haus. Sie war eine Woche fortgewesen, aber vermutlich hatte das nicht mal ihr Bruder bemerkt, geschweige denn ihr Vater, es wäre nicht das erste Mal. Aber schließlich war sie eine erwachsenen Frau und musste sich nicht rechtfertigen. Als Jade endlich ihre Zimmertür von innen geschlossen hatte, hämmerte ihr Herz noch immer, als wollte es die Rippen durchschlagen. Erst spät in der Nacht, als aus Berylls und Karls Zimmer schon lange kein Laut mehr drang, kam ihr Atem zur Ruhe.

Was war nur mit ihr los? War es normal, dass sie solche Panikattacken bekam? Bildete sie sich das alles nur ein? War das eine krankhafte Kettenreaktion? Sie hatte jemanden gesehen, dessen Gesicht so merkwürdig verzogen war – in Fleschbeck, der Typ an der Straßenecke – da hatte es begonnen. Dieser Anblick hatte sich in der Erinnerung verhakt und mit Mustern von Ästen in einem Frühlingswald verknüpft, oder später auf dem Klinikgelände mit einem Gesicht, dass sie durch einen Nebelschleier wahrgenommen hatte. Erging es anderen Menschen ebenso? Wenn sie zum Beispiel Jades Gesicht gesehen hatten?

Sie sind doch nicht ganz gesund!

Meiers Satz hallte in ihrem Kopf. Vielleicht war da was dran. Jade klammerte sich an den Fenstergriff und starrte in die dunkle Nacht. Irgendwo da draußen lauerte etwas. Und sei es nur eine monströse Ausgeburt ihrer Fantasie.

Und plötzlich wusste Jade, was sie tun musste.

Am nächsten Tag schlief sie lange. Sie hatte viel und unruhig geträumt, konnte sich aber nach dem Aufwachen an keine Einzelheiten erinnern. Das Haus war still, nur der Regen klatschte an die Fensterscheibe, genau wie damals. Unvermittelt tauchte eines der Traumbilder wieder auf. Ein Knall und neben ihr schlug der Kopf ihres Großvaters gegen die Windschutzscheibe. Airbags wurden bei Fiat erst viel später eingebaut. Jades Rettung war der riesige Teddybär, den sie zum achten Geburtstag bekommen hatte, und der ihren Kopf auffing. Nur ein Glassplitter traf sie und schlitzte ihre linke Wange bis knapp unter das Auge auf. Lange hatte sie nach der Operation in keinen Spiegel schauen können.

Jade blieb fast den ganzen Tag im Bett. Nur gegen Mittag stand sie auf, um eine Fertigpizza zu wärmen und halb zu essen und mit Ronja eine Runde um den Block zu drehen. Dann legte sie sich wieder aufs Bett und schlief bald ein. Ihr Plan startete erst am späten Nachmittag, genauer um 17.30 Uhr. Eine halbe Stunde vor Büroschluss der Stadtverwaltung.

Sie hatte den Wecker auf 16 Uhr gestellt. Jade duschte und aß den Pizzarest. Von ihrem Bruder hatte sie den ganzen Tag weder etwas gehört noch gesehen, und Karl kam erst gegen Abend zurück. Jade schlich auf weichen Turnschuhsohlen aus dem Haus. Sie hatte eine schwarze Jeans und einen dunklen Kapuzenpulli angezogen. Niemand war auf der Straße, soweit sie sehen konnte. Jade zog die Kapuze tief ins Gesicht und lief los.

Nicht direkt zum Verwaltungsgebäude. Jade kannte sich aus. Sie nahm Seitengassen und Schleichwege und drückte sich in Hauseingänge um auf Schritte zu lauschen. Da waren aber keine. Atemlos stand sie schließlich um 17.34 Uhr hinter der Hecke, die den Behördenparkplatz umschloss.

Sie konnte natürlich nicht den Haupteingang benutzen. Hallo Anita, wie geht’s dir? Fein, und dem lieben Heribert? Jade lachte leise.

„Hör'n Se mal!“

Jade fuhr herum. Eine kleine dicke Frau stand neben ihr. Ein Crogg, kein Zweifel, um diese Uhrzeit kamen sie häufig in die Stadt. Hinter ihr stand ein bis zum Rand beladener Einkaufswagen von Aldi.

„Ham Se 'n Euro für mich?“

„Ich …“ Jade kramte in den Taschen ihrer Jeans. Sie hatte tatsächlich kein Portemonnaie dabei. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. Das Gemurmel der Crogg-Frau klang nicht sehr freundlich, als sie sich samt ihrem Einkaufswagen entfernte. Jetzt musste Jade schleunigst von der Straße, bevor sie von weiteren Personen gesehen wurde. Sie drückte sich durch die Hecke.

Ihren Büroschlüssel, der auch zum Gebäudehaupteingang passte, hatte Meier einkassiert, aber der Hausmeister ließ den Kellereingang tagsüber immer offen. Knut hieß er, Knut Irgendwie. Er müsse da ständig raus und rein, und wenn er die Zeit zum Auf- und Zuschließen zusammenrechnen würde, käme er auf eine lohnende zweite Mittagspause. Das hatte Knut ihr bei einer feuchtfröhlichen Betriebsfeier verraten, als er noch annahm, damit bei Jade Eindruck schinden zu können. Ihre Narbe würde ihm auch nichts ausmachen. Was in Jades Ohren klang wie: In der Not frisst der Teufel Fliegen. Schönen Dank auch!

Jetzt kam ihr Knuts kleines Geheimnis zugute. Jade erreichte die Kellertreppe, ohne den Schutz der Anpflanzungen am Parkplatzrand verlassen zu müssen. Es hätte schon jemand sehr aufmerksam aus den Bürofenstern die Büsche beobachten müssen, um sie zu entdecken. Im Übrigen waren um diese Uhrzeit alle damit beschäftigt, ihre Schreibtische für den Feierabend aufzuräumen. Eine von Meiers Dienstanweisungen lautete: Verlass dein Büro so, wie du es selbst gern vorfinden möchtest. Was hatte sich Jade darüber lustig gemacht und auf ihren Schreibtisch ein unüberschaubares Chaos aufgeschichtet.

„So möchte ich es morgen gern vorfinden“, hatte sie gesagt, worauf Meiers Gesicht deutlichen Bluthochdruck anzeigte. So etwas hatte sie sich getraut, als von Meiers Dienstreise in den Kongo noch keine Rede war.

