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Frühmittelalterliche Landnahme und Entfaltung der Grundherrschaft
ОглавлениеDas Frühe Mittelalter begann nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches im späten 5. Jahrhundert mit einer politischen, ökonomischen und wohl auch klimatischen Krisenphase. Es war eine Zeit der Völkerwanderungen: Größere Bevölkerungsgruppen wanderten aus Mitteleuro pa ab, zahlreiche ländliche Siedlungen wurden aufgegeben und ehemalige Ackerflächen wieder vom Wald eingenommen.
Doch die Phase der Siedlungsleere und Wiederbewaldung dauerte nicht allzu lange. Bereits ab dem 7. Jahrhundert kam es nach und nach zu einer Wiederbesiedlung, die man als »frühmittelalterliche Landnahme« bezeichnet. Der Neuanfang fand sowohl im »römischen« Teil Süd- und Westdeutschlands als auch nördlich der Mittelgebirge statt. Während sich im südlichen und westlichen Deutschland vor allem die Franken und Alemannen niederließen, wurden die norddeutschen Regionen vornehmlich von Sachsen und Friesen in Besitz genommen.1 Die Siedlungsgründungen dieser frühen Zeit lassen sich bis heute vielfach an ihren Ortsnamenendungen ablesen und damit auch datieren. So werden die süddeutschen »-ingen«-Orte der alemannischen Landnahmezeit und die norddeutschen »-hausen«-Orte der sächsischen Landnahmezeit zugeordnet. Bei der Siedlungsgröße des Frühmittelalters um 750 können wir überwiegend von locker bebauten Weilern ausgehen.
In der Karolingerzeit des 8. und 9. Jahrhunderts wurden vor allem die bestehenden Siedlungen ausgebaut: Durch einen Anstieg der Bevölkerung kam es zu einer allmählichen Verdichtung bzw. »Verdorfung« der ursprünglich aufgelockert bebauten Kleinsiedlungen. Die wichtigste Aufgabe der karolingischen Politik lag somit weniger in Siedlungsneugründungen als vielmehr in der »inneren Organisation« und Eingliederung der bestehenden Siedlungslandschaft in das Frankenreich. Das bedeutete vor allem den Bau von Kirchen und die Einrichtung von Pfarreien. Wichtige Pionierarbeit leisteten hierbei die Bischofssitze und Klöster, die nun in allen Regionen errichtet wurden. Die Dorfkirchen bekamen sofort einen hohen Stellenwert: Sie waren meist als einzige Gebäude der frühmittelalterlichen Siedlungen massive Steinbauten, die kleinen Festungen glichen und häufig durch ihre Lage auf einer Anhöhe besonders exponiert waren. In Notzeiten hatten die Kirchen zugleich Wehr- und Schutzaufgaben zu erfüllen. Nach Beendigung des karolingischen Siedlungsausbaus im 11. Jahrhundert dürften bereits drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen in Deutschland bestanden haben.
Nicht nur Burgen und Kirchen, sondern auch Bauernhöfe und Dörfer waren im Mittelalter befestigt. Man wählte hierzu Steinmauern, Erdwälle, Holzpalisaden oder Wassergräben. Hier die Modellzeichnung eines Dorfes um 1000 n. Chr.
Klöster waren Pioniere bei der Verbreitung der Glaubens-, Buch- und Agrarkultur auf dem Lande seit dem Frühen Mittelalter, hier das Kloster Eberbach im Rheingau.
Mit der Christianisierung im Frühen Mittelalter bekamen die meisten Dörfer eine Kirche. Meist waren es prächtige Bauten aus Stein, wie hier in Einhausen in Thüringen.
