Читать книгу Das Mädchen aus der Totenstadt - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 4

Seit jenem Tag weiß ich, wo ich lebe…

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Es war einer dieser Tage, wie sie zwischen Juli und September die Regel sind, an denen die Luft brütend heiß über die Gräberstadt flirrt. Selbst vom nahen Mokkatam-Berg war kein kühlender Wind zu erwarten. Die staubigen Wege zwischen den Stelen der einfachen Begräbnisstätten und den hohen Mauern der Grabhöfe vermögenderer Familien waren nahezu menschenleer. Kaum einer machte sich in diesen Wochen von Downtown Kairo aus oder von den vornehmen Stadtvierteln westlich des Nils auf den Weg, um den Ahnen einen Besuch abzustatten. Und die Gemeinschaft derer, welche hier draußen in beengten Räumlichkeiten über den Mausoleen eine Wohnstatt gefunden haben, mutierte zu einer Zweiklassengesellschaft. Dividiert in Familien, deren Hof an die allgemeine Wasserversorgung angeschlossen ist und solche, die jenes lebensnotwendige Gut in großen Tonkrügen von oft weit entfernten Brunnen holen müssen.

Es war wenige Wochen vor Monas achtzehnten Geburtstag, als sie ihre Mutter und fünf ihrer damals sechs Geschwister zu den Großeltern begleiten musste, die zwei Straßen weiter wohnten. Dorthin, wo den beiden alten Leuten von einem Torabi (Grabmeister) ein kleiner, dunkler Raum zugewiesen wurde, nachdem sie vor drei Jahren aus jenem Grabhof vertrieben worden waren, in welchem sie Jahrzehnte gelebt hatten.

Niemand hatte mir gesagt, weshalb wir an diesem heißen Tag alle zusammen meine Großeltern besuchen mussten. Emad war nicht dabei, weil er kurz zuvor eine Arbeit in einer Autowerkstatt gefunden hatte und Samah war noch nicht geboren. Trotzdem ist es dort sehr eng gewesen. Normalerweise kommt die Großmutter ja immer zu uns, denn schließlich haben wir im Haus mehr Platz. Aber meistens sitzt sie in unserem großen Hof. Wahrscheinlich besucht sie uns immer dann, wenn sie mal für eine kleine Weile von meinem Gedi (Opa) wegkommen wollte. Der hatte nämlich ständig etwas an ihr auszusetzen. Aber das würde meine Teta (Großmutter) natürlich nie sagen. Früher war ich nur selten mit meinen Geschwistern zu den Großeltern geschickt worden. Dann aber war unsere Mutter nie dabei. Und jedes Mal wenn wir wieder nach Hause kamen, hatten wir ein Geschwisterchen mehr. Nach einer Stunde oder etwas länger hatte ich es an diesem Tag dort nicht mehr ausgehalten. Meine Schwester Sabrin quasselte die ganze Zeit und weil mein Gedi schwerhörig ist, fragte er dauernd nach. Sabrin wurde immer lauter und der kleine Karim begann zu schreien. Er war ja noch ein Baby. Meine jüngste Schwester Aya stritt sich mit Mahmoud. Der ist nur ein Jahr älter als sie, aber er spielte sich als ihr Beschützer auf. Dabei musste sie in dem Zimmer meiner Großeltern gar nicht beschützt werden. Mahmoud wollte nur zeigen, dass er was zu sagen hat, wie alle Jungens, die jüngere Schwestern haben. Die kleine freche Aya aber ließ sich das nicht gefallen. Dazwischen versuchte Hoda, meine zweitjüngere Schwester, ständig das lange graue Haar unserer Teta zu Zöpfen zu flechten. Aber die alte Frau wehrte sich. Schließlich setzte sie einfach das Kopftuch auf. Ich habe mich dann entschlossen, meine Tante Samira zu besuchen, die mit ihrer Familie wenige Straßenzüge entfernt wohnt. Nicht auf einem Grabhof. In einem dieser dreistöckigen Häuser hinter der Moschee Imam Al-Shafi’i. Meine Mutter hatte nichts dagegen. Es ist immer nur mein Vater, der mir oft nicht erlaubt zur Wohnung seiner Schwester zu gehen und ich weiß nicht mal, warum. Natürlich wollte Sabrin unbedingt mitkommen. Aber ihr Gequassel war es doch, weshalb ich von dort wegwollte. Und bei Tante Samira würde das ja auch so sein – ich kannte das von früheren Besuchen. Sabrin würde ihre schrille Stimme wieder mal höher und höher schrauben. Ich hätte dann keine Gelegenheit, meiner Lieblingstante, die ich mehr liebte als meine Mutter, all die Dinge zu erzählen, die mir auf dem Herzen lagen. Und auch nicht, weil Sabrin es hinterher vor der ganzen Familie ausplaudern würde. Deshalb ging ich allein los …

Das dünne Baumwollkleid klebte an Monas Körper und der Schweiß lief ihr in schmalen Rinnsalen über das Gesicht. Der Mund des Mädchens war vollkommen ausgetrocknet, weshalb sie sich auf den eiskalten Karkadee (Malventee) freute, den sie bei Tante Samira bekommen würde. In deren Küche existierte nämlich der Luxus eines alten, ziemlich laut brummenden Kühlschrankes.