Jade biss auf ihre Lippen. Sie musste sich jetzt konzentrieren. Eine kurze Treppe führte an der Gebäudeseite zur Kellertür hinunter. Sie war tatsächlich unabgeschlossen. Jade schlüpfte in den kühlen Keller. Vor ihr lag ein langer Flur, der in regelmäßigen Abständen von einem schwachen Notlicht erhellt wurde. An den Wänden stapelten sich ausrangierte Bürostühle, fünf, sechs Flipcharts und ein Haufen monströser Computerbildschirme, die man vor zwei Monaten endlich gegen flache Versionen ausgetauscht hatte. Auf jeden Fall hatte Knut eine Menge zu tun.

Bööörb!

Ein unwettermäßiger Rülpser dröhnte den Gang entlang. Jade sprintete los. Sie wusste, dass hinter der Eisentür am Ende des Flurs eine Treppe nach oben führte.

„Ist da wer?“

Jade drückte die Türklinke runter und legte eine Hand über das Schloss, um das verräterische Quietschen zu dämpfen. Ohne Erfolg, es quietschte laut und vernehmlich und die Tür war abgeschlossen. Scheiße. Sollte ihr Plan schon hier ein Ende finden? Ausgerechnet in den Fängen von Hausmeister Knut!

Bööörb!

Eine Flasche wurde unsanft beiseite gestellt. Knut hatte sein Feierabendbier geschafft und streckte seine unterhemdbedeckte Wampe in den Flur.

„Scheiß Ratten, ich knall euch ab! Morgen.“

Knuts Schritte schlurften über den Steinboden. Jade hockte sich hinter einen Turm aus alten Rechnern. Am anderen Flurende wurde die Außentür geöffnet. Knut stapfte schimpfend nach draußen und schloss ab. Jade sah auf die Uhr. Zehn vor Sechs. Knut machte also zehn Minuten zu früh Schluss, plus die Zeit, die er schon in seinem Kabuff beim Bier verbracht hatte. Wenn das Anita Behrli spitzkriegte …

Jade sprang auf, durchquerte den Flur und betrat Knuts „Büro“. Neben einer halbleeren Bierkiste lagen eine Handvoll Kronkorken auf dem Boden. Auf einem wackeligen Tisch sah Jade Listen, die Knut mit unbeholfener Klaue angelegt hatte – vermutlich als Gedächtnisstütze für seine umfangreiche Tätigkeit. Oder was auch immer. Jade interessierte sich mehr für das Schlüsselbrett. Das war immerhin sauber beschriftet. Über dem ersten Schlüssel stand schlicht Alles. Was wollte sie mehr. Sie nahm ihn vom Haken und lief zurück zur Eisentür. Der Schlüssel passte.

Das wäre schon mal geklärt. Langsam ging sie zurück in Knuts Kabuff. Jetzt begann das Warten. Jade sah sich um. Neben Knuts Werkbank lagen Zeitschriften auf einem ungehobelten Brett. Das Goldene Blatt und Bild der Frau und weiteres in der Preisklasse. Jade erinnerte sich, dass Knuts Frau eine kleine Pension betrieb, vermutlich lagen dort solche Blättchen zur Unterhaltung der Gäste aus. Außer vielleicht das Hochglanzmagazin, das sie zuunterst fand, in dem die Damen allenfalls Ohrringe trugen. Und diese Ohren klebten an dümmlich lächelnden und garantiert narbenfreien Gesichter. Jade juckte es in den Fingern, sie einzeln in den Schredder zu stecken, der unter dem Brett stand, Marke Olympia PS 24 CCD, wie sie las, geeignet sowohl für Akten als auch für CD's. Aber sie wollte so wenig Spuren hinterlassen wie möglich.

Neugierig zog sie die Schublade eines wackeligen Schreibtisches auf und fand dort eine ausgefranste Kladde. Unter dem Datum der letzten Betriebsfeier schwärmte jemand in Knuts unverkennbarer Handschrift von einer Mitarbeiterin mit „geiler Asch und lange Beine, voll scharf obwol so ne häsliche Nabe im Gesicht“. Daneben war ein verwackeltes Polaroid-Foto eingeklebt, das wohl zu fortgerückter Stunde gemacht worden war. Es zeigte sie von hinten, im kurzen Rock über einen Tisch gebeugt im Gespräch mit irgendwem. Jade warf die Kladde zurück in die Schublade und knallte sie wütend zu. Sie sah auf die Uhr. Frühestens in zwei, drei Stunden konnte sie zur Tat schreiten, denn so lange musste sie damit rechnen in den Büros ein paar besonders Fleißige anzutreffen, die ihre Vorgesetzten beeindrucken wollten, oder sich zu Hause noch mehr langweilten als hinter ihren Schreibtischen.

Jade lauschte. Hatte sie Schritte gehört? Gab es nächtlichen Wachschutz in der Stadtverwaltung? Die Frage fiel ihr recht spät ein.

Wolles Frisur war auf dem besten Weg sich der seines Alten anzunähern, was das Vorurteil zu bestätigen schien, alle Atomkraftgegner seien langhaarig. Was in etwa den Aussagewert hatte wie Ich hab mal einen Italiener Spaghetti essen gesehen. Muss das jetzt näher erklärt werden? Lieber nicht. Wolle hatte für seine Verhältnisse den Keller gut aufgeräumt. Der meiste Müll war im Papierkorb gelandet, oder zumindest in dessen Richtung geworfen worden. Die Matratzen auf dem Boden entlang der Wände waren leidlich sauber, obwohl Ela den Verdacht hatte, dass Wolle sie bloß umgedreht hatte. Beryll fläzte sich in seine Stammecke und sah noch müder aus als sonst, Hermine trug eine Kette aus bunten Steinen um den Hals und niemand zweifelte daran, dass die einen positiven Einfluss auf ihre Aura hatten. Bambule kam heute bloß zehn Minuten zu spät. Wolle stellte einen Kasten Bier in die Mitte, der noch vom letzten Treffen übrig war, und bediente sich selbst. Der Bügelverschluss ploppte, die Versammlung der WAAMPIRE war eröffnet.

„Ela hat das Wort“, sagte Wolle, der es gern etwas förmlicher hatte, und wies mit der Flasche in ihre Richtung.