Ein Hauptkennzeichen des ökonomischen und sozialen Lebens auf dem Land im Mittelalter war die mehrfache Abhängigkeit der Bewohner von der Grundherrschaft. Basis hierfür war das Eigentumsrecht des Grundherren am Boden, den er in eigenen Gütern selbst bewirtschaftete oder an Bauern zu Lehen gab, d.h. zur Nutzung verlieh. Oberster Grundherr war der König, dem das Obereigentum an allem Land zustand. Vom König gelangte das Land bereits im Frühmittelalter als Lehen in die Hände des Adels und der Kirche. Von der »Hohen Leihe« der Herzöge, Grafen, Bischöfe und Reichsäbte ging das Land nach und nach an die »Untere Leihe« der Ritter, Dienstmannen und Äbte. So bildete sich allmählich eine Lehenskette von oben nach unten heraus2 – für die Bauern blieb in der Regel nur das Nutzungsrecht am Boden. Zur Grundherrschaft über den Boden kam häufig die sog. »Leibherrschaft« hinzu. Die Bauern waren damit auch persönlich unfrei oder »hörig« bis hin zur »Leibeigenschaft«, hier gab es allerdings viele Abstufungen und große regionale Unterschiede. Zur weitesten Form der Leibeigenschaft gehörte es, dass der Bauer die Grundherrschaft nicht ohne die Erlaubnis des Grundherren verlassen durfte. Neben der Boden- und Leibherrschaft gab es in der Regel als Drittes die Gerichtsherrschaft. Der Grundherr hatte den Richter zu bestellen und zu unterhalten, wobei dieser häufig zugleich als Amtmann oder Schreiber der Grundherrschaft tätig war (woraus sich durchaus Interessenkonflikte ergeben konnten). Aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Lehen oder Lehnsgut bezeichnet man diese Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auch als Feudalismus (abgeleitet vom lateinischen Wort feudum = Lehnsgut), sie dominierte das Landleben über 1000 Jahre vom Frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Über Deutschland verteilt, entwickelten sich mindestens neun unterschiedliche Typen von Grundherrschaften.3
Die allmähliche Entfaltung des feudalen Agrarsystems im Frühen Mittelalter hatte verschiedene Gründe. Basis war die Einführung des fränkischen Rechts mit der Unterscheidung zwischen Obereigentum und Nutzungsrecht am Boden durch den Aufbau der Lehenskette. Durch die beginnende Intensivierung der Landwirtschaft kam es zu einer allmählichen Trennung der wichtigsten Aufgaben der Landbewohner, die ursprünglich zugleich Bauern und Krieger waren. Auf der einen Seite entstand nun die berittene Berufskriegerschicht, die bald zum Adel aufrückte, und auf der anderen Seite der Ackermann, der sich jetzt ganz seiner Hofstelle widmen konnte. Ein weiterer Grund für die Bildung der unterschiedlichen Stände waren die politischen Wirren des Frühen Mittelalters – die weltlichen und geistlichen Grundherren hatten die wichtigsten militärischen und politischen Aufgaben an sich gezogen, sodass viele Bauern sich ihrer Autorität fügten und freiwillig ihren Schutz suchten.4
Der auf einem Podium am Pult sitzende Grundherr empfängt eine Gruppe von abhängigen Bauern, um seine Ankündigungen mitzuteilen. Die Bauern haben ihr Arbeitsgerät dabei und heben als Zeichen der Ehrenbezeugung die rechte Hand (15. Jh.).
Simon Bening malte um 1540 dieses Monatsbild Juli: Es zeigt Bauern bei der Heuernte vor einem ansehnlichen Gehöft in einer harmonischen Landschaft.
Tatsächlich war das komplexe Dienst-Lehen-Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern eine wechselseitige Beziehung des Gebens und Nehmens. Die Bauern leisteten für ihr Nutzungsrecht am Boden Dienste und Abgaben, während der Grundherr seinen hörigen Bauern zu »Schutz und Schirm« verpflichtet war, z.B. in Kriegs- und Notzeiten. So heißt es im Schwabenspiegel, dem wichtigsten süddeutschen Rechtsbuch des 13. Jahrhunderts: »Wir sullen den herrn darumbe dienen, daz sie uns beschirmen. Beschirmen si uns nit, so sind wir inen nicht dienstes schuldig nach rechte.«5 Allerdings sollte man das Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern nicht idealisieren – es war ein Machtverhältnis und keine freiwillige Arbeitsteilung. »Die zahlreichen Konflikte, die immer wieder zwischen Grundherren und Bauern über Abgaben und Dienste ausbrechen, und vor allem die blutigen Bauernaufstände des Hoch- und Spätmittelalters sind unleugbare Beweise gegen eine allzu harmonische Bewertung des grundherrlich-bäuerlichen Verhältnisses.«6
Mit Rittern besetzte Burgen entstanden während des gesamten Mittelalters zu Tausenden auf dem Lande. Sie waren strategische Festungen von Adel und Landesherren zur Ausbreitung ihrer Macht. Hier die imposante Burg Eltz an der Mosel.
Doch was bestimmte nun den Alltag der Landbewohner im Frühen Mittelalter? Er war geprägt von der ständigen Sorge um das tägliche Brot. Mangel, Hunger und Elend waren an der Tagesordnung. Harte Arbeit vom Morgengrauen bis nach Sonnenuntergang bestimmte das Leben der Bauern und Bäuerinnen auf dem Feld, in Haus und Hof. Werner Rösener, einer der besten Kenner des mittel alterlichen Landlebens, zieht eine sehr nüchterne Bilanz, die in keiner Weise manchen Vorstellungen von der »guten alten Zeit« entspricht: »Die Angst war eine Grunderfahrung des bäuerlichen Daseins; sie wirkte in die Alltagswelt hinein und prägte sie mit all ihren bedrohlichen Seiten. Das bäuerliche Leben stand im Zeichen von Unsicherheit und Krankheit, von Naturgewalten und Unglücksfällen, von Krieg und herrschaftlichem Zwang. Allgegenwärtiger noch als der Krieg waren den mittelalterlichen Bauern die Naturgewalten, denen sie im Sommer und Winter, in Hitze und Kälte, in Regen- und Trockenperioden ausgesetzt waren«.7