Wie schon manches Mal zuvor, wenn Mona auf dem Weg zu einer ihrer zahlreichen Tanten und Onkeln war, sah sie vor ihrem geistigen Auge jenes Schaubild, das einst die Lehrerin an die Tafel gemalt hatte. Es sollte helfen, den Schülern Verwandtschaftsverhältnisse zu erklären. Ganz oben auf dieser Tafel standen die Eltern, also Vater und Mutter. Darunter deren Geschwister, welche Onkel und Tanten sind, deren Kinder und Enkel wiederum nennt man Cousin und Cousine, sowie Großcousin und Großcousine. Es gab dann noch die Verwandtschaftsbeziehungen von Nichten und Neffen, von Schwägerinnen und Schwager … – aber damit waren seinerzeit die meisten Kinder die in der Gräberstadt „Imam Al-Shafi’i“ aufwuchsen, schon hoffnungslos überfordert. Und bald war es die Lehrerin auch. Denn eine mehrfache Doppelung solcher Verwandtschaftsverhältnisse, wie hier draußen in der Totenstadt durchaus üblich, kommt in der ihr vertrauten städtischen Umgebung kaum vor. Monas Vater Hamdi zum Beispiel hat seine Cousine Nassra geheiratet und so ist Mona – die Tochter der Cousine ihres Vaters – zugleich ihre eigene Großcousine. Aber auch Nassras Bruder Mahmoud hat seine Cousine geheiratet, nämlich Hamdis Schwester Samira – jene Lieblingstante Monas. Somit ist das Geschwisterpaar Hamdi und Samira ebenso miteinander verschwägert, wie Nassra mit ihrem Bruder Mahmoud. Und Mona ist nicht nur die Nichte ihrer Tante Samira, sondern auch deren Großcousine. Wie immer, wenn Mona versucht, sich über diese sie verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse klar zu werden, begann ihr der Kopf zu brummen und an diesem Tag trug dazu auch noch die fast unerträgliche Hitze bei. Gedankenverloren ging sie an dem um diese Zeit gut besuchten Khahwa (Kaffeehaus) vorbei, ohne auf die ausschließlich männliche Kundschaft zu achten, von denen die meisten Mona mit Blicken verfolgten. Sie alle waren Bewohner von Grabhöfen oder lebten mit ihren Familien in den angrenzenden, meist dreigeschossigen Wohnhäusern. Ortsfremde sind in diesem Khawa nicht zu finden, auch wenn der große, elegant gekleidete Mann im Durchgang zur Tür so aussieht als gehöre er nicht hierher. Hier draußen aber kennt jeder den Mann, der stets einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte trägt und den alle „Professor“ nennen. Denn diesen Titel trägt er, der schon sein ganzes Leben in einem Wohnhaus hinter der Moschee lebt, zu Recht. Auch Mona hatte gehört, dass dieser Mann an der Universität in Kairo arbeite. Genaueres aber hat hier draußen nie jemanden interessiert, obgleich die Männer im Khawa stolz sind, dass es jemand aus ihrem Viertel so weit gebracht hat. Deshalb hören sie ihm gern zu, wenn er ihnen gelegentlich etwas über die Geschichte ihrer Gegend erzählt. Zum Beispiel die Legende, dass der Erste den man in diesem Gebiet bestattet habe, Mokkatam geheißen hätte – wie jener Berg einige Kilometer nördlich. Der soll angeblich ein Enkel von Noah gewesen sein. An dieser Stelle lacht der Professor immer und sagt: „Da muss Noah aber sehr, sehr alt geworden sein, denn die ersten Grabstätten sind hier bei uns erst seit dem 9. Jahrhundert überliefert. Das war das Jahrhundert, als Sheikh Imam Al-Shafi’i, der drüben in der Moschee in dem Sarkophag liegt, gestorben ist.“

