Читать книгу Das Mädchen aus der Totenstadt - Gerhard Haase-Hindenberg - Страница 6
Man hat mir die Kindheit gestohlen…
ОглавлениеEs gibt nur wenig Feste, die in der Totenstadt groß gefeiert werden. Hochzeiten aber gehören in aller Regel dazu. Für eine solche Feier geben manche Familien an zwei Tagen mehr Geld aus, als sonst in zwei Jahren. Dann gibt es das Opferfest, den „großen Bairam“, welches alljährlich am neunten Tag des islamischen Monats Zul Hega begangen wird. Inwieweit es hinter den Grabmauern von Imam Al-Shafi’i als Fest gefeiert wird, hängt allerdings von den Besuchern aus Kairo ab. Kommen die Grabbesitzer heraus, so bringen sie den Bewohnern ihrer Grabhöfe oftmals entweder ein großes Stück Hammelfleisch oder aber in jüngerer Zeit stattdessen einen Geldbetrag. Überall sitzen an diesem Tag Frauen mit ihren Kindern vor den Grabhöfen, um auch von dem einen oder anderen der übrigen Passanten einen Obolus zu bekommen. Außerdem wohnen viele Familien ja auch auf Höfen für die es gar keine Besitzer mehr gibt oder diese im Ausland leben. Die Besucher der Totenstadt wiederum, soweit es sich um Muslime handelt, werden von ihrer Religion dazu verpflichtet, nicht nur an diesem Tag die Sadaqa (Armensteuer) zu leisten. Denn die Umma – die Gesamtgemeinde der Muslime – wird seit Mohammeds Zeiten als eine Solidargemeinschaft aufgefasst, in der einer für den anderen einzustehen hat. Geburtstage hingegen werden auf den Grabhöfen in der Regel nicht gefeiert. Außer natürlich der des Sheikhs Imam Al-Shafi’i. An diesem Tag werden rund um die Moschee Karussells und Schiffsschaukeln aufgestellt, Eis und Süßigkeiten angeboten und eine Fahrt mit dem Pferdekarren, auf dem sich – weil es kaum etwas kostet – die Kinder drängeln. Es sind auch viele Fremde, die hierher kommen, um den Geburtstag des Sheikhs, der als Begründer einer der vier sunnitischen Rechtsschulen fast wie ein Heiliger (die der Islam nicht kennt) verehrt wird, zu begehen. Schon am Abend zuvor wird gläubigen Muslimen, die aus allen Teilen des Landes angereist sind, von den Torabi Übernachtungsplätze in leer stehenden Grabhöfen angeboten.
Mona war nicht überrascht, dass ihr am Morgen ihres achtzehnten Geburtstages niemand gratulierte, denn Geburtstage werden eher selten gefeiert. Laut Gesetz war sie nun volljährig, was innerhalb ägyptischer Familien allerdings kaum Konsequenzen hat. Denn die Söhne und Töchter bleiben so lange im Haus der Eltern wohnen, so lange sie nicht verheiratet sind und ebenso lange haben sie sich auch deren Anweisungen zu fügen. Diese Tradition wird nach wie vor weitgehend befolgt und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sich dieses Elternhaus auf einem Grabhof in Imam Al-Shafi’i befindet oder in einer der Stadtvillen im Nobelviertel Zamalek.
Für diesen Nachmittag hatte sich Mona etwas ganz besonderes vorgenommen – eine kleine Seereise, gemeinsam mit ihren Freundinnen Safaa und Rania. Zumindest nannten die Mädchen in ihrer Vorfreude das geplante Abenteuer so. Tatsächlich verbarg sich dahinter eine kurze Rundfahrt mit einem dieser Ausflugsschiffe auf dem Nil. Vielleicht eine halbe, vielleicht auch eine ganze Stunde – je nachdem was es kosten würde, denn das hatte Mona noch immer nicht in Erfahrung gebracht. So war die Hoffnung geblieben, dass das was die Mitschülerinnen aus den vermögenderen Familien ein „billiges Vergnügen“ nannten, auch für sie erschwinglich sein würde.
