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»Die Welt muß romantisiert werden« – Frühromantische Gruppenbildung, Literaturpolitik und Programmatik
Die Phase der Frühromantik ist vergleichsweise kurz, reduziert sie sich doch – sieht man einmal von den üblichen Inkubationszeiten solcher Strömungen ab – auf die zweite Hälfte der 1790er Jahre. In diese ca. 5 bis 6 Jahre fallen die Freundschaft zwischen Wackenroder und Tieck (die mit dem frühen Tod des Ersteren 1798 endet), zwischen Tieck und Novalis (die mit dem ebenso frühen Tod Novalis’ 1801 endet) sowie zwischen Friedrich Schlegel (1772 – 1829) und Novalis. Ebenfalls hier verortet ist die Zusammenarbeit der Gebrüder Schlegel, die zwischen 1798 und 1800 gemeinsam das erste romantische Publikationsorgan, das Athenäum, herausgeben, die als skandalös geltende Beziehung zwischen Friedrich und der damals noch verheirateten Bankiersgattin Dorothea Veit (1763 – 1839), die Beziehung zwischen August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845) und seiner Frau Caroline (1763 – 1809), die dann wenig später Schlegel für den Philosophen Schelling (1775 – 1854) sitzen lässt.
Wechselnde Gruppenbildungen und Jena als wichtiges Zentrum
Die kurzzeitigen Zentren der instabilen und ständig im Fluss begriffenen, romantischen Geselligkeiten sind Jena, Berlin und dann wieder Jena. Im August 1796 ziehen die Schlegels auf Einladung Schillers, mit dem sie sich später heillos überwerfen, nach Jena und knüpfen dort auch Kontakte mit Fichte. Im Juli 1797, nach dem Zerwürfnis mit Schiller, zieht Friedrich Schlegel wieder nach Berlin, verkehrt dort in den literarischen Salons der Rahel Levin und Henriette Herz und beginnt eine Liebesaffäre mit Dorothea Veit. Hier lernt er auch den Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und den Dichter und Übersetzer |16◄ ►17| Ludwig Tieck kennen. Diese Berliner Periode dauert bis in den Spätsommer 1799. Das dritte größere Zusammentreffen, September 1799 bis etwa April 1800, ist das wichtigste – zumindest hat es als Konstitution der sogenannten »Jenaer Romantik« am meisten von sich reden gemacht. Hier treffen August Wilhelm und seine Frau Caroline mit Friedrich und Dorothea, Ludwig Tieck und seiner Frau sowie Novalis zusammen. Auf »Symphilosophie« und »Sympoesie«, also auf eine neue Form gemeinschaftlicher Kulturproduktion unter Wahrung der größtmöglichen Freiheit der beteiligten Individuen zielen Friedrich Schlegel zufolge alle diese vorübergehenden Romantiker-Bünde und die neuen Formen der Geselligkeit in der Frühphase. Das ist groß gedacht und geht natürlich – im Großen und Ganzen gesehen – am Ende schief. Der jugendbewegte Elan des schönen Chaos – die meisten der beteiligten Akteure befinden sich noch in ihren 20ern – verebbt, die Projekte scheitern, die hochfliegenden Pläne, das Experiment einer Gemeinschaftlichkeit ohne Zwang und feste Regeln – sie geraten in den Sog der Fliehkräfte des Allzumenschlichen. Um 1801/02 kommt es zum Zerfall der ohnehin nur lose gefügten Gruppe. Friedrich Schlegel beginnt – auf der Suche nach ordnungsstiftenden ideellen Bezugssystemen – seine Neigung für das Religiöse zu entdecken (die schließlich in seiner Konversion zum Katholizismus 1808 mündet), Novalis stirbt, Tieck – ohnehin eher in der Rolle des etablierten Außenseiters – verlässt Jena zu Beginn des Jahres 1801, Friedrich Schlegel und Schleiermacher überwerfen sich über dem Projekt einer Platon-Ausgabe und die sehr selbstbewusste Caroline Schlegel wird zur Lebensgefährtin Schellings.
Literaturpolitik und Programmatik I: August Wilhelm Schlegels »Kritik an der Aufklärung«
Als August Wilhelm Schlegel zwischen 1801 und 1804 in Berlin seine Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst hält, ist die Konstitutionsphase der deutschen Romantik, die sogenannte Frühromantik, also in gewisser Weise bereits zu Ende.
Und doch sind es erst die Vorlesungen des Berliner Privatgelehrten, die im Sinne einer eigenständigeren denkerischen Leistung zwar nicht sonderlich originell sind, die aber dennoch die einzelnen Ideen des frühromantischen Kreises zum ersten Mal in pointierten Formulierungen zusammenfassen. Damit erst wird die Romantik als ein klar abgrenzbarer Diskurs einem breiteren Publikum vermittelt.