Manchmal wird der Professor von den Kaffeehausbesuchern gefragt, seit wann hier in den Grabhöfen Menschen leben. Und er antwortet schon deshalb gern, weil er hofft, dass die Geschichte seines Viertels auf diese Weise über die Generationen weiterleben wird. Denn nachlesen kann es kaum einer seiner Zuhörer, sind doch – wie eine Studie seines Kollegen Professor Mahmoud El Gohary von der Kairoer Ain Shams Universität belegt – 64,4 Prozent von ihnen Analphabeten. So erzählt ihnen der „Professor“ von der pharaonischen Zeit, in der man die Toten bereits auf die gleiche Weise bestattet habe wie es in ihrem Viertel noch immer üblich sei. Und er verschweigt, dass dies eigentlich eine gänzlich unislamische Bestattungskultur ist. Die Mameluken, so fährt er in aller Regel fort, hätten an diese pharaonische Tradition angeknüpft. Damals, als sie noch über Ägypten herrschten und hier draußen diese prächtigen Marmormausoleen für ihre Toten gebaut haben, die ja wohl jeder der Anwesenden kenne. Und wie einst an den Pyramiden drüben in Giza und den Königsgräbern bei Luxor, seien auch hier Grabwächter zum Einsatz gekommen, die schon bald ihre Familien nachgeholt hätten. Deshalb gäbe es auf den Grabhöfen hier jene Räumlichkeiten in denen die meisten seiner Zuhörer wohnen. Diese Räume wären früher an hohen Feiertagen auch von den Grabbesitzern als Übernachtungsstätte genutzt worden, was ja bekanntlich heute kaum noch geschieht. So jedenfalls habe die Besiedlung angefangen. Manchmal berichtet er auch eigene Erinnerungen, wie er beispielsweise während des 1973er Krieges erlebt habe, dass die aus den Städten am Suez-Kanal evakuierten Bewohner in den leer stehenden Grabhöfen untergebracht worden seien. Die meisten seiner Zuhörer wohnten damals noch gar nicht hier, denn sie sind erst mit der großen Landflucht aus Oberägypten oder dem Nildelta hergekommen, welche erst nach jenem Krieg eingesetzt hatte. Auf der Suche nach Arbeit, so führt er die Entwicklung in die Gegenwart fort, seien hunderttausende nach Kairo gekommen und weil die Stadt aus allen Nähten geplatzt sei … Von da an aber kann dann jeder der Anwesenden seine eigene Geschichte erzählen, wie er entweder selbst oder der Vater oder Großvater einst hierher in die Gräberstadt von Imam Al-Shafi’i gekommen sind.

An diesem drückend heißen Tag aber sprachen die Männer nicht miteinander. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen und bei den meisten hingen sie in diesem Moment wohl mit Mona zusammen. Das Mädchen wurde von zwei Dutzend Männerblicken verfolgt, als es in freudiger Erwartung seiner Tante und Großcousine Samira an den Kaffeehaus-Gästen vorüber zog. Sie wollte gerade die Hauptstraße überqueren, welche hier vor der Moschee eine scharfe Rechtskurve macht. Vorsichtig blickte sie sich nach allen Seiten um, wie sie es immer tut, seit sie vor einiger Zeit eine Kollision mit dem Eselskarren des alten Obsthändlers hatte, der hier täglich vorbeikommt. Nun erst fielen ihr jene Männer vor dem Khahwa auf, die sie angafften und dabei gierig am Mundstück ihrer Shisha (Wasserpfeife) zogen. Noch immer war dies eine verhältnismäßig neue Erfahrung für Mona, denn sie, die trotz ihrer fast achtzehn Lebensjahre noch sehr mädchenhaft wirkte, war erst seit kurzem das Objekt begieriger Männerblicke. War es etwa an der Zeit, die langen schwarzen Locken unter einem Hijab (islamisches Kopftuch) zu verstecken? Nun fand sie die Aufmerksamkeit, die sie bei Männern erregte, nicht in jedem Fall als unangenehm. Aber wenn sie derart massiv damit konfrontiert wurde, dazu noch von meist älteren Kaffeehausbesuchern, suchte sie schnell das Weite.