Vor dem kleinen, an den Rändern schon etwas blinden Spiegel stehend, begab sich Mona auf ein zielloses Suchen in Gesicht und Augen. Immer in der Hoffnung Antworten auf Fragen zu bekommen, die sie sich gar nicht gestellt hatte. Dies war nichts ungewöhnliches, denn auch in der Vergangenheit hatte das Mädchen gelegentlich, meist nachts wenn fast alle Familienmitglieder schliefen, hier im Durchgang zum Hof vor dem Spiegel gestanden. Dann waren dunkle Visionen aufgetaucht, die erst wieder verschwanden, nachdem sie diese in ihrem Heft notiert hatte. Aber sie schrieb auch über ihre Sehnsüchte, die Wunschträume eines ägyptischen Teenagers.
Der volle Mond macht die Nacht hell, aber mein Herz bleibt düster bis schwarz. Mir hatte mal jemand gesagt, am achtzehnten Geburtstag sei die Kindheit vorbei. Aber wer war das? Welche Kindheit überhaupt? Hatte ich ihm gesagt, dass ich gar keine richtige Kindheit hatte? Man hat mir die Kindheit gestohlen. Schön war mein Leben nur ganz am Anfang, als ich klein war und als mein Bruder Emad zur Welt kam und wir gemeinsam spielten. Aber dann bekam ich fast jedes Jahr ein Geschwisterchen und ich musste sie alle großziehen. Weil ich die Älteste sei, sagte meine Mutter. Wenn andere Kinder draußen spielten, musste ich meine Brüder und Schwestern baden und ihre Kleidung waschen. Meine Mutter stillte und kochte, das war alles. Warum durfte ich kein Kind sein, wie die freche Aya, die mit dem alten Fahrrad durch die Gegend tobt, das ihr irgendwer geschenkt hat? Oder wie mein Bruder Mahmoud, der oben auf dem Dach steht mit der großen Fahne und dem Eimer an den er mit dem Stock schlägt um Emads Tauben wieder anzulocken, die er zuvor aus ihrem Schlag gelassen hat? Oft sehne ich mich danach, woanders zu sein. Vielleicht bei meiner Teta in der Ewigkeit, wo ich endlich die Mona sein kann, die ich sein will. Vielleicht aber auch als Frau eines lieben Mannes, dem ich hilfreich zur Seite stehen will. Manchmal sehe ich ihn ganz deutlich vor mir: Er wird mein Liebling sein, mein Bruder, mein Sohn – kurz mein Alles. Ich werde ihn bis zum Ende meines Lebens lieben, ich werde ihm die beste Ehefrau sein und die Mutter seiner Kinder. Ich werde das offene Herz sein, das ihm in seiner Trauer oder seiner Not helfen wird. Falls er Ärger in der Arbeit hat und dann traurig oder missmutig nach Hause kommt, werde ich ihn mit einem schönen Lächeln oder einem netten Wort empfangen oder mit einer liebevollen Geste. Ich will ihn dann nicht belasten mit meinen Sorgen, wie es oft in den ausländischen Filmen zu sehen ist. Diese Frauen sind keine Hilfe für ihre Männer, sondern eine Last. Deshalb streiten sich diese Paare und gehen sogar auseinander. Und meinen Kindern will ich die Liebe geben und die Zärtlichkeit, die ich selbst von meiner Mutter fast nie bekommen habe. Ich will sie so erziehen, dass sie wissen, was richtig ist und was falsch und niemand muss sie mit einem Besenstil verprügeln, wie es mit mir geschehen ist. Irgendwann wird das Glück auch zu mir kommen – Insha’Allah! („So Allah es will!“)
Beim Blick in den Spiegel versucht Mona etwas über sich selbst zu erfahren. In ihrem Tagebuch taucht dieses Motiv immer wieder auf
An ihrem Geburtstagsmorgen blickte ihr aus jenem Spiegel eine völlig andere Mona entgegen. Es waren diesmal keine traurige Augen in die sie sah und für den Mund, den sie sonst immer als zu groß empfunden hatte, war ihr eine Schminktechnik gelungen, die ihn optisch kleiner erscheinen ließ. Mona war in guter Stimmung, erwartete sie doch an diesem Tag jenes außergewöhnliche Erlebnis, welches sie später ihrem Heft als Reise in eine andere Welt anvertrauen wird. Gleich würde sie Safaa und Rania abholen und mit ihnen gemeinsam für dieses Abenteuer den Besuch der Handelsschule schwänzen. Es waren ohnehin die letzten Wochen einer für Mona eher glücklosen zwölfjährigen Schulzeit, über deren augenscheinliche Erfolglosigkeit sie oft vor dem Spiegel nachgedacht hatte.
