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Die Wirtschaftsstruktur des Landes ist in den letzten 200 Jahren vielfältiger geworden. In vielen Dörfern, wie in Bestwig (NRW), finden sich heute Industrie- und Dienstleistungsbetriebe.

Vom Wirtschaftsriesen zum Sorgenkind?

Der ökonomische Wandel des Landes von 1800 bis heute

Deutschland hat sich in den letzten 200 Jahren von einer Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verändert. Dies bedeutet vor allem, dass die Land- und Forstwirtschaft ihre führende Wirtschaftsrolle im Staat eingebüßt haben. Dieser Rückgang trifft natürlich in besonderer Weise das Land als den klassischen Agrarraum. Doch ist der ländliche Raum nun das ökonomische Armenhaus der Nation geworden im Vergleich zu den Großstädten und Verdichtungsregionen? Keineswegs! Beim genauen Hinschauen zeigt er sich heute als ein stabiler und vielseitiger Wirtschaftsraum innerhalb des Gesamtstaates.

Noch um 1800 war Deutschland eine lupenreine Agrargesellschaft. Etwa 80 % der Erwerbspersonen arbeiteten in der Land- und Forstwirtschaft, lediglich jeweils 10 % im sekundären (Gewerbe) und im tertiären Wirtschaftssektor (Dienstleistungen). Der ländliche Raum hatte eine dominierende wirtschaftliche Stellung innerhalb des Staates inne. Hier wohnte und arbeitete die große Mehrheit der Menschen, hier wurden die meisten Güter produziert. Auch durch die Nutzung seiner großen Energiepotenziale wie Wald bzw. Holz und Wasser lag das Land weit vorn.

Mit der um 1820/1830 beginnenden Industrialisierung und der gleichzeitig einsetzenden Verstädterung verschoben sich allmählich die Gewichte. Bereits im Jahr 1900 lag der Anteil der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft nur noch bei 35 %, um schließlich bis heute auf unter 3 % abzusinken. Auf Kosten der Land- und Forstwirtschaft vergrößerte sich zunächst der Anteil von Gewerbe und Industrie. Verstärkt seit dem 20. Jahrhundert entwickelte sich dann auch der Anteil der Dienstleistungen, der heute bei etwa 60 % liegt und wohl noch weiter steigen wird. Die beiden anwachsenden Wirtschaftssektoren etablierten sich zunächst überwiegend in den Städten und Verdichtungsgebieten. Hier konzentrierten sich Arbeitsplätze, Kapital, Verwaltungen, Sozial- und Bildungseinrichtungen, sodass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre überwiegend zulasten des ländlichen Raumes verlief.

Die Agrarwirtschaft ist heute selbst im ländlichen Raum generell nur noch die dritte Kraft gegenüber dem sekundären und tertiären Wirtschaftssektor. Sie dominiert lediglich noch in den kleineren Dörfern bis etwa 500 Einwohnern – bereits in den mittelgroßen Dörfern ab etwa 800 Einwohnern ist die Agrarwirtschaft bezüglich der lokalen Arbeitsplätze in der Regel in der Minderheit. Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen sind auch in ländliche Regionen und Dörfer stark eingezogen bzw. haben sich dort aus den Anfängen im Handwerk und Handel entwickelt.

Zwar ist heute längst nicht mehr die ganze Breite der Handwerks- und Gewerbezweige – wie noch vor 50 Jahren – in den mittelgroßen Dörfern vertreten. So sind z.B. Schmied, Schneider oder Schuhmacher praktisch aus den Dörfern verschwunden. Gleichwohl konnten sich zahlreiche Handwerksbetriebe in den Dörfern halten und durch exzellente Arbeiten einen überdörflichen und häufig sogar überregionalen Markt aufbauen, der nicht selten bis in die benachbarten Großstädte und Ballungszentren hineinreicht. Zu nennen sind hier u.a. das Sanitär-, Heizungsbau-, Elektro-, Kraftfahrzeug-, Tischler- und Bauhandwerk. Manchmal gelingt es hoch spezialisierten Handwerkszweigen auf dem Land, ihre Standorte bundesweit bekannt zu machen. So gilt die südbadische Kleinstadt Waldkirch immer noch als Metropole des deutschen Orgelbaus37 und die sächsische Kleinstadt Glashütte als Zentrum der deutschen Uhrenindustrie. Traditionelle Schwerpunkte des Landhandels waren früher der Landmaschinen- und Baustoffhandel. Sie sind zwar nicht mehr in jedem größeren Dorf vertreten, finden sich jedoch in ländlichen Regionen in ausreichender Dichte.