Eines der nur von Männern besuchte Kaffeehäuser (Khahwa) in der Nähe vom Wohnsitz von Monas Familie

Nur noch wenige Meter trennten Mona von dem mit einer halbhohen Mauer umzäunten Hof der Imam Al-Shafi’i-Moschee. Gleich dahinter würde sie in jene Gasse abbiegen, an deren Ende Tante Samira und Onkel Mahmoud mit Tochter Shaimaa wohnen. Als sie sich noch einmal umblickte, bemerkte Mona weit oben, an der kleinen Moschee gegenüber des Wohnsitzes ihrer Familie, eine Trauergesellschaft. Gerade wurde einer dieser Holzkästen davor abgestellt, in welchen üblicherweise Leichname zu den Grabkammern transportiert werden. Vor der Moschee hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Das sind sicherlich die Angehörigen, Freunde und Nachbarn des oder der Verstorbenen, war es Mona durch den Kopf gegangen. Das Geschehen hätte ihre Aufmerksamkeit nicht länger in Anspruch genommen, wäre ihr jene elegante Frau nicht bekannt vorkommen, die dort klagend die Hände in die Luft schleuderte. Instinktiv blieb Mona stehen und musterte nun einen nach dem anderen aus der kleinen Trauergemeinde. Sie kannte keinen von diesen Leuten, mit Ausnahme jener Frau. Es war die Besitzerin des Grabhofes auf dem Mona mit ihrer Familie lebt, da war sie ganz sicher. Schließlich hatte sie diese freundliche Person gelegentlich dort gesehen. Am Ende des Fastenmonats Ramadan, wenn diese Frau Mona und ihre Geschwister mit Süßigkeiten beschenkte. Und am Tag des großen Bairam, dem islamischen Opferfest, brachte sie in jedem Jahr ein Stück Hammelfleisch vorbei, woraus die Mutter dann eine kräftige Suppe kochte. War diese Frau nicht manchmal in Begleitung des kleinen grauhaarigen Herrn gekommen, der in diesem Augenblick von hinten an sie herantrat und tröstend seinen Arm um sie legte? Mona erschrak. Fiel ihr doch ein, dass sich jene Frau immer nur kurz auf dem Grabhof aufhielt und Einladungen von Monas Mutter zum Tee mit dem Hinweis ausschlug, dass sie ihren kranken Sohn zu Hause nicht lange allein lassen wolle. Lag in jenem Holzkasten womöglich …?

Ausgerechnet in diesem Moment fühlte sich einer der Männer vor dem Khahwa befugt, Mona auf sich aufmerksam zu machen. Möglicherweise weil sie genau dort stehen geblieben war, wo der Kaffeehausbesitzer seinen männlichen Gästen die kleinen verbeulten Metalltische und die alten knarrenden Holzstühle an die Straße gestellt hat.

„He Mona, wirf mir doch mal einen Blick aus deinen schönen Augen zu!“ rief ein Mann, den sie als einen ihrer Nachbarn erkannte. Er war kaum jünger als ihr eigener Vater und seine Frau hatte gerade erst wieder ein Kind zur Welt gebracht. Hätte irgendeiner der jungen Kerle ihr eine solche Bemerkung zugerufen, würde sie es schmunzelnd ignoriert haben. Aber dieser alte Mann?

„Was fällt dir ein? Soll ich zu deiner Frau laufen, die gerade ihr fünftes Kind bekommen hat und ihr erzählen, dass du hier herum sitzt und jungen Mädchen solche Sachen hinterher rufst?“, empörte sich Mona und hatte damit die Lacher auf ihrer Seite. Einige Männer applaudierten sogar. Der alte Nachbar aber lief sofort puterrot an. Vielleicht fiel ihm erst jetzt ein, dass seine Frau ja regelmäßig mit Hamdis Töchtern plauderte, oder mit Nassra, deren Mutter. An jenem Loch in der Mauer zwischen ihren beiden Grabhöfen. Dann nämlich, wenn sie den langen Gartenschlauch hinüber schob, um von deren Wasserleitung die Tonne im eigenen Hof aufzufüllen. Und bei diesen sommerlichen Temperaturen fand ein solcher Kontakt ja nahezu täglich statt.

Ich ging ein Stück in Richtung dieser Trauergesellschaft, war dann aber in einiger Entfernung stehen geblieben. Ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich habe den Sohn ja nicht gekannt, der wahrscheinlich dort in Tüchern gehüllt in dem Holzkasten lag. Die Frau tat mir leid. Es konnte doch nicht Allahs Wille sein, dass Mütter ihre Söhne beweinen. Wenn man in Imam Al-Shafi’i aufwächst, sieht man oft vorbeiziehende Trauergesellschaften. Es sind in der Regel die Jungen, die die Eltern und Großeltern betrauern. Das ist der Lauf der Dinge. Als ich die Trauergesellschaft aus einiger Entfernung beobachtete, musste ich an die seltenen Besuche dieser freundlichen Frau denken. Sie sprach dann immer in großer Sorge von ihrem Sohn. Mir war in diesem Moment gar nicht in den Sinn gekommen, dass der verstorbene Sohn bei uns bestattet werden würde. Dabei gehörte der Grabhof auf dem wir wohnen seiner Familie. Das wusste ich und auch, dass seine Großeltern in der Grabkammer liegen, unter unserem Hof, wo meine kleinen Geschwister jeden Tag spielen, meine Mutter das Essen zubereitet und ich die Wäsche wasche und aufhänge…