„Was war'n das neulich für 'n Typ im Chat“, plapperte Bambule los. „Kobold oder so, kennt den einer?“

„Bambule“, sagte Wolle und drehte gemächlich den Kopf in seine Richtung, „ich habe soeben Ela das Wort erteilt, also halt die Klappe. Willst du 'n Bier?“

„Dieser Kobold war schon öfter im Chat“, antwortete Ela in Bambules Richtung, während sie zusah wie eine Bierflasche von Wolle über Beryll bis Bambule wanderte.

„Danke. Ähm, was hast du gesagt?“ Bambule sah Ela an und versuchte dabei den Flaschenverschluss zu öffnen. „Verflixt, der klemmt.“

„Quatsch.“ Wolle reckte sich zu ihm rüber, nahm die Flasche in seine linke Pranke und drückte den Verschluss mit dem Daumen auf. Plopp.

„Na denn, Prost.“

Inzwischen hatte auch Beryll ein Bier und die drei Jungs stießen klirrend an. Hermine warf Ela einen wissenden Blick zu. Vermutlich stellte sie gerade einen direkten Zusammenhang zwischen Neumond und männlichem Trinkverhalten her. Oder war zur Zeit Vollmond? Ela wartete geduldig bis sich die Unruhe legte.

„Kann ich jetzt?“

Stille bis auf das Klicken von Hermines Stricknadeln. Alle schauten Ela an.

„Mein Vater wird erpresst.“

„Waaas?“ Hermine.

„Schrei nicht so.“ Bambule wandte sich an Ela. „Was?“

Ela rollte die Augen. „Hört ihr jetzt zu, oder nicht?“

Eine Runde Nicken.

„Dass in Helldor Atommüll gelagert werden soll, habt ihr alle mitbekommen.“

„Inzwischen ja“, brummte Wolle. „Das Planfeststellungsverfahren haben wohl alle verpennt.“

„Das was?“ Hermine sah nicht mal von ihrem Strickzeug auf.

„Solche Sachen werden in der Presse angekündigt und öffentlich ausgelegt. Die kann dann jeder begutachten und Einwände erheben.“ Zu irgendetwas war sein langhaariger Alter doch nützlich, Wolle war gut informiert.

„Hab ich nix von mitgekriegt“, sagte Bambule.

„Wer nur den Sportteil liest …“

„Machst du doch auch!“

Wolle grinste versöhnlich.

„Na, dann erheben wir halt Einwände“, Hermine wechselte die Strickrichtung, „wenn wir welche haben.“

„Die Frist ist längst abgelaufen.“

„Dann eben nicht.“

„Das geht aber auch nur in einem Kaff wie Weißenhall so geräuschlos über die Bühne“, meldete sich Beryll aus seiner Stammecke. „Und sogar dein Alter hat nichts davon bemerkt?“

Wolle zuckte mit den Achseln und Hermine warf Beryll einen beschwörenden Blick zu. Wolles langhaariger Alter war seit einiger Zeit kaum noch hier, was nicht nur berufliche Gründe hatte.

„Lasst doch Ela weitererzählen.“

Ela nickte. Sie verschwieg die seltsamen Besuche des Wolfsgesichts und dass sie den Schlüssel zu Papas Arbeitszimmer schon lange hinter dem Van-Gogh-Druck entdeckt hatte, der in einem schweren Goldrahmen leicht nach vorn gekippt an der Flurwand hing. Sie begann an dem Punkt, als sie das Allerheiligste ihres Vaters betrat und den Briefumschlag auf dem Schreibtisch entdeckte. Ein schmales Couvert mit dem merkwürdige Emblem der Burg Mordent, das entfernt an ein Gesicht erinnerte. Erst jetzt, während sie erzählte, fiel ihr auf, dass sie das Zeichen schon einmal gesehen hatte, und dass sie sich über die Salzkrümel gewundert hatte, die aus dem Umschlag rieselten, als sie das zweifach gefaltete A4-Blatt herauszog. Es war unterschrieben mit Graf Diopsid Kronk.

„Sagt euch der Name was?“

„Das ist der Typ von der Mordent-Burg“, antwortete Beryll. Jade hatte manchmal von ihm gesprochen. „Voll schräg.“ Die anderen schüttelten den Kopf.

„Und weiter?“

Es war kein langer Brief gewesen. Zunächst beglückwünschte Kronk darin den Werten Herrn Bürgermeister zum Helldor-Beschluss. Dies sei ein immens wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Stadt Weißenhall. Dann kam der eigentliche Punkt: Falls das Firmen-Konsortium ABC unter Kronks Führung den Zuschlag für Helldor 21 bekäme, also für alle anfallenden Arbeiten, werde Kronk sich persönlich dafür einsetzen, die Aufträge in der Region zu vergeben, was wiederum Jobs in Weißenhall schaffe. Blablabla. Interessanter war, was Kronk an die zwei Wörter Falls nicht angefügt hatte. Falls nicht würde Kronk nämlich gewisse unangenehme Dinge ans Licht der Öffentlichkeit bringen. Der Brief endete mit: Sie wissen was zu tun ist und Sie wissen warum! Herzliche Grüße, Diopsid Kronk.

„Aha“, begann Bambule langsam. „Helldor 21 …“

„Ist der offizielle Name für alles, was mit der Einlagerung von Atommüll in Helldor zu tun hat“, erklärte Ela. „In etwa das Gleiche, was auch mit Operation Bergfrieden gemeint ist.“

„So wie bei Stuttgart 21?“, fragte Hermine.

Bambule stöhnte.

Hermine strickte ungerührt weiter. „Und dieser Kronk ist Chef von einem ABC-Verein, oder was?“

Wolle räusperte sich umständlich. „Ein Konsortium ist ein Verbund von Firmen, die sich für einen größeres Projekt zusammengeschließen.“

„Danke, Herr Professor.“

„Und wenn ABC nicht den Zuschlag bekommt, dann rückt Kronky mit irgendwelchen unangenehmen Dingen raus.“ Hermines Stricknadeln machten eine Klapperpause. „Und mit was?“

Ela zuckte mit den Schultern.

„Wie hat dein Vater darauf reagiert?“ Beryll sah sie an.

Das war der heikle Punkt. Ela konnte Jasper schlecht danach fragen, ohne zuzugeben, dass sie in sein Arbeitszimmer eingebrochen war und seine Post gelesen hatte.

„Der ist noch in Berlin“, antwortete sie leise.