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Nicht weniger nimmt er sich vor, als eine »Schilderung des gegenwärtigen Zustandes der Europäischen Bildung« (AWS, 537) überhaupt zu liefern. In diesem Zusammenhang widmet er seine fünfte und sechste Vorlesungsstunde einer grundlegenden »Kritik der Aufklärung«. Schlegel tritt hier, dies gilt es zu berücksichtigen, nicht oder doch zumindest nicht vorrangig als unbeteiligter Kunstwissenschaftler auf, dem es darum ginge, seinen Zuhörern einen möglichst objektiven Überblick über kulturelle und literarische Tendenzen der vergangenen Jahrzehnte zu geben. Schlegel ist als wichtiges Mitglied der frühromantischen Interessengemeinschaft ein beteiligter Akteur im Spiel um machtvolle Positionen innerhalb des literarischen Feldes und er betreibt Literaturpolitik. Was heißt das? Innerhalb des literarischen Feldes geht es immer auch darum, die Definitionsmacht darüber zu erlangen, was überhaupt als »Literatur« gelten soll und wer überhaupt ermächtigt ist, sich als Schriftsteller zu bezeichnen. Insofern entpuppt sich das literarische Feld, darauf verweist der französische Soziologe Pierre Bourdieu, als ein »Kampfplatz« mit eigenen Regeln, auf dem zuallererst und permanent von konkurrierenden Akteuren und Gruppen darum gestritten wird, was Literatur überhaupt ist (Bourdieu 2001, 379-445). Wer sich hier die Deutungsmacht erstreiten kann, erwirbt zugleich die Möglichkeit, gewichtige Positionen innerhalb des literarischen Feldes zu besetzen. Insofern wird man Schlegels Kritik an der Aufklärung auch als interessegeleiteten Versuch verstehen müssen, der Programmatik der eigenen Gruppe ein Profil zu geben und sie ins Gespräch zu bringen. Solche Positionierungsversuche haben eine bestimmte, strukturelle Logik. Sie leben von der Unterscheidung und von einem Überbietungsgestus, der mit ganz bestimmten Versprechungen einhergeht. Anders formuliert: Um Aufmerksamkeit wecken zu können, muss man deutlich machen, inwiefern sich das eigene Programm von konkurrierenden unterscheidet und inwiefern man bereits existierende Programme übertrifft. Das literarische Feld in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt diesen Kampf um Aufmerksamkeit und erhöht mit der Konstitution eines literarischen Marktes den Inszenierungsdruck auf die Schriftsteller, ist doch für diesen Zeitraum eine immense »Verdichtung der Kommunikation« (Detlef Kremer) zu beobachten. Diese Verdichtung wird ermöglicht durch den Übergang des Buchhandels zu frühkapitalistischen Produktionsweisen, wodurch der Markt für Druckerzeugnisse enorm anwächst: Für den Zeitraum zwischen 1770 und 1800 geht man mittlerweile von einer Verzehnfachung der Buchproduktion und von einer Verdreifachung der Zahl der Buchhandlungen aus, die Zahl der neu erscheinenden Zeitschriften erreicht |18◄ ►19| 1790 in Deutschland mit 1225 Titeln einen Höchststand. Damit steigt aber auch die Zahl der Schriftsteller, die um ein zunehmend lesefähiges Publikum konkurrieren, in diesem Zeitraum enorm an.