Ein erster Verdacht war dem Mädchen gekommen, als sie beobachtet hatte, wie der Torabi eiligen Schritts von jener kleinen Moschee hinüber zum Grabhof ihrer Familie lief und dort von ihrem Vater in Arbeitskleidung erwartet wurde. Langsam fügten sich ihre Gedanken und Beobachtungen zu einem Ganzen: die Geschwister in dem winzigen Zimmerchen der Großeltern, die trauernde Besitzerin des Grabhofes und schließlich ihr Vater, der mit dem Torabi in der weit geöffneten Hoftür verschwand. Mit innerer Anspannung näherte sich Mona ihrem Zuhause, als gelte es, ein streng gehütetes Geheimnis zu lüften. Endlich warf sie einen Blick durch die vertraute Tür, fand im Innern des Grabhofes jedoch keineswegs ein vertrautes Bild vor. Denn dort wo die Familie noch an diesem Morgen auf dem Boden sitzend Foul (gekochte Bohnen) gegessen, wenig später Aya die Hühner gefüttert und sie selbst die weiße Galabeya, jenes kaftanartige Kleidungsstück ihres Vaters, in der alten Plastikschüssel gewaschen hatte, klaffte nun ein riesiges Loch. Gegen die linke Wand unterhalb des provisorischen Daches aus Holzlatten, welches den Bewohnern im vorderen Teil des Hofes vor leichteren Regenfällen Schutz bot, standen breite Steinplatten gelehnt. Mona wusste schon seit langem, dass sich unter ihrem Hof zwei nach Geschlechtern getrennte Grabkammern befanden. Die Mutter hatte es ihr und den älteren unter ihren Geschwistern vor einiger Zeit erzählt. Und auch, dass dort die Eltern jener Frau bestattet seien, die ihnen am Ende des Fastenmonats immer Süßigkeiten brachte. Deren Vater hat schon dort unten gelegen, als Hamdi und Nassra als junges Ehepaar hier einzogen und die Mutter der Grabbesitzerin war beigesetzt worden, als Mona noch ein Säugling war. Die unter dem Hof befindlichen mannshohen Kammern existierten für sie also nur in der Theorie. Trotz der kleinen Marmortafeln an der Wand des Hofes mit den Namen der Toten, entzogen sich jene unterirdischen Räume von jeher Monas Vorstellungsvermögen – bis zu diesem Moment. Nun blickte sie an Hanafi, dem hoch gewachsenen Torabi, vorbei in jene dunkle Höhle zu der steinerne Stufen hinunterführen.

„Wir können ihn hierher zu seinem Großvater legen“, hörte sie die Stimme ihres Vaters aus der Tiefe.

Mona trat einen Schritt näher und nun konnte sie ihn auch sehen, umhüllt von aufgewirbeltem Staub. Offenbar versuchte er mit einem Besen gleichmäßig Sand über den Boden zu verteilen.

„Nein, dazwischen kommt ja irgendwann die andere Generation … also sein Vater“, sagte der Torabi und gab die Anweisung: „Lege den Großvater einfach ein Stück nach hinten.“

Als Mona ihren Vater dabei beobachtete, wie er mit dem breiten Besen irgendetwas vor sich her in den hinteren Teil der Grabkammer schob, wurde sie von einem fremdartigen Gefühl überwältigt. Zum ersten Mal erfasste sie, was sie doch aus der Erzählung ihrer Mutter längst wusste – sie hatte ihre gesamte Kindheit in der Gegenwart jener Leichname verbracht, die dort unten lagen. War dieses seltsame Gefühl daran schuld, dass sie mit einem Mal keine Lust mehr verspürte, ihre Tante Samira zu besuchen? Oder war es schlichtweg nur die Neugier auf das, was sich gleich hier abspielen würde? Mona drängte sich an dem hünenhaften Torabi vorbei in jenen schmalen Teil des Grabhofes, den man als Küche bezeichnen könnte. Dort nämlich befand sich direkt neben dem engen Verschlag der eine Mischung aus Toilette und Dusche beherbergte, das einzige Waschbecken. Daneben stand ein wahrer Luxusgegenstand, auf dessen Besitz Monas Mutter stolz ist, seit sie ihn vor einigen Jahren in gebrauchtem Zustand auf dem Freitagsmarkt im benachbarten Stadtteil Tonsy erstanden hatte – eine halbautomatische Waschmaschine. Ein solches, für eine kinderreiche Familie äußerst sinnvolle Requisit setzte natürlich zweierlei voraus: Wasser und Strom. Tatsächlich war dieser Grabhof einer von 3529 Grabhöfen, die an die staatliche Wasserversorgung und einer von 7240, die auch an das städtische Stromnetz angeschlossen sind. Jedenfalls ist dies 1986 so gewesen, als letztmalig detaillierte Zahlen durch den Journalisten Mamdouh El Waly veröffentlicht worden waren.

