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Prolog

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Viele Menschen nennen das Gebiet in dem ich aufgewachsen bin, die „Totenstadt“. So wird unser Viertel auch in den Reiseführern der Fremden genannt, die manchmal durch unsere Straße laufen. Das hat mir einer aus Europa erzählt, der mich sogar heiraten wollte, obwohl er mich gar nicht kannte. Nur, weil ihm meine Augen gefallen haben. Das hat er zumindest zu meinem Vater gesagt, der nicht eingewilligt hat. Natürlich nicht. Schließlich gehörte dieser Mann nicht zu unserer Religion. Deshalb konnte mein Vater auch nicht mit ihm die Al-Fatiha lesen. Da war ich froh, denn es war kein junger Mann.Totenstadt“ – auch in Kairo nennen viele Leute das Gebiet hier draußen so. Weil sie ihre Großeltern, Eltern, Onkeln und Tanten in den Grabkammern unter unseren Höfen bestattet haben. Aber wenn sie kommen um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen, am Opferfest oder an den Freitagen oder an anderen Feiertagen, sehen sie doch, dass es nicht nur eine Totenstadt ist. Denn wir leben ja hier. Hamdi, mein Vater, der ihnen die Gräber öffnet, wenn jemand gestorben ist. Der den Trauernden Wasser reicht und die Jungen holt, die die Koranverse rezitieren. Auch Nassra, meine Mutter, die ihm acht Kinder geboren hat, von denen ich das älteste bin. Von vielen unserer Nachbarn haben schon die Großeltern hier gelebt. Es ist also nicht nur eine Totenstadt, sondern auch eine Stadt der Lebendigen. Und deshalb nenne ich sie auch nicht Totenstadt. Wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, dann sage ich, „im Gebiet um Imam Al-Shafi’i“. So heißt die Moschee am anderen Ende unserer Straße. Daneben und auf der anderen Seite dieser Moschee stehen mehrstöckige Häuser mit Wohnungen. Ich könnte ja auch dort wohnen, wenn ich sage, dass ich „im Gebiet um Imam Al-Shafi’i“ wohne. Jedenfalls nennt kaum jemand, der hier draußen auf den Grabhöfen von „Imam Al-Shafi’i“ lebt, unser Viertel „Totenstadt“.

Als mir die obigen Sätze aus Monas „aufgeschriebenen Gedanken“ übersetzt wurden, ahnte ich bereits, dass hinter den Zeilen in jenem abgegriffenem Heft mehr als eine erzählenswerte Lebensgeschichte steckt. Es war die ungewöhnliche Reflexion einer jungen Grabhofbewohnerin auf das eigene Schicksal, welches sie „Kismet“ nannte. Drei Tage zuvor war ich mit meiner ägyptischen Mitarbeiterin Hoda Zaghloul hinausgefahren in jenes Gebiet in dem auch deren Mutter begraben liegt, auf der Suche nach dem Stoff für eine Reportage über die „Totenstadt“. Ich hatte einen Reporter und einen Fotografen von ‚Al Ahram’ dabei, Ägyptens großer Tageszeitung, die mir bei dieser Recherche behilflich sein wollten. Ich wusste um das Misstrauen der Grabhofbewohner gegenüber Fremden. Dann aber kam mir der Zufall zu Hilfe. Als wir den unbewohnten Grabhof von Hodas Familie verließen, stand ein Junge da und sah uns mit seinen schwarzen sentimentalen Augen an. Auf meine Frage, wer dieses Kind sei, erklärte mir Tarek – der staatlicherseits eingesetzte Grabmeister –, dass dessen Name Mahmoud sei und er mit seiner Familie auf einem Grabhof in der Nähe wohne. Wir begleiteten den Achtjährigen nach Hause und wurden von dessen Eltern und Geschwistern sehr freundlich aufgenommen. Bald erzählten die Mädchen, dass ihre große Schwester gut singen könne, auch malen, und ihre Gedanken würde sie immer in ein Buch schreiben. Außerdem sei sie sehr schön, aber leider zurzeit nicht da. Sie arbeite in einer großen Bank in Kairo, sagte die siebenjährige Aya und es war ihr anzumerken, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was genau eine Bank ist. Sie wusste auch nicht, welcher Art von Tätigkeit ihre Schwester dort nachging. Aber sie war voller Bewunderung für sie und erklärte, ich müsse unbedingt am Freitag wiederkommen, wenn Mona zu Hause sei. Ich war neugierig geworden und so fiel es mir nicht schwer, ihr meine Rückkehr zu versprechen.