Bambule blies einen Ton auf seiner leeren Bierflasche. „Wenn in Helldor Strahlemüll eingelagert wird, gibt’s keine Touri-Führungen mehr zu den Stones, also werden unserer Jobs vernichtet. Soviel zum Thema Arbeitsplätze.“

„Vor den Stones hatte ich sowieso immer Angst,“ murmelte Hermine. „Die können ruhig verschwinden.“

Bambule verdrehte die Augen. „Quatsch!“

Wolle sah Ela an. „Also noch mal zum Mitschreiben. Dieser Kronk droht mit irgendwelchen Dingen, wenn seine Firma nicht den Auftrag bekommt. Und dein Alter wird darauf eingehen und sich als Retter der Weißenhaller Wirtschaft feiern lassen.“

„Und nicht nur das.“ Bambule legte seine Hand auf Hermines unentwegt klappernden Nadeln. „Es wird dem Umweltminister den Arsch retten, denn nichts braucht der dringender, als endlich ein sicheres Endlager.“

„Sichere Endlager gibt's nicht und wird’s nie geben!“ Wolle wurde auch in der Empörung seinem langhaarigen Alten immer ähnlicher. „Wir sitzen alle in einem riesigen Flugzeug mit dem Höllenzeug im Gepäck. Aber für dieses Flugzeug gibt es keine Landebahn, weltweit nicht!“

„Also ich werfe meinen Atommüll immer in die Grüne Tonne.“ Natürlich Bambule, wer sonst.

Bambule war es auch, der gemeinsam mit Wolle versuchte, die flüssigen Reste zu vernichten, als alle anderen schon gegangen waren. Entsprechend lustig verließ er kurz vor Mitternacht den Keller. Waren ja noch Ferien.

Ela saß in ihrem Zimmer und starrte in die dunkle Nacht. Neumond. Die WAAMPIRE hatten alles nicht ernst genommen. Aber was hatte sie auch erwartet. Es gab ja nichts als eine vage Andeutung von etwas. Geschrieben von einem krummen Grafen. Erst mit den Mitternachtsglocken legte sie sich schlafen.

Von weit her hörte sie die Glockenschläge. Jade hatte länger warten müssen, als ursprünglich geplant. Immer wieder hatte sie aus dem weitläufigen Gebäude Türenklappern und das Pochen von Absätzen gehört, es gab wohl mehr Vorgesetzen-Beeindrucker oder einsame Seelen, als sie angenommen hatte. Aber in der halben Stunde vor Mitternacht war alles ruhig gewesen. Sie öffnete die Eisentür und erschrak über das gellende Quietschen. Vorsichtig schlich sie die Treppe hinauf, die hinter der Eisentür zum Erdgeschoss führte. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen und lauschte. Ihre Uhr zeigte 0.05 Uhr, im Haus war es totenstill. Eine nächtliche Streife hatte sie nicht bemerkt. Sie spähte die leeren Flure entlang. Bis jetzt nicht.

Meiers Büro befand sich im zweiten Stock. Jade wusste nicht genau, was sie zu finden hoffte. Hinweise auf die Eile des Verfahrens vielleicht, auf Fehler. Waren alle Fristen eingehalten worden, und warum hatte es nicht einen einzigen Widerspruch gegeben? Dann Graf Kronk. Wieso steckte der mit drin? Konnte es Zufall sein, dass sein Auftauchen mit dem zweiten schweren Autounfall ihres Lebens zusammenfiel? Der Gedanke, dass Rache an Meier und der Hass auf Kronk ihre eigentlichen Triebfedern waren, blitzte kurz auf. Sie schob ihn ärgerlich beiseite. Sicherlich auch, aber nicht nur.

Der direkte Weg zu Meiers Büro führte durch die Abteilung Rechnungsprüfung. Jade konnte sich nicht verkneifen Anitas Türklinke herunterzudrücken. Erstaunlicherweise war nicht abgeschlossen, eine Nachlässigkeit, die sie der netten Kollegin gar nicht zugetraut hätte. Jade schlüpfte hinein, vielleicht bot sich ja eine Möglichkeit für eine nette Rache.

Das Büro war eines der kleineren für die Tippsen. Anita hatte es ganz nach ihrem Geschmack eingerichtet, inklusive Geranien vor den Fenstern und einem großen Katzenkalender überm Schreibtisch. Für jeden Monat eine süße Mieze. Daneben hing der Urlaubsplan der Behörde, für den Anita ebenfalls zuständig war. Jade sah ihn sich genauer an. In der Spalte mit ihrem Namen waren ab jenem Mittwoch vor Ostern, an dem sie nach Fleschbeck geschickt worden war, alle Arbeitstage der folgenden zweieinhalb Wochen mit einem k versehen – k wie krank.

Jade lachte leise. Das hättet ihr wohl gern!

Die Spalte daneben gehörte lovely Anita selbst. Auf den vier Feldern von Karfreitag bis Ostermontag pappte ein bunter Zettel, eine Art Werbe-Flyer. Oase Liwa stand quer über sonnenbeschienen Palmen und goldgelbem Wüstensand. Besuchen Sie Abu Dhabi! Seit wann konnte sich eine Tippse aus der Rechnungsprüfung einen Urlaub in Abu Dhabi leisten?

Aber Jade hatte Dringenderes vor, als sich über Anitas Urlaub zu wundern. Sie verließ das Büro, jetzt war Meier dran. Der hatte vermutlich seine Tür zweimal abgeschlossen, aber Jade war ja im Besitz von Knutis Generalschlüssel. Meiers Büro befand sich am Ende des Flurs. Wer zu ihm wollte musste somit den weitesten Weg zurücklegen, was nach Meiers Auffassung seine Stellung als Behördenchef unterstrich. Die Überraschung war aber nicht die wie erwartet verriegelte Tür, sondern Knuts Schlüssel. Er trug eindeutig die falsche Beschriftung. Fast Alles wäre richtiger, denn bestimmte Türen waren ausgenommen, wozu natürlich Meiers Chefbüro gehörte. Das hätte sie sich eigentlich denken können. Verdammter Mist!