Warum nur hatte ich bei Prüfungen immer Bauchschmerzen und diese komischen Schwindelgefühle? Warum verstand ich die Fragen des Lehrers mit einem Mal nicht mehr, wenn er mich im Unterricht dran nahm? Obwohl ich zu Hause gelernt hatte. Wenn ich neben der ganzen Hausarbeit überhaupt dazu gekommen war. Warum geriet ich jedesmal in Panik, wenn mich der Lehrer nur ansah? Nur weil ich damit rechnen musste, dass er mich gleich etwas fragt? Weil ich dann aufstehen musste und alle zu mir blickten? Schrecklich! Ich weiß noch, als der Englischlehrer uns einmal zwanzig englische Worte und die Übersetzung ins Arabische abschreiben ließ. Die sollten wir auswendig lernen. Er nannte diese Worte „Vokabeln“, glaube ich. Die hatte ich auch gelernt, jeden Tag, immer wieder. Dann aber hatte er mich nach vorn geholt und wollte mich vor der ganzen Klasse abfragen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich einen Stein in meinem Kopf habe. So ging es mir immer. An der Handelsschule wurde ich mal gefragt, wie viel neunmal sieben ist. Sofort hatte ich wieder diesen Stein im Kopf. Dann fragte mich der Lehrer, wie viel zehnmal sieben ist und ich sagte: „Siebzig“. Das wusste ich auch trotz des Steins. Und dann wiederholte er die Frage wie viel neunmal sieben ist. Ich blickte in die Gesichter meiner Mitschülerinnen, von denen manche spöttisch schauten und manche mitleidig. Ich war völlig blockiert. Und dann rief ausgerechnet die dicke Zahra dazwischen, die keiner leiden konnte. Nicht weil sie dick war, sondern weil sie eine Streberin war, die sich immer nach vorn drängte und den Lehrern gefallen wollte. „Da musst du nur von den Siebzig sieben abziehen“, rief sie. Der Lehrer schaute mich erwartungsvoll an und ich dachte über das nach, was Zahra gesagt hatte. Wieso sollte ich denn von den Siebzig sieben abziehen, die Aufgabe war doch völlig anders … Als ich mich wieder setzte, hat mir meine Freundin Rania erklärt, was Zahra gemeint hatte. Wahrscheinlich hätte ich es auch selbst gewusst, wenn ich nicht da vorn gestanden hätte und von allen angegafft worden wäre und deshalb diesen Stein im Kopf gehabt hatte. So konnte man natürlich keine guten Noten bekommen. Aber wir Kinder aus den Grabhöfen hatten keine Eltern, die uns bei den Hausaufgaben helfen konnten. Mein Vater kann nicht mal lesen. Meine Mutter auch nicht. Aber sie geht jetzt noch mal zur Schule, wo sie es lernt. Obwohl sie ja keine junge Frau mehr ist, hat sie sich mit einer Nachbarin dort angemeldet. Die Ehefrau unseres Präsidenten schickt Lehrerinnen in die armen Gebiete, damit sie erwachsenen Frauen das Lesen und Schreiben beibringen. Ich bin sehr stolz auf meine Mutter und ich freue mich, wenn sie uns etwas vorliest, auch wenn sie dazu noch ziemlich lange braucht. Auch mein Vater wollte zu diesem Kurs, aber der wird nur für Frauen angeboten. Unsere Nachbarin hat gesagt, endlich würde auch mal was unternommen von der Regierung, was nur für die Frauen ist. Und dann haben wir gelacht – die Nachbarin, meine Mutter und ich.