Neben dieser Waschmaschine (von denen es in den Grabhöfen damals 657 gab) war Mona gelandet, nachdem sie einen großen Schritt über die geöffnete Grabkammer gemacht hatte. Zielstrebig ging sie am dreiflammigen Propangasherd vorbei, um rechts dahinter in den mit einer alten Couch und zwei Sesseln möblierten Durchgangsraum zu gelangen, der sich zwischen dem Schlafzimmer der Eltern und dem der Kinder befand. Dort gab es auch einen alten Schwarzweißfernseher, der die Grabhofbewohner medial mit dem Rest jener Welt verband, welche von ihrer Existenz kaum Notiz nahm.

Viele Leute die ich außerhalb meiner Wohngegend treffe, fragen mich, wie wir „auf diesen Gräbern da“ leben würden. Mitschülerinnen in der Mittelschule von Tonsy haben mich das oft gefragt und dann gekichert. Einige Jahre später stellten auch Kunden diese Frage, in dem Laden, in dem ich arbeitete und in dem diese Kunden elektrische Marmorschleifgeräte gemietet haben. Dabei liegt das Geschäft an dem Platz „Midan Sayeda Aisha“ direkt hinter unserem Viertel. Auch meine Mitschülerinnen in der Mittelschule wohnten ja ganz in der Nähe, in einem Wohngebiet das Imam-el-Leithy heißt. Und doch haben all diese Menschen keine Ahnung, wie wir auf den Grabhöfen leben. Auf diese Frage habe ich immer geantwortet: „Es ist mir eine Ehre auf einem Hof zu leben, denn da bin ich groß geworden und wurde von meinen Eltern, die ich über alles liebe, bestens erzogen!“ Und wenn Sie mich gefragt haben, ob ich keine Angst vor den Toten hätte, die dort überall herumlägen, sagte ich: „Warum soll ich vor ihnen Angst haben? Sie ärgern mich nicht, wie manche meiner Mitschülerinnen, die sich für was Besseres halten. Sie beleidigen mich auch nicht, wie die Leute die uns abfällig ‚diese Grabbewohner’ nennen und ihre Söhne und Töchter von uns fernhalten.“ Nein, ich habe höchstens Angst vor lebenden Menschen, nicht vor Toten. Bis zu diesem Tag aber, als der Sohn der Grabbesitzerin zu uns gebracht wurde, hatte ich nie einen Toten aus der Nähe gesehen. Auch seinen Leichnam habe ich nicht gesehen, denn er war ja in Tücher gehüllt. Dennoch hat es mich sehr bewegt, als der Torabi den Körper des Jungen aus der Holzkiste nahm und ihn an meinen Vater übergab, der damit in der Grabkammer verschwand. Ich hatte die Gardine zu unserem Wohnbereich zugezogen und das Ganze nur durch einen kleinen Spalt beobachtet. Der Torabi war der Einzige, der wusste, dass ich da war. Denn er hatte mich ja kurz zuvor kommen sehen. Nun beobachtete ich die Trauergemeinde, die im hinteren Teil des Hofes Platz nahm. Sie setzten sich auf unsere alten Stühle und Hocker, die sonst dort standen, wo nun die Steinplatten an der Wand lehnten. Während der gesamten Zeremonie verhielt ich mich ganz still und bewunderte meinen Vater, der sich um alles kümmerte.

Monas Vater kehrte aus der Tiefe der kühlen Grabkammer in die brütende Hitze zurück und sofort hat sich ein feuchter Schweißfilm auf seiner Haut gebildet. Eben noch hatte er den Leichnam des Verstorbenen auf die rechte Seite mit dem Kopf in Richtung Mekka gelegt und die Leichentücher gelockert. Hamdi hatte damit nach einer Vorschrift gehandelt, ohne zu wissen, dass sich in seinem Tun prähistorische Tradition und islamische Gegenwart vereinigten. In der Zeit der Pharaonen hatte man die Toten in Embryohaltung bestattet, weil die Erde als der Mutterleib betrachtet worden ist, aus der der Verstorbene im Jenseits wiedergeboren würde. Die Ausrichtung nach Mekka hingegen, die ja für Muslime auch beim Gebet maßgebend ist, weist zu jenem Ort, an dem der Begründer des Islam, Muḥammad ibn ’Abd Allāh ibn ’Abd al-Muṭṭalib ibn Hāšim ibn ’Abd Manāf al-Qurašī – genannt Mohammed –, in einer Höhle die Offenbarung Gottes empfangen haben soll.