Die Geranien in Anitas Tippsenparadies waren schnell beiseite geräumt. Kühle Nachtluft wehte ihr entgegen, als Jade auf das Fenstersims kletterte. Das zweite Stockwerk war auf der Rückseite etwa zwei Meter gegenüber dem Erdgeschoss zurückgesetzt. Die dadurch enstandene Galerie hatte ein ökobewusster Architekt mit verschiedenen winterharten Gewächsen begrünt. Mit einem Sprung landete Jade zwischen Steinbrech und Fetter Henne und lauschte in die Nacht. Ein Käuzchen schrie. Der Parkplatz und die Straße waren von hier nicht einzusehen. Ein schmaler Fußweg führte um das Gebäude, aber auch der war menschenleer. Gebückt schlich Jade an der Fensterfront entlang. Plötzlich sah sie in zwei dunkle Augen. Ein haariges Gesicht glozte sie aus einem der Büros an. Es war ein Stoffaffe, den jemand ins Fenster gesetzt hatte, einer der harmloseren Versuche, sich am Arbeitsplatz wohl zu fühlen. Trotzdem schlug Jades Herz bis zum Hals. Noch drei Zimmer weiter, hier musste es sein.

Meiers Fenster war seit Monaten defekt, das wusste Jade. Der Verschlussriegel war verbogen und rastete nicht mehr ein. Ein Ruck und das Fenster klappte nach innen. Einige Akten wurden beiseite geschoben und klatschten auf den Boden. Jade hielt den Atem an. Keine Alarmanlage wurde ausgelöst, keine eiligen Schritte näherten sich. Vorsichtig stieg Jade hinein, drückte das Fenster wieder zu und verkeilte den Riegel so gut es ging. Die Akten auf dem Boden waren mit Korrespondenz A–J, K–R und S–Z beschriftet. Jade stellte sie in der richtigen Reihenfolge zurück auf das Fenstersims.

Sie knipste eine Mini-Taschenlampe an und schirmte sie mit der Hand ab. Das erste was ihr auffiel war, dass Meier ihren Schreibtisch an die Wand gerückt hatte, als wäre es nicht mehr vorgesehen, dass sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte. Auch der schiefe Turm von Pisa hing nicht mehr darüber, sondern – ein langes gebogenes Beduinenschwert, dessen Griff mit einer goldenen Kugel abschloss. Jade verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Bitteres gebissen. Dann wandte sie sich dem Schreibtisch zu.

Der Planfeststellungsbeschluss Salzstock Helldor, den sie vorgestern schon in Händen hatte, lag gleich zuoberst, als wollte Meier es ihr besonders leicht machen. Nur für den Dienstgebrauch hatte jemand unter die Überschrift gestempelt. Nicht für die Öffentlichkeit. Jade setzte sich auf Meiers überdimensionierten Bürostuhl und begann zu blättern.

Schon bald wurde ihr klar, warum dies nicht für jedermanns Augen bestimmt war. In ihren Händen hielt sie eine Zusammenstellung alter und uralter Berichte über den Salzstollen Helldor von 1907, 1911, 1929, 1933. Jade hatte nie von ihnen gehört und die Aussagekraft der Messungen, die darin aufgeführt wurden, ging aus heutiger Sicht gegen Null.

Der zweite Teil stammte von Meier selbst. Eine knappe Zusammenfassung der Untersuchungen, ergänzt durch die Schlussfolgerung, dass Helldor in allen Punkten ideal für eine Endlagerung sei. So ein Schmarrn. Was ritt Meier bloß, sich auf so dünnes Eis zu begeben? Und nicht nur ihn, denn den Planfeststellungsbeschluss hatten ja ebenso der Bürgermeister und der Vertreter der Bundesregierung unterzeichnet. Und als Vierter im Bunde Diopsid Kronk. War denn die politische Zwangslage allein schon Grund genug, so ein windiges Dokument zu genehmigen, oder gar mit dem Grafen ins Geschäft zu kommen?

Dieses Machwerk konnte allenfalls Laien beeindrucken, die völlig unbeleckt in Fragen der Bergwerks-Sicherheit waren. Zum Beispiel Weißenhaller Lokalpolitiker. Einerseits. Andererseits war es brandgefährlich, wenn es in die falschen Hände geriet. Oder in die richtigen, je nach Standpunkt. Dann konnte es das gesamte Projekt kippen. Aber offenbar hatte Helldor 21 keine Gegner. In Weißenhall schien niemanden die Aussicht zu stören, demnächst auf einer strahlenden Deponie zu leben.

Jade starrte das Schwert an, dass sich wie ein dunkles Mal von dem hellen Fleck abhob, den der Schiefen Turms von Pisa hinterlassen hatte. Wie eine Narbe auf der Wand. Sie schaltete den Tischkopierer ein. Zeit für Beweissicherung.

Als sie den gebundenen Bericht auf der Glasplatte auseinander drückte, rutschte ein länglicher Zettel heraus, der weiter hinten zwischen die Seiten geschoben worden und ihr höchst bekannt vorkam. Ein Werbe-Flyer. Oase Liwa stand über sonnenbeschienen Palmen und goldgelbem Wüstensand. Besuchen Sie Abu Dhabi! Fast hätte Jade laut gelacht. Sieh an, Meier und die Behrli gemeinsam in Abu Dhabi? Köstlich!

Und dann entdeckte sie die kaum lesbare handschriftliche Ergänzung auf dem Flyer. Gute Erholung!, entzifferte Jade. Sie holte tief Luft. Diese Klaue hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Die vierte Unterschrift! Sieh an. Eine Reise nach Abu Dhabi, spendiert vom Chef des Konsortiums, das den Zuschlag für das größte Projekt erhalten hatte, das Weißenhall seit Kriegsende vergeben hatte. Jade spürte den Herzschlag bis in die Kehle. Jetzt hatte sie etwas in der Hand. Aus dieser Nummer würde Meier nicht so leicht rauskommen. Und Kronk auch nicht.

Lächelnd steckte sie den Flyer zu den Kopien in ihrem Rucksack.

Gute Erholung!

Der Rückweg über die Dachbegrünung war nicht möglich, denn von außen hätte sie das Fenster nicht wieder schließen und schon gar nicht die Akten davor stellen können. Die Türen öffentlicher Gebäuden ließen sich aber in Fluchtrichtung jederzeit öffnen. Allerdings war Meiers Büro nun nicht mehr abgeschlossen, was er sicherlich bemerken würde. Aber so etwas konnte doch selbst ihm mal passieren. Jetzt musste Jade nur noch zurück in Anitas Büro und die Geranien wieder an ihren Fensterplatz stellen.