Die kleine Grundschule, die ausschließlich von Kindern aus den Grabhöfen besucht wird, ist nur wenige hundert Meter von Monas Zuhause entfernt. Als ebenerdiger Bau zwischen Gräbern ist das Schulgebäude von außen als solches nicht erkennbar. Mahmoud und seine kleine Schwester Aya gehen noch immer dorthin und zweimal in der Woche nachmittags deren Mutter Nassra – zu jenem Alphabetisierungsprojekt, für das Ägyptens „First Lady“ Susanne Mubarak die Schirmherrschaft übernommen hat. An jenen Ort, an dem Mona einst ihre schulische Laufbahn begonnen hatte. Am Ende des ersten Schuljahres spielte sich hier jenes Ereignis ab, welches Mona später als ihr schönstes Kindheitserlebnis bezeichnen wird. Es war der Nachmittag nach dem letzten Schultag, als Mona ihre Mutter drängte, mit ihr hinüber zum Schulhof zu gehen. Mona war Nassras ältestes Kind und daher das erste, welches eine Schule besuchte. Schließlich warteten sie gemeinsam voller Erwartung auf den Aushang, der darüber informieren würde, welche Schüler in die nächste Klassenstufe versetzt worden waren und welche nicht. Als der Aushang dann endlich kam, musste die siebenjährige Mona feststellen, dass ihre Mutter diesen ebenso wenig lesen konnte, wie sie selbst. Es war die Schulpförtnerin die schließlich Monas Versetzung vermelden konnte. Fröhlich hatte Nassra die kleine Mona an der Hand genommen und auf dem kurzen Heimweg mehrfach jenen Triller von sich gegeben, wie er als Ausdruck von Freude und Anerkennung üblich ist. Der Triller entsteht, in dem man ganz schnell die Zungenspitze hin- und herbewegt und gleichzeitig einen hohen Ton ausstößt. Auf Hochzeiten kommt solch ein Triller zum Einsatz und alljährlich am Tag der landesweiten Verkündung der Abiturergebnisse ist er vielerorts in Kairos Straßen zu hören. Nun zollte Nassra ihrer Tochter damit Anerkennung und dies war für Mona jenes schönste Kindheitserlebnis. Eigentlich verbindet Mona noch ein zweites „schönes Kindheitserlebnis“ mit diesem Schulgebäude, welches zeitlich sogar noch davor liegt. Aber sie würde es niemals so nennen, weil diesem ein entsetzliches Ereignis vorausgegangen war. Auf den Tag genau einen Monat nach Monas erstem Schultag, bebte am Montag den 12. Oktober 1992 um 15.09 Uhr in Kairo die Erde – wenige Minuten nach Schulschluss. In der offiziellen Verlautbarung am kommenden Tag erfährt die interessierte Öffentlichkeit, dass das Epizentrum bei 29,5 Grad Nord / 31 Grad Ost gelegen und eine Stärke von 5,9 gehabt habe. Und weil sich unter dieser Ortsangabe offenbar kaum einer etwas vorstellen konnte, war dessen Lage mit „in der Nähe der Pyramiden“ beschrieben worden. Auf den Grabhöfen hatte man die Hoffnung, dass es weit genug entfernt sein würde, um für das Gebiet von Imam Al-Shafi’i ernsthafte Folgen zu haben. In der Nähe jedenfalls hat noch keiner je Pyramiden gesehen. Und so waren am Ende tatsächlich keiner der fünfundsechzig Toten und nur einige der mehr als vierhundert Verletzten hier draußen zu beklagen. Die Schüler der Grundschule mussten jene Naturgewalt im Schulhof eingesperrt erleben, wo sie zum Schulschluss üblicherweise darauf warteten, dass ihnen die Schulpförtnerin die große Eisentür aufschloss. In dieser Situation erlebten sie, wie die Erde zu zittern begann, die Fensterscheiben zerbarsten und ein alter Baum in der Ecke des Hofes umknickte. Die Kinder fingen an zu schreien und die Kleineren krallten sich in ihrem Schrecken an den Älteren fest. Mona war vor Angst wie angewurzelt stehen geblieben und brachte keinen Ton heraus. Das ganze Ereignis dauerte kaum eine Minute, dann hatte sich die Erde wieder beruhigt. Nun erst kam die Schulpförtnerin aus dem Haus gelaufen und schloss die Eisentüre auf. Zwei Eindrücke haben sich in Monas Erinnerung eingeprägt. Zunächst der, dass sie und die anderen Kinder in ihrer Not allein gelassen worden waren. Keiner der Lehrer war zu ihnen gekommen. Und auch, als dann das Hoftor geöffnet worden war, hatten die Lehrkräfte geradezu panisch das Weite gesucht, ohne sich darum zu kümmern, ob es unter ihren Schülern möglicherweise Verletzte gab. Mona fühlte sich von jenen verlassen, zu denen sie bis dahin aufgeblickt, ja diese geradezu verehrt hatte. Der zweite Eindruck war ein positiver und er hätte ebenfalls zu einem der „schönsten Kindheitserlebnisse“ werden könne, wäre damit eben nicht jenes schreckliche Ereignis verbunden.