Neben dem Handwerk hat sich in vielen ländlichen Re gionen Deutschlands eine starke mittelständische Industrie entwickelt. So sind heute Schwerpunkte des deutschen Maschinenbaus und der Elektroindustrie in ländlichen Gebieten z.B. Baden-Württembergs, Westfalens und Niedersachsens anzutreffen. Beispielsweise haben sich in der Kleinstadt Damme nördlich von Osnabrück zwei Landmaschinenhersteller etabliert, die zu den Weltmarktführern im Segment Kartoffelpflanz- und Kartoffelerntemaschinen gehören. Ein Marktführer der deutschen Solarthermie-Industrie residiert im Rittergut »Zur Abgunst« im nordhessischen Trendelburg.


Erwerbsstruktur in Deutschland von 1800 bis heute

Quelle: Deutsches Statistisches Bundesamt 2019 (destatis)

https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw013.html

Auch der Anteil und die Breite der Dienstleistungsberufe wächst auf dem Land ständig: Architektur- und Versicherungsbüros, Steuerberater, Physiotherapie, Logopädie, Büros für Soft- und Hardwareentwicklung, Consultingfirmen aller Art, Altenpflegeeinrichtungen oder Taxi- und Busunternehmen finden sich inzwischen wie selbstverständlich in den Dörfern und sitzen nicht selten in umgenutzten älteren Bauernhäusern. Selbst überregional bekannte und ausstrahlende Hochschulstandorte, Berufs- und Fortbildungsakademien sind in Dörfer, Klein- und Mittelstädten angesiedelt, wie die Beispiele Hohenheim, Weihenstephan, Witzenhausen, Tharandt, Eberswalde oder Schloss Reichartshausen in Oestrich-Winkel zeigen. Nicht zuletzt ist der moderne Tourismus zu einer neuen Lebensader für viele ländliche Regionen geworden. Dies gilt für nahezu alle Küsten und Inseln der Nord- und Ostsee, für die Mittel- und Hochgebirge, das Alpenvorland, die zahlreichen Binnenseegebiete, die Weinbauregionen, die regionalen Freilichtmuseen sowie für die Rad- und Wanderstrecken kreuz und quer durch Deutschland.

Generell verlief die ökonomische Entwicklung des ländlichen Raumes in Deutschland nicht überall gleich. Manche Regionen haben sich bis heute kaum von ihrer traditionellen land- und forstwirtschaftlichen Basis entfernt. Durch fehlende außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze kam es hier vielfach zu Abwanderungen und Infrastrukturverlusten. Oft bildete sich eine negative Wirkungskette, die dann zu anhaltenden Strukturschwächen führte. Man spricht auch vom »regionalen Teufelskreis«, wobei mit jedem Umlauf eine Verschlechterung der Situation eintritt. Andere Regionen sind inzwischen bestens ausgestattet mit Gewerbe- und Industriebetrieben, wieder andere profitieren vom Bäder-, Erholungs- und Freizeittourismus. So stehen heute zahlreiche ökonomisch kraftvolle und strukturschwache, schrumpfende Regionen im ländlichen Raum nebeneinander. Vor allem für Letztere hat die Dorfpolitik Sorge zu tragen.

Trotz Verstädterung und ökonomischer »Schrumpfung« ist der ländliche Raum auch heute noch eine beachtliche Größe im Staatsganzen. Nach den Kriterien der Raumordnung umfasst der ländliche Raum immer noch etwa 90,5 % der Gesamtfläche und etwa 56,4 % der Bevölkerung des Staates. Diesem Anteil der Bevölkerung dürfte auch etwa der tatsächliche Umfang der Arbeitsplätze im ländlichen Raum entsprechen. Nimmt man jedoch alle Landkreise zusammen, sind hier nach Angaben des Deutschen Landkreistages 58,6 % aller deutschen Arbeitsplätze angesiedelt, werden hier 56,6 % der deutschen Wirtschaftsleistung (Bruttowertschöpfung) erbracht.38 Die Großstädte und Verdichtungsgebiete besitzen allerdings gegenüber dem ländlichen Raum ein höheres Angebot an hoch qualifizierten Dienstleistungsplätzen in Wirtschaft, Forschung, Bildung, Medizin und Verwaltung. Dies führt dazu, dass starke Pendelwanderungen zwischen ländlichen Regionen und großstädtischen Ballungsregionen stattfinden, wobei diese durchaus in beide Richtungen gehen. Pendelbewegungen sind keineswegs auf ländliche Regionen beschränkt: So wurden in Nordrhein-Westfalen die größten durchschnittlichen Pendelentfernungen (von 22,8 bis 24,2 km/Tag) bei den Bewohnern der Großstädte des Metropolraumes Rhein/Ruhr wie Hamm, Mönchenglad bach, Dortmund, Oberhausen und Bottrop ermittelt, während die meisten Landkreise unter dem Landesdurchschnitt (von 20 km/Tag) liegen.39


Die Landwirtschaft und das ihr vor- und nachgelagerte Gewerbe sind nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsbereich auf dem Lande, hier ein Blick auf den Betrieb eines Landmaschinenhändlers.