„Halt! Keine Bewegung. Bleiben Sie ruhig!“

kobold: hi

MissVerständnis: hi

kobold: gibz neuigkeiten

MissVerständnis: wer bist du

kobold: auf eurer seite

MissVerständnis: witzig

kobold: ich weiß wer hinter dem helldor scheiss steckt

MissVerständnis: so - wer denn

kobold: kronk

MissVerständnis: woher kennste den

kobold: kennich eben

MissVerständnis: haha

kobold: der isn kobold & ich bin ein kobold

MissVerständnis: haha

kobold: wann wird eingelagert

MissVerständnis: ka

kobold: ?

MissVerständnis: keine ahnung

kobold: mm

MissVerständnis: und?

kobold: ich denke

MissVerständnis: und?

kobold: ich kann was machn

MissVerständnis: was

kobold: später

MissVerständnis: sag schon

kobold: helft ihr mir?

MissVerständnis: wer sagt denn dass wir auch was machen wollen

kobold: ciao

MissVerständnis: eh!!!!!!!

Er (oder sie) hatte sich ausgeloggt.

„Halt! Keine Bewegung. Bleiben Sie ruhig! Sprechen Sie in ganzen Sätzen! Was wollen Sie von mir und wie ist Ihre Nummer? Ich rufe baldmöglichst zurück.“

Jade stützte sich schwer atmend gegen die Wand. Sie hatte das vorausgehende Telefonklingeln nicht gehört. Nur diesen unglaublich witzigen Anrufbeantworter. Jetzt plapperte irgendeine Stimme auf englisch. Wahrscheinlich ein Anruf aus Ami-Land, wo zur Zeit die Sonne schien. Jade erreichte Anitas Büro und drapierte die Geranientöpfe wieder auf die Fensterbank. Verdammt, sie hätte sich merken sollen, wie die Dinger gestanden hatten. Zu spät.

Sie verließ das Gebäude wie sie gekommen war durch den Keller, nachdem sie den Schlüssel zurück an seinen Platz gehängt und der Versuchung widerstanden hatte, vor das Alles ein Fast zu schreiben. Knut würde sich schon genug wundern, dass er vergessen hatte die Außentür abzuschließen. Vielleicht auch nicht. Gegen halb drei lag sie in ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Sie lauschte einem Hund, der weit entfernt den Mond anheulte.

Es war verdammt noch mal immer das Gleiche. Nachdem am 22. April 2010 die Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko explodierte, im Meer versank und elf Menschen in den Tod riss, kam raus, dass die amerikanische Aufsichtsbehörde WWS Bohrgenehmigungen ohne ausreichende Prüfung erteilt hatte. Einfach so. Manche der beteiligten Firmen hatten sogar ihre Prüfberichte selbst ausgefüllt. Man kannte sich, man schenkte sich Urlaubsreisen, vielleicht sogar nach Abu Dhabi zur Oase Liwa. In der Aufsichtsbehörde arbeiteten Leute, die vorher in der Ölindustrie tätig waren und beste Kontakte zum Ex-Präsidenten George W. Bush pflegten. Da wusch eine dreckige Hand die andere. Warum sollte das Spiel in Deutschland anders laufen?

Schon mit der ersten Morgendämmerung hielt es Jade nicht mehr im Bett aus. Sie überflog die Kopien zum dritten Mal, dann duschte sie in aller Eile, zog ihren kürzesten Rock an und trank Tee. Heute würde sie Meier zur Rede stellen.

Jade erreichte die Weißenhaller Stadtverwaltung gleichzeitig mit Knut, dem Hausmeister. Umständlich schloss er den Haupteingang auf und ließ Jade hinein. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass Jade Hausverbot hatte. Jade lächelte ihn an und Knut grinste zurück. Na, gefällt dir mein Narbengesicht noch immer, du versoffener Wixer? Jade war sich wohl bewusst, dass er mit offenem Mund auf ihren Hintern starrte, als sie die Treppe hinaufstieg. Sollte er doch.

Jade erreichte das zweite Stockwerk und setzte sich auf einen der Plastikstühle, die auf der rechten Flurseite an die Wand geschraubt waren, vermutlich um zu verhindern, dass jemand in einem Wutanfall damit auf Beamte warf. Jade schlug ihre Beine übereinander, die mit Anitas Cellulitis-Stelzen problemlos mithalten konnten. Meier würde schon beeindruckt sein.

Meier kam um 8.05 Uhr, fünf Minuten zu spät. Jade sah demonstrativ auf ihre Uhr. Der Amtsleiter ging wortlos an ihr vorüber und nestelte seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. Er stutzte, als er bemerkte, dass seine Bürotür unverschlossen war. Jetzt erst sah er Jade an.

„Haben Sie hier aufgemacht?“

„Guten Morgen, Herr Meier.“ Jade lächelte.

„Frau von Bronsky, Sie haben Hausverbot.“

„Und keinen Schlüssel mehr.“

„Was wollen Sie hier?“

Jade wechselte den Beinüberschlag und grinste über Meiers Blicke, die er nicht unter Kontrolle hatte. Laut knallende Absätze lenkten Meier von Jades Show ab. Ohne Hinzugucken wusste Jade, dass sich Anita näherte.

„Wer hat hier aufgeschlossen?“, brüllte Meier plötzlich.

Anita stieß eine Art Vogelschrei aus und kreischte: „Meine Tür ist auch offen.“

Jade vermied es sie anzuschauen. Daran bist du selbst schuld.

„Du warst doch dabei, als ich sie abgeschlossen habe“, brüllte Meier weiter.

„Aber Heribert …“

Dass war Meier offenbar nun doch zu privat, besonders vor Jades Ohren.

„Gehen Sie an die Arbeit“, versuchte er es in im strengen Amtsleiterton. „Diesen Fall … Sie wissen schon. Ich melde mich später.“

Anita wendete leicht irritiert, zog aber ohne Kommentar ab. Absatzknallen, Türknallen. Ruhe.