Als ich mit den anderen Schülern langsam vom Schulhof auf die Straße hinausging, sah ich den Mann auf mich zukommen, der neben unserem Hof den kleinen Kiosk betreibt. Er nahm mich auf die Arme und trug mich nach Hause. Er versuchte mich zu beruhigen. Er erzählte mir, dass sich meine Mutter große Sorgen gemacht habe und ihn zur Schule hinüber geschickt hätte, um mich zu holen. Sie musste ja zu Hause drei Kinder beaufsichtigen. Die Kleinste war damals Hoda, die kurz zuvor geboren worden war. Wie sollte meine Mutter da zur Schule kommen? Aber es hat mich gefreut, dass sie den Nachbarn nach mir schickte. Und als er mich dann auf seinen starken Armen nach Hause getragen hatte, setzte meine Mutter die schreiende Hoda einfach auf den Fußboden und schloss mich in ihre Arme. Sie weinte Freudentränen und strich mir immer wieder mit der Hand über den Kopf. Wie oft habe ich mich später danach gesehnt, dass sie das noch einmal machen würde? Aber natürlich wollte ich nicht, dass zuvor ein Erdbeben stattfindet.
Nur wenige der Grabhof-Kinder wechseln nach der sechsten Grundschulklasse auf die Mittelschule im angrenzenden Stadtbezirk Tonsy. Bei Mona war lange unklar, ob man sie dorthin schicken würde, obgleich die Lehrerschaft das zurückhaltende schöne Mädchen ins Herz geschlossen hatte. Als sich aber nach der Wiederholung der fünften Klasse zeitweilig Monas Zensuren verbesserten, gab man ihr diese Chance.
Die Gebäude der Mittelschule im benachbarten Tonsy
Mona in ihrem ehemaligen Klassenraum
Ich kam auf die Mittelschule. In dieser Zeit mochte ich besonders Musik, Malen und auch Sport, der meinen Körper erfrischte, obwohl ich damals nicht so schlank war wie heute. Es waren schöne Jahre, an die ich immer gern zurückdenke – die schönsten Jahre meines Lebens. Ich vermisse meine Lehrer, meine Lehrerinnen, die sich mit mir viel Mühe gegeben haben. Aber trotzdem hatte ich am Ende des dritten Jahres der Mittelstufe zwei Nachprüfungen, die ich zwar bestand, aber mit sehr schlechten Noten. Ich verstand nicht viel und konzentrierte mich zu wenig auf die Fragen. Ich dachte nur an meine Hobbys: Malen und Musik. Ich hatte wenig Kontakt zu meinen Mitschülerinnen, die mich immer ärgerten, weil ich anders war. Sie zogen mir die Spangen aus den Haaren und schmissen sie aus dem Klassenfenster oder kippten meine Schultasche aus. Aber ich habe mir nichts anmerken lassen. Das hat sie sehr geärgert. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich auf dem Heimweg oft geweint habe.
Mona galt in ihrer schulischen Umgebung weniger deshalb als Außenseiterin, weil sie malte und Musik liebte, als vielmehr, weil sie aus der „Totenstadt“ kam, wie ihr Wohngebiet auch hier genannt wurde. Ihre Klassenkameradinnen aus den Mehrfamilienhäusern in Tonsy oder Imam-el-Leithy wohnten keineswegs exklusiver, ihre Väter hatten nicht unbedingt eine höhere Bildung als Monas Vater Hamdi und bestenfalls ein unwesentlich höheres Einkommen. Dennoch nutzten einige von ihnen die Herkunft aus einer anderen Wohngegend, um sich über sie zu erheben. Dies geschah nahezu unwidersprochen, weil Mona in ihrer Klasse das einzige Mädchen gewesen ist, das auf einem Grabhof zu Hause war. In den Parallelklassen waren die Grabhofkinder zu zweit oder zu dritt und konnten sich folglich miteinander gegen die anderen solidarisieren.