Mona führt ihren Biographen Gerhard Haase-Hindenberg durch die Gegend in der sie aufwuchs – die sogenannte Totenstadt (Hinter diesen Mauern befinden sich teils geräumige Grabhöfe)

Meine kleine Schwester Aya erzählte mir am Abend als erste, dass mich ein Mann aus dem Ausland kennen lernen will. Da habe ich gedacht, dass das wieder so ein Verrückter ist, der mir einen Heiratsantrag macht. Aber dann kam er mit Madame Hoda, die aus unserem Land stammt und zwei Journalisten aus Kairo. Zunächst hat sich nur Madame Hoda mit mir unterhalten. Der fremde Mann wurde mir als „Mr. Haase“ vorgestellt und weil sich das so ähnlich anhört wie der arabische Name Hāšim, haben wir ihn fortan so genannt. Hāšim und die beiden Journalisten haben mit meinen Eltern gesprochen und mit meinen kleineren Geschwistern. Ich habe Madame Hoda von meinen „aufgeschriebenen Gedanken“ erzählt. Dann habe ich ihr aus dem Heft vorgelesen, weil sie erst Schwierigkeiten hatte, meine Handschrift zu entziffern. Ich habe ihr erzählt, dass ich oft nachts aufwache und in den Spiegel blicke. An diesem Tag habe ich noch nicht erzählt, dass ich dann meist dunkle Gedanken habe, und dass sie verschwinden, wenn ich sie aufschreibe. Nach einigen Tagen hat Hāšim mich dann gefragt, ob ich ihm helfen will, über mein Leben ein Buch zu schreiben. Auch über meine Gedanken und Gefühle. Ich war überrascht und wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. Als ich ihn fragte, warum er das tun will, sagte er: „Weil ich glaube, dass du ein ganz besonderer Mensch bist!“ Und er erklärte mir, wie dieses gemeinsame Buchschreiben aussehen soll. Erstmal sollte ich noch für einige Monate allein weiter schreiben. So wie bisher, alles was mir durch den Kopf geht, was ich erlebt habe und was ich fühle. Dann würde er zurückkommen und sich mit mir darüber unterhalten. Es wäre dann eine richtige Arbeit. Ich habe zuerst meine Mutter gefragt und ihr gesagt, dass das eine Arbeit ist, wofür ich auch Geld bekomme. Sofort hatte sie Sorge, dass ich das ganze Honorar für modische Sachen ausgeben und nichts für die Aussteuer zurücklegen würde. Deshalb hat sie mit Hāšim vereinbart, ihr die Hälfte meines Honorars für die Aussteuer zu übergeben. Es war für mich eine aufregende Sache und ich schrieb und schrieb und fieberte dem Moment entgegen, wenn endlich die Arbeit mit Hāšim beginnen würde.