„Nun zu Ihnen. Was wollen Sie?“

„Eine Antwort.“

„Frau von Bronsky, Sie sind bis Ende nächster Woche krank geschrieben und …“

„Wie kann es sein, dass so eine Angelegenheit so schnell und ohne Aufsehen genehmigt wird?“

„Hören Sie …“

„Ja?“

„Kommen Sie rein.“

Meier versuchte es auf die besonnene Tour. So sachlich wie möglich. Drei Argumente kündigte er an, wobei er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm. Da er Jade keinen Stuhl anbot, setzte sie sich auf ihren zur Wand geschobenen Schreibtisch und betrachtete ausgiebig das Beduinenschwert, während – dessen war sie sich sicher – Meier ebenso ausgiebig ihre Beine inspizierte. Unvermittelt blickte sie ihm ins Gesicht und genoss es, dass er puterrot wurde. Es war ihm sichtlich peinlich, dass sie ihn erwischt hatte, und das sollte es auch.

Meier räusperte sich hastig, rückte unnötigerweise seinen Krawattenknoten gerade und begann zu dozieren. Ein Endlager für strahlenden Abfall wird sowohl im nationalen wie internationalen Interesse dringend benötigt. Denn man hat nun mal das Zeug und das muss schließlich irgendwohin. Im übrigen glaubt niemand ernsthaft, dass es in Kürze ohne Atomkraft gehen wird. Genug Wind gibt es höchstens auf dem Meer und Sonnenenergie lohnt sich allenfalls in der Wüste. Beim Stichwort Wüste konnte sich Jade einen Seitenblick auf das Schwert nicht verkneifen.

„Haben Sie sich darüber in Abu Dhabi informiert?“

Meier fuhr fort, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört. Zweitens habe er die Zusage, dass regionale Unternehmen bei der Auftragsvergabe bevorzugt werden, was wiederum eine Menge langfristiger Arbeitsplätze in der strukturschwachen Weißenhaller Gegend schaffen wird.

„Das widerspricht EU-Recht“, warf Jade ein. „Projekte dieser Größenordnung müssen europaweit ausgeschrieben werden.“

Meier lächelte milde. „Keine Regelung ohne Ausnahme. Brüssel hat, weil für Helldor 21 höchste Sicherheitsanforderungen gelten, in diesem Fall eine solche Ausnahme bewilligt.“

„Da wird sich Forestier aber freuen, so kurz vor den Wahlen.“ Jade zupfte an ihrem Rocksaum. „Und Kronk erst. Wie hieß noch seine Firma? ABC? Wie originell!“

Meier atmete hörbar tief ein. Jades Rock war verdammt hoch gerutscht.

„Und drittens?“

Drittens wurde überhaupt nichts überstürzt genehmigt. Alle Fristen sind eingehalten worden. Zudem sei der Helldor-Stollen seit seiner Stilllegung vor genau einhundert Jahren regelmäßig Ziel von Expeditionen gewesen, die …

„Meier, sie wissen selbst am besten, dass da Abenteurer unterwegs waren, die mit Öllampen durch die Stollen gegeistert sind und nach Kobolden gesucht haben. Ein paar Croggs haben sie als Führer angeheuert, die sie in die letzten Winkel von Helldor gelotst und ihrem Schicksal überlassen haben. Die Handvoll, die halbtot aus Helldor wieder rausgekrochen kamen, konnte garantiert keine Auskunft über die Sicherheit der Stollen geben.“

„Sie irren sich, Frau von Bronsky. Im Jahre 1967 war Helldor schon einmal in die engere Wahl für ein Endlager gekommen. Damals hat man sich für die Asse entschieden. Sogar das Helmholtz-Institut aus Münschen hat in den Siebziger Jahren Helldor untersucht und für gut befunden.“

Verdammt. Meier bluffte doch – oder hatte sie das übersehen? Aber was hieß das schon.

„Das Helmholtz-Institut.“ Jade bemühte sich mitleidig zu grinsen. „Denen steht mittlerweile der Asse-Dreck bis Oberkante Unterlippe.“

„Frau von Bronsky, Sie haben nicht die blasseste Ahnung. Wie können Sie … “

„Ich gehe zur Polizei.“

Jetzt war Meiers Geduld am Ende.

„Ja, bitte, tun Sie das. Und dann aber auf dem direkten Weg zurück ins Krankenhaus. Sie sind doch nicht ganz …“

„Gesund? Oh, doch!“

„Ich meine es doch nur gut mit Ihnen.“

Das beeindruckte Jade wenig. Jetzt war es Zeit für ihren letzten Trumpf.

„Und was ist das?“

Meier starrte auf den kleinen bunten Flyer, den Jade aus ihrer Handtasche zog. Seinen Schreck konnte er nicht verbergen.

„Eindeutig Korruption, würde ich sagen. Da wird eine der brisantesten Entscheidungen, die diese Behörde je gefällt hat, über die Feiertage durchgepeitscht, während der Chef mit einer Rechnungsfachkraft durch Abu Dhabi spaziert. Spendiert vom Antragsteller.“

Meier schnappte nach Luft und bekam dabei eine gewisse Ähnlichkeit mit Kronks Karpfengesicht. Jade zog die Augenbrauen hoch.

„Ostern in der Liwa-Oase. Mit Fräulein Behrli. Traumhaft.“

„Woher wissen Sie das?“, stammelte Meier. Langsam wanderte Jades Blick zum neuen Wandschmuck. Keine Frage, woher das Teil stammte. Ob es Anita auch gefallen hatte?

„Von Anita“, log Jade und sah ihn an. Ohne zu lächeln. „Alles hat sie mir erzählt. Auch das mit dem Schwert.“

„Diese kleine Schl...“

Meier war feuerrot im Gesicht. Jade wusste, dass sie einen Volltreffer gelandet hatte, vermutlich einen tief unter der Gürtellinie. Plötzlich machte sich in seinem Gesicht eine Erkenntnis breit.

„Sie waren in meinem Büro!“

Jade sah ihn erstaunt an. „Wie sollte ich da rein gekommen sein?“

„Sie haben einen Nachschlüssel.“

„Sie wissen genau, dass man solche Spezialschlüssel nicht ohne schriftliche Genehmigung nachmachen lassen kann.“

Meier war kurz vorm Platzen. „Das wird Sie teuer zu stehen kommen.“

Langsam stand Jade auf und schob Bein für Bein in Meiers Richtung bis sie dicht vor seinem Schreibtisch stand.

„Das hier wird Sie teuer zu stehen kommen. Weitaus teurer als das Hotel in der Liwa-Oase.“

Lächelnd zog sie die Kopien, die sie in der letzten Nacht gemacht hatte, aus ihrer Handtasche. „Und hier drin steht kein Wort vom Helmholtz-Institut.“

Sie wedelte mit den Blättern vor Meiers Gesicht. Ein Fehler. Meier war schneller, als Jade erwartet hatte. Bevor sie reagieren konnte, zerrissen seine Hände bereits die Blätter.