Hamdi reichte den Trauernden die mit Wasser gefüllten Gläser. Angesichts der nahezu unerträglichen Hitze wurden sie auch dankbar entgegen genommen. Vorn in der Tür zum Grabhof drückten sich zwei Halbwüchsige herum. Offenbar hatten sie mitbekommen, dass hier eine Bestattung stattfinden würde und erhofften sich ein Bakshish (Trinkgeld) wenn sie aus dem Koran rezitieren würden. Aber erst als Hamdi sie heranwinkte, betraten sie schüchtern den Grabhof, verbeugten sich vor der Trauergemeinde und gingen schließlich neben der geöffneten Grabkammer in die Hocke.

Bei Bestattungen verdienen sich Jungen durch Koranrezitationen etwas Geld

Koran-Rezitationen an Gräbern werden von den meisten Geistlichen und islamischen Rechtsgelehrten abgelehnt. Eine solche stimme nicht mit dem Verhalten des Propheten Mohammed überein, argumentieren sie. Der nämlich habe am Grab seines kleinen Sohnes Ibrahim zwar geweint und leise gebetet, nicht aber aus dem Koran rezitiert. Dennoch werden die Koran-Rezitatoren von den Trauernden nur selten zurückgewiesen. Denn die von ihnen geschickt ausgewählten Suren (Verse) spenden den Hinterbliebenen durchaus Trost und diese den Rezitatoren meist ein ordentliches Bakshish. Da für eine islamische Begräbnisfeier aus genannten Gründen kein verbindlicher Vortrag aus dem Koran vorgeschrieben ist, haben die listigen Rezitatoren längst Suren gefunden, die sich als besonders tröstlich und folglich auch als einträglich erweisen. Die Sure ‚An-Naba’ („Die Ankündigung“) zum Beispiel ist eine solche, in deren Absätze 31 bis 36 es heißt: „Die Frommen haben sich gerettet / Sie bekommen Gärten mit Weinreben / gleichaltrige Jungfrauen mit wohlgeformter Brust / und trinken aus vollen Kelchen reines Labsal. / Dort hören sie weder Gerede noch Lüge. / Das alles ist für sie eine Belohnung von deinem Herrn, Der ihnen seine Huld erweist …“

Haben die beiden Halbwüchsigen, die unisono diese symbolreiche Vision vom Paradies hersagten, etwa vorher gewusst, dass es sich bei der trauernden Hinterbliebenen nicht um eine Witwe, sondern um die Mutter eines jungen Mannes handelte? Jedenfalls war es ihnen gelungen, ihr ein seliges Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, angesichts der Ankündigung paradiesischer Freuden, die dem Verstorbenen im Diesseits verwehrt geblieben waren. Nach einem stummen Blick der Verständigung stimmten die beiden Jungen, nicht ohne finanzielle Hintergedanken, die Absätze 27 bis 30 aus der Sure ‚Al Fadschr’ („Die Morgendämmerung“) an: „Oh du zuversichtliche Seele! / Kehre zufrieden und belohnt zu deinem Herrn zurück! / Tritt in die Schar deiner Diener ein! / Und tritt in meinen Paradiesgarten ein!“

Der Vater des verstorbenen Jungen drückte den beiden Rezitatoren einen größeren Geldschein in die Hand. Es blieb auch diesmal wieder eine hypothetische Frage, ob die Summe ebenso großzügig ausgefallen wäre, wenn sie aus der gleichen Sure auch den Absatz gesprochen hätten, den sie nicht ohne Grund weggelassen haben: „An jenem Tag erlegt Gott so peinvolle Strafen auf, wie es sonst niemand kann / und Er legt in Fesseln wie sonst keiner!“