Mona war zunächst auffallend bestrebt, blumenreich zu formulieren und die Notizen mit poetischen Bildern anzureichern. Ihre Aufzeichnungen hatten streckenweise Anflüge jener typisch arabischen Fabulierlust, wie man sie beispielsweise aus den Dialogen in Nagib Mahfus’ meisterhaften Roman „Die Midag-Gasse“ kennt. Bis zu diesem Zeitpunkt aber war Mona noch nie mit irgendeiner Form von Belletristik in Berührung gekommen. Dies scheint im Umkehrschluss ein Beweis dafür zu sein, dass es Mahfus meisterhaft verstanden hat, die Sprache der Basare und Vorstädte in den Rang von Literatur zu erheben. Aber es zeigte sich im vorliegenden Fall auch, dass die blumenreichen Formulierungen und poetischen Bilder oftmals dazu dienen, die eigenen Gedanken und Gefühle zu kaschieren. Nicht selten wird dann über sich selbst in der 3. Person gesprochen. Gemäß dem arabischen Brauch, einen Gesichtsverlust möglichst zu vermeiden. Zudem beförderte die für Mona ungewohnte Fokussierung auf ihre Person während der gemeinsamen Arbeit zeitweilig narzisstische Neigungen. Sie selbst beschrieb diesen Umweg später mit den Worten: „Ich war ehrgeizig geworden.“

Die Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit bestand neben den Gesprächen auch in „Schreibtagen“, wie wir es nannten. Während ich die Disketten mit unseren Gesprächen abhörte und protokollierte, schrieb Mona ausführlicher über dieses und jenes, worüber wir uns zuvor unterhalten haben. Ich hatte sie gebeten, es direkt für unsere Leserinnen und Leser zu schreiben. Diese während der gemeinsamen Arbeit entstandenen Passagen unterscheiden sich – wie unschwer zu erkennen ist – von den eher inwendigen Betrachtungen der „aufgeschriebenen Gedanken“ in jenem Heft. An anderen Tagen wiederum unternahmen wir „Exkursionen“. Das bedeutet, dass wir uns an Orte und zu Menschen begaben, die zu irgendeinem Zeitpunkt für längere oder kürzere Zeit, manchmal nur für einen einzigen Tag, in Monas Leben eine Rolle gespielt haben.

Ich habe Hāšim vieles gezeigt, wo ich gelebt habe oder gearbeitet. Wir sind in Kairo zum Beispiel zur Staatsbank gegangen, wo ich ja noch gearbeitet hatte, als ich ihn kennen lernte oder zu den Schulen die ich zuvor besuchte. Manche dieser Exkursionen haben mir besonders viel Freude gemacht. Zum Beispiel, als wir noch einmal eine solche Schiffsfahrt auf dem Nil gemacht haben, wie ich sie an meinem achtzehnten Geburtstag mit meinen Freundinnen Safaa und Rania unternommen hatte. Es war fast genauso wie damals. Wieder waren Studenten auf dem Schiff und unterhielten sich über lauter Dinge, von denen ich nichts verstand und wieder hatte einer seinen Geburtstag gefeiert. Ich erlebte so meinen eigenen Geburtstag ein zweites Mal.

Um den Kern von Monas Gefühls- und Gedankenwelt zu erfassen, waren viele und lange Gespräche und eben jene „Exkursionen“ nötig. Doch beschreibt dieses Buch nicht etwa diesen gemeinsamen, gelegentlich mühsamen Weg zur authentischen Geschichte vom „Mädchen aus der Totenstadt“, sondern die Geschichte selbst. Mona aber hat auch den Weg dorthin als bedeutend empfunden. Jedenfalls bekannte die Einundzwanzigjährige am Ende dieser Arbeit in einem Interview gegenüber dem deutschen Fernsehjournalisten Niels Negendank:

Hāšim und Madame Hoda haben mir gezeigt, dass ich für etwas gut bin. Ich habe alles was in meinem Inneren vorging auf den Tisch gelegt und mich selbst wie von außen betrachtet. Ich habe Mona sehr gut kennen gelernt. Ich habe versteckte Sachen über sie erfahren, die ich nicht wusste. Ich habe die wahre Mona kennen gelernt! Mona Gerhard Haase-Hindenberg

Straßen in der „Totenstadt“ mit Blick auf Wohnhäuser im benachbarten Stadtbezirk Tonsy.

Das Mädchen aus der Totenstadt

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