„Was wird mich teuer zu stehen kommen? Doch nicht Ihr wirres Gerede. Ich glaube, da unterschätzen Sie meine Möglichkeiten.“ Jetzt hatte er Oberwasser und ging in die Offensive. „Sie wollen wohl unbedingt Ärger bekommen. Wie nach meiner Afrikareise. Ich werde mit dem Betriebspsychologen reden. Der soll sich dieses Mal intensiv um Sie kümmern.“

Meier bekam sogar ein Grinsen hin. Das Wort Scheiße stand wohl zu deutlich in Jades Gesicht geschrieben. Wortlos drehte sie sich um und verließ Meiers Büro. Ihr wurde fast schlecht, als sie die Tür hinter sich knallen hörte und ihre Absätze auf dem Fliesenboden.

Aus Anitas Büro drang Telefonklingeln und Sekunden später fröhliches Lachen. Hätte Jade länger gelauscht, hätte sie gehört, wie dieses Lachen in ein Schluchzen überging.

„Nichts habe ich ausgeplaudert, wirklich nichts.“

Kurze Pause.

„Ich … nein, bestimmt nicht. Auch nicht das mit dem Schwert. Das musst du mir glauben, lieber Heribert.“

Als Anita das Gespräch beendete und zwei Tränen von ihren Wangen auf das Antragsformular auf ihrem Schreibtisch tropften, hatte Jade schon das Gebäude verlassen. Von Knut war nichts zu sehen. Er saß bestimmt in seinem Kellerloch und war beschäftigt. Jade beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Noch zwei weitere Telefonate führte Meier. Eines mit einem Psychologen, der regelmäßig für die Stadt Weißenhall arbeitete, und eines mit Knut Schröder. Man habe doch einen Schredder angeschafft, ja richtig, einen Olympia PS 24 CCD. Ob Knut bitte sofort in Meiers Büro kommen könne, es gebe Arbeit.

Da waren Schritte hinter ihrem Rücken, die sich schnell näherten. Jade erhöhte ihr Tempo. Als sie den keuchenden Atem schon in ihrem Nacken spürte, sprang sie nach links über eine niedrige Mauer in einen Gemüsegarten. Ein meckerndes Lachen ertönte und Jade sah dem Jogger hinterher, bis er an der nächsten Ecke verschwand.

„He, was machen Sie in meinem Salat?“

Jade entschuldigte sich hastig und kletterte aus dem Beet. Den Rest des Weges rannte sie.

Sofort nach Betreten des Hauses zog sie sich um. Die ganze Aktion war übel misslungen. Wütend warf sie den Rock in den Schrank und tauschte ihn gegen eine schwarze Jeans.

Sie hatte sich vorgenommen ab sofort nur noch zusammen mit Ronja das Haus zu verlassen. Die Hündin bellte überglücklich, als Jade ihr am Abend das Halsband anlegte und sich den langen Ledermantel überwarf. Obwohl sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, wusste sie, dass sie vor Mitternacht keinen Schlaf finden würde. Sie ging in die Dämmerung hinaus. Ronja zerrte an der Leine und hielt Kurs auf das nahegelegene Waldstück, in dem irgendwo weiter oben der Eingang von Helldor lag. Jade ließ sich von ihr führen.

Was hatte sie erreicht? Noch schlimmer: Was hatte sie in Händen? Nichts, gar nichts. Wie einer dummen Göre hatte sie sich die Blätter aus der Hand reißen lassen!

Jade sah ihn schon von weitem. Sein längliches Gesicht unter dem breitkrempigen Hut. Jade wollte umkehren, aber Ronja zog mit aller Kraft. Als sie näher kam, sah sie, dass der Mann sich eine Zigarette in den Mund gesteckt hatte und offenbar die Manteltaschen nach einem Feuerzeug durchsuchte. War er es wirklich? Jade ging weiter, Ronja würde sie verteidigen.

„Haben Sie Feuer, Madam?“

Wer sprach heutzutage noch Frauen mit Madam an? Jade schüttelte hastig den Kopf und stolperte an ihm vorbei. Hinter ihr hörte sie ein leises Lachen, oder sie hatte es sich nur eingebildet.

Was war los mit ihr? Erst flüchtete sie vor einem harmlosen Jogger über eine Gartenmauer, nun traute sie sich nicht, einem abendlichen Spaziergänger Feuer zu geben, obwohl sie die Schachtel Streichhölzer deutlich in ihrer Manteltasche fühlte. Und jetzt blieb Ronja auch noch an ihrem Lieblingsbaum stehen, um ihr Geschäft zu erledigen. Jade blickte sich unruhig um. Verdammt, der Kerl ging ihr nach, mit langen ruhigen Schritten.

„Suchen Sie doch mal in Ihren Manteltaschen.“

Seine Stimme klang rau. Jade zitterte. Wenn er noch näher kam, nahm sie sich vor loszurennen. Ihre Beine fühlten sich an wie festgefroren.

„Hier.“ Sie streckte ihm die Streichholzschachtel entgegen.

Er lächelte schief und schloss seine Finger um ihr Handgelenk. Jade schrie. Ronja knurrte und kam mit gesträubtem Nackenfell auf den Mann zu.

„Schon gut, schon gut.“

Er ließ Jades Handgelenk los und bückte sich nach der Schachtel die Jade fallen gelassen hatte. Ronjas Drohgebärden schienen ihn nicht im geringsten zu beeindrucken. Und Jade roch es wieder. Diesen dumpfen Salzgeruch, der sie an die Helldor-Stollen erinnerte.

„Wer sind Sie?“, stieß sie hervor.

„Das willst du gar nicht wissen“, war seine knurrende Antwort im Weggehen. „Ach.“ Er blieb stehen und drehte sich halb um, sodass Jade sein vorspringendes Kinn deutlich im Profil sehen konnte. „Ihre Streichhölzer.“

Jade sah die Schachtel in hohem Bogen auf sich zufliegen. Instinktiv griff sie danach. Ronja bellte. Als Jade wieder in die Richtung des Fremden schaute, war er verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Jades Blicke suchten die dichte Front der nachtschwarzen Tannen ab. Nichts. Auch kein Geräusch.

Jade rannte.

Cave Cobaltum

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