Die Gewichtsverschiebungen von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft haben nicht generell dazu geführt, dass man den ländlichen Raum heute als deren Verlierer oder als ökonomischen Zwerg bezeichnen könnte. In vielen Regionen Deutschlands verfügt der ländliche Raum über eine ausgewogene und robuste Wirtschaftsstruktur, was auf die hier vorherrschenden flexibel agierenden mittelständischen Betriebe zurückgeführt wird. Zahlreiche Weltmarktführer residieren heute in Dörfern und Kleinstädten. Auch die Arbeitslosenquote ist auf dem Land überwiegend deutlich niedriger als in den Großstädten. Ein Plus des ländlichen Raumes sind, so bemerkte etwa der Leiter eines ländlichen Arbeitsamtes, sei ne zuverlässigen, motivierten und nicht zuletzt auch bodenstän digen Arbeitskräfte. Zu den positiven »weichen« Wirtschaftsfaktoren des Landes gehören aber auch ein deutlich niedrigerer Krankenstand, eine niedrigere Kriminalität sowie höhere Aufklärungsquoten bei Verbrechen. Ein Kennzeichen der Wirtschaftsstruktur ländlicher Gemeinden ist der höhere Anteil der Selbst ständi gen sowie der Familienbetriebe. Außerdem sind hier die Kleinbetriebe häufiger vertreten als im großstädtischen Raum. Dagegen sind die Anteile der Angestellten und Beamten im Dienstleistungsbereich im ländlichen Raum geringer.

In den Dörfern und Kleinstädten des ländlichen Raumes herrscht heute ein relativ hoher ökonomischer Standard bzw. Wohlstand, der allerdings nicht unbedingt aus allen Statistiken (wie z.B. Kaufkraft und Einkommen) ablesbar ist. Wir haben auf dem Land beispielsweise eine sehr hohe Eigenheimquote, die mit über 80 % mehr als doppelt so hoch wie in den Großstädten ist. Außerdem tragen informelles Wirtschaften und soziales Kapital zum Wohlstand auf dem Land bei.40 Die Menschen helfen sich gegenseitig – generell mehr als in der Stadt – mit Gütern und Dienstleistungen. Dies gilt traditionell für Bau- und Gartenarbeiten, für den Austausch von Gartenprodukten oder die Betreuung von Kindern und älteren Menschen. Drei Soziologinnen der Universität Bielefeld haben zwei Jahre lang zwei Dörfer der Warburger Börde durch »teilnehmende Beobachtung« intensiv untersucht. Ihre Hauptfrage richtete sich auf den »gesellschaftlichen Reichtum« der Dörfer. Hier ihre Bilanz: »Den Menschen auf dem Land, zumindest in der Warburger Börde, geht es besser als Menschen anderer Einkommensklassen in der Stadt. Man ist besser situiert. Hier hat jeder sein Haus. Es ist entweder ererbt, oder genauso oft wird neu gebaut, wenn sich eine Familie gründet. Grundstücke sind billig, häufig wird auf eigenem Familiengrund gebaut. Das Ergebnis ist, dass man räumlich sehr großzügig wohnt. Jedes Haus hat seinen Garten, aus dem viel für den Haushalt geholt werden kann.«41

Ein großes Plus des Landes ist die weit überdurchschnittliche Zufriedenheit seiner Bewohner mit ihrem Wohnumfeld: Sie liegt zwischen 80 und 90 % und ist damit etwa doppelt so hoch wie in den Großstädten. Eine Theorie aus den Wirtschaftswissenschaften besagt, dass Wirtschaftsbetriebe sich am günstigsten dort ansiedeln, wo Menschen sich wohlfühlen und ein Umfeld vorfinden, das ihnen erlaubt, produktiv zu sein. Die zufriedenen Einwohner sind also ein weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes.


In vielen Dörfern ist der Tourismus heute zu einem wirtschaftlichen Standbein geworden, vor allem an den Küsten und Binnenseen, am Alpenrand und in den Mittelgebirgen: hier der Dorfkern von Saalhausen im westfälischen Sauerland mit seinen gepflegten, für die Region typischen schiefergedeckten Fachwerkhäusern. Das im Lennetal gelegene Saalhausen hat sich als Bundesgolddorf und Kneippkurort mit dem 2015 am Dorfrand neu angelegten Kurpark »TalVITAL« qualifiziert.

Das Dorf

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