Nie zuvor hatte Mona eine Bestattung aus nächster Nähe erlebt. Dies mag außergewöhnlich erscheinen für eine junge Frau, die nahezu ihr gesamtes Leben auf einem Friedhof verbracht hat. Natürlich war sie schon mehrfach Trauergesellschaften begegnet, wenn diese die kleine Moschee gegenüber aufsuchten. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie einmal die überraschende Beobachtung gemacht, dass die männlichen Gläubigen (deren Frauen sich in einem abgetrennten Raum aufhielten) während des Totengebets „Salat el Ganaza“ stehen blieben. Das Mädchen hatte es seinen Eltern erzählt, der Großmutter und sogar dem Lehrer Gamal, der an der Mittelschule Geschichte, Erd- und Sozialkunde unterrichtete. Allen war zwar bekannt, dass man sich während des Gebetstextes nicht verbeugt, aber niemand konnte ihr erklären, warum dies so ist. Vielleicht hätte ihr ja der Imam (Vorbeter) von der Moschee gegenüber sagen können, dass sich Muslime ausschließlich vor Gott verbeugen und nicht vor einem Toten. Aber sicher ist das nicht. Denn viele Imame haben in Fragen der eigenen Religion deutliche Wissenslücken, wie von Islamwissenschaftlern und Rechtsgelehrten in Kairo hinter vorgehaltener Hand immer wieder bedauernd festgestellt wird. Einige von denen wären sicher entsetzt, würden sie in Monas Aufzeichnungen lesen, was der benachbarte Imam ihrem Vater empfohlen hatte: Falls ein Verstorbener aufgrund eines Unfalls gestorben oder gar ermordet worden ist, soll sich mein Vater danach gründlich reinigen. Denn falls während des Sterbens Blut aus seinem Körper geflossen ist, steckt ein Teufel in ihm.

Vor ihrem Versteck vernahm Mona ein leises Wimmern. Es kam ganz offenbar von jener Mutter, die auf dem Weg zum Ausgang stehen geblieben war und noch einmal in die geöffnete Grabkammer hinunterblickte – auf den in Tücher gehüllten Leichnam ihres Sohnes. Es war kein lautes Klagen wie vorhin an der Moschee, sondern ein leises, schmerzvolles Wimmern. Mona erinnerte sich, ein solches vor wenigen Wochen schon einmal gehört zu haben. Exakt an diesem Ort, an welchem sie sich auch jetzt befand – wenngleich während eines eher gegenteiligen Anlasses.

Damals war ich auch nicht bei den Großeltern geblieben. Da ich am nächsten Tag eine Prüfung hatte und noch ein wenig lernen wollte, bin ich nach Hause gegangen. Meine Großmutter versuchte mich zurückzuhalten, aber ich bin einfach weggegangen. Und als ich zu Hause aus meiner Schublade die Schulsachen holen wollte, hörte ich aus dem Zimmer meiner Eltern ein Wimmern. Es klang ganz genauso wie das von dieser Mutter, die ihren Sohn bestatten ließ. Ich war natürlich neugierig und schaute auch an diesem Tag durch einen schmalen Schlitz im Vorhang, womit das Schlafzimmer meiner Eltern verschlossen worden war. Zuerst sah ich den Rücken meines Vaters und die Hebamme, die ganz in der Nähe vom Midan Sayeda Aisha wohnt. Aber damals kannte ich diese Frau kaum. Also, mein Vater war zu sehen und eine fremde Frau war zu sehen, die ständig hin- und herlief. Immer wieder hat sie sich zwischendurch die Hände gewaschen in der alten Plastikschüssel, in der ich schon damals unsere Kleidung wusch. Dazwischen hörte ich das Wimmern meiner Mutter. Als mein Vater zur Seite ging, erlebte ich die Geburt meines Bruders Karim. Und weil er sehr laut schrie, hörte man das Wimmern meiner Mutter bald nicht mehr. Als ich nun an diesem traurigen Tag ein solches Wimmern wieder hörte, ging mir der Gedanke durch den Kopf, wie nah der Anfang und das Ende des Lebens nebeneinander liegen. Nicht nur beim Wimmern der Mütter, sondern auch auf unserem Grabhof. Als mein Vater schließlich gemeinsam mit Hanafi die Grabkammer wieder mit den großen Steinplatten verschloss, war es für mich nicht mehr derselbe Hof wie zuvor. Ich hatte gesehen, wie der Leichnam dort hinunter getragen wurde und ich habe das Wimmern der Mutter gehört. Seitdem ist unser Zuhause für mich ein anderes. Seit jenem Tag weiß ich, wo ich wohne – dort, wo der Sohn dieser Mutter von nun an bis zum jüngsten Gericht liegen wird. Ich wurde sehr krank an diesem Nachmittag. Aber zuvor habe ich in meinem Versteck um den Jungen, den ich in seinem ganzen Leben nie zu Gesicht bekommen hatte, geweint. Und dann habe ich leise versprochen, diesen Ort zu achten und den Kaktus, der neben seinem Grabschild stehen wird, zu pflegen und regelmäßig zu gießen.

Monas Großmutter, die ebenfalls in der „Totenstadt“ lebt

Der Kaktus am Grab des jungen Mannes. Mona hatte das stumme Versprechen abgegeben, die Pflanze zu pflegen

Das Mädchen aus der Totenstadt

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