Der anschließende Besuch der „Handelsschule“ war eine Empfehlung von Frau Nagwa, die an der Mittelschule von Tonsy Arabisch und Mathematik unterrichtete. Der erfahrenen Lehrkraft war klar, dass Mona sich nicht für den Besuch der regulären Oberschule eignete. Das machte bei Mädchen überhaupt nur Sinn, wenn absehbar war, dass sie anschließend auch eine Universität besuchen würden. Aber aus dem Kreis der Grabhofkinder hatte es im Gegensatz zu den Söhnen einiger Torabi, noch keinen solchen Fall gegeben. Jedenfalls erinnerte sich Frau Nagwa an keinen solchen Fall. Schon seit Beginn ihrer Tätigkeit hier vor zweiunddreißig Jahren waren Schüler von jener Grundschule an ihr Institut gekommen – kurz nachdem die wachsende Besiedelung der Grabhöfe deren Einrichtung erforderlich werden ließ. Denn seit der großen Landflucht, die in den 1970er Jahren begann, haben die neuen Bewohner der Grabhöfe hier ihre Kinder zur Welt gebracht. Auch sämtliche Geschwister von Mona sind hier geboren. Nur sie selbst war noch in Kafr Abou Tesht zur Welt, aber schon im Alter von vierzig Tagen nach Imam Al-Shafi’i gekommen. Hierher, wo auch ihre Mutter groß geworden war, die ja nur nach Oberägypten gefahren war, um dort ihren Cousin zu heiraten. Von einem der Torabi haben sie den Grabhof zugewiesen bekommen, in dem sie jetzt leben. Den Grabmeistern, gegen deren Widerspruch die Besitznahme eines Grabhofes nicht möglich sein würde, waren jene als billige Arbeitskräfte einsetzbaren neuen Bewohner von jeher willkommen – und deren Kinder mussten unterrichtet werden.
Niemand weiß, wie viele Menschen mittlerweile in den beiden Totenstädten leben. Die letzten verlässlichen Zahlen hatte 1986 der Journalist Mamdouh El Waly veröffentlicht. Demnach wohnten damals in den Grabhöfen von Imam Al-Shafi’i (südliche Totenstadt) und Basatin (nördliche Totenstadt) zusammen 12419 Menschen. Inzwischen aber muss von einem Vielfachen an Bewohnern ausgegangen werden.
Die „Handelsschule“, welche Mona schließlich besuchte, wurde nur von Eltern und Schülerinnen so genannt und war eine Art Fachschule. Üblicherweise besuchen die Jungens den technischen Zweig einer solchen, um Klempner oder Elektriker zu werden. Der Zweig aber, der „Handelsschule“ genannt wurde, hatte die Qualifizierung zur Buchhalterin zum Ziel und wird ausschließlich von Mädchen besucht. Je nach Lernleistung werden die Absolventinnen entweder tatsächlich Buchhalterinnen oder aber sie machen Jobs wie den einer Kassiererin in einem der zahlreichen Supermärkte. Wobei die Buchhalterinnen für kleine und mittelständische Unternehmer ideale Schwiegertöchter darstellen.
An Monas erstem Schultag an diesem Institut hatte sie Safaa und Rania kennen gelernt. Noch bevor der Unterricht begonnen hatte, im Hof vor einem schwarzen Brett. Die neuen Schülerinnen studierten einen Aushang, der jede einzelne von ihnen darüber informierte, in welchem Klassenraum sie sich anschließend einzufinden hatte. Hier gab es Schülerinnen, die im Gegensatz zu denen in Tonsy tatsächlich aus vermögenderen Kreisen kamen. Mona konnte das sofort an deren Kleidung erkennen. Denn obgleich alle die dunkelblaue Schuluniform trugen, war der Unterschied unübersehbar. Nämlich zwischen der mehrfach ausgebesserten, von Monas Vater im Schulbüro gebraucht gekauften Uniform und den aus besserem Material maßgeschneiderten jener Mitschülerinnen. Und weil die Uniformen von Safaa und Rania so ähnlich aussahen wie ihre eigene, hatte Mona die Nähe der beiden Mädchen gesucht. Sie kamen ins Gespräch und beschlossen, sich im Klassenraum ein Dreier-Pult zu teilen. Fortan waren sie die engsten Freundinnen. Ihr Zusammenhalt wurde zu einem Schutz gegen potentielle Anfeindungen und sie solidarisierten sich miteinander auch in der Mittelmäßigkeit ihrer schulischen Leistungen – abgesehen von Ranias mathematischem Talent.
Nun, kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit, wollten die drei Mädchen eine abenteuerliche Reise unternehmen. Wenngleich dieser Trip nur einen halben Tag dauern würde, so sollte es eine Reise in eine andere Welt werden. Das ahnten sie zumindest und darauf freuten sie sich.