Was bei August Wilhelm Schlegel unter dem Begriff »Aufklärung« firmiert, ist also selbst bereits eine interessegeleitete Reduktion und Selektion. Hauptgegner seiner Ausführungen ist mit Friedrich Nicolai ein Berliner Repräsentant der spätaufklärerischen deutschen Popularphilosophie, deren Kritik am frühromantischen Denken auch ausführlich mit Polemik bedacht wird:
Mehrere meiner Freunde und ich selbst haben den Anfang einer neuen Zeit auf mancherley Art, in Gedichten und in Prosa, im Ernst und im Scherz verkündigt […]. Das entsetzliche, gar nicht aufhörende Geschrey dawider von allen Seiten scheint doch zu verrathen, daß die Gegner unsre Behauptung nicht für so ungereimt halten als sie vorgeben, daß sie doch vielleicht heimlich fürchten, im ruhigen Besitz der Nichtigkeit durch jene verhaßten Anmuthungen gestört zu werden. (AWS I, 538)
Soviel zur polemischen Seite der Unterscheidung. Wer sich unterscheidbar machen will, muss aber auch zeigen können, was an dem, von dem er sich unterscheiden will und das er überbieten zu können vorgibt, falsch bzw. unzulänglich ist. Und er muss zumindest in groben Zügen das Profil des eigenen Programms umreißen. Was ist also nach A.W. Schlegel so falsch an der Aufklärung und was setzt er dagegen? Betrachtet man konkreter die Steine des Schlegel’schen Anstoßes, so zeigt seine Aufklärungskritik, die ganz in der Tradition von Schillers Kulturkritik steht, eine dreifache Stoßrichtung: Erstens kritisiert er ein auf bloße Nützlichkeit abzweckendes Denken, das er als Ausdruck eines defizitären Menschenbildes brandmarkt. Die aufklärerische Popularphilosophie ziele in ihrem Wahrheitsstreben lediglich auf »Brauchbarkeit und Anwendbarkeit«. Diese »ganze verkehrte Denkart«, der das »ökonomische Prinzip« zugrunde liege, ziele darauf, »das menschliche Dasein und die Welt rein wie ein Rechen-Exempel aufgehen« zu lassen. Die sich dergestalt aufgeklärt Dünkenden verfolgten »dabei als Unaufgeklärtheit die ursprüngliche Irrationalität, die ihnen überall im Wege ist«. (AWS I, 523f.) Was das aufklärerische Denken in Schlegels Augen also falsch macht, ist, dass es ausgehend von einem verkürzten Verstandesbegriff wesentliche Aspekte des menschlichen Daseins gar nicht erst in den Blick bekommt. Ein rein am Nutzenkalkül orientiertes Denken führt, so der Vorwurf, letztlich zu einem unangemessenen und naiven Bild des Menschen, zu einer defizitären Anthropologie. Das Nächtige im Menschen, |19◄ ►20| seine Furcht, seine Träume, seine Phantasie, so Schlegel, eben »das Dunkel, worin sich die Wurzel unseres Daseins verliert« und das »den Zauber des Lebens« ausmacht, könne wohl von der romantischen Poesie, nicht aber vom aufklärerischen Denken angemessen begriffen werden.
Zweitens kritisiert er den Typus des Philisters. Das ökonomische Prinzip führt nämlich nicht nur zu einer Verkürzung des menschlichen Denkens, sondern es zeitigt und formt auch einen ganz bestimmten Charaktertypus: den Philister (den man heute als »Spießer« bezeichnen würde). Die permanente Ausrichtung am Nützlichkeitskalkül, so Schlegel, veranlasst das aufklärerische Denken »alle Tugenden, die sich nicht der Brauchbarkeit für irdische Angelegenheiten fügen wollten, für Überspannung und Schwärmerei aus[zugeben]«. (AWS I, 528) Alle sollten
gleichermaßen in das Joch gewisser bürgerlicher Pflichten gespannt werden, in das Gewerbs- und Amts- und dann das Familienleben, […] um den Acker des Staates wie Zugvieh zu pflügen, und die Bevölkerung zu befördern. (AWS I, 528)
Das Resultat einer solchen konzertierten Eindämmung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten liegt auf der Hand: »Produziert« werden Menschen, die »nur wie Uhren für die täglichen Verrichtungen maschinenmäßig aufgewunden werden« (AWS I, 539). Die romantische Literatur ist stark bevölkert von solchen Philistertypen: von Wackenroders seltsamem, »nackten Heiligen«, der besinnungslos vor Angst sich in »immerwährender Arbeit anstrengt«, weil er beständig das Getöse des »rauschenden Rads der Zeit« vernimmt (in Wackenroders Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen) bis zu E.T.A. Hoffmanns Bier trinkenden Bürgerfiguren.
Drittens schließlich formuliert Schlegel eine Kritik der beginnenden Moderne als Kapitalismus-, Medien- und Kulturkritik. Deutlich spricht sich in seinen Ausführungen ein Unbehagen in der beginnenden Moderne und ihrer Kultur aus. Was seit Rousseau und Schiller gleichsam als kommentierendes und komplementäres Phänomen der Moderne zu beobachten ist, artikuliert sich auch bei Schlegel: eine Kritik, die den Preis, die Konsequenzen und die Folgeschäden in den Blick nimmt, die eine zunehmende Ausdifferenzierung, Ökonomisierung, Versachlichung und Rationalisierung der Lebensverhältnisse mit sich bringen, kurzum das, was Max Weber einmal als die »Entzauberung der Welt«, die zu einem »stahlharten Gehäuse« geworden sei, bezeichnet. Dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus, der sich auf seine naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften stützt, setzt Schlegel die Dialektik (d.h. hier: das Umkippen in sein Gegenteil) dieses Fortschritts entgegen: |20◄ ►21|
Die Entdeckung der fremden Welttheile hat zwar bey den Nationen, von denen sie herrührte, den Portugiesen und Spaniern, eine große heroische Periode hervorgebracht, und sie auf eine Zeitlang zu Mittelpunkten Europäischer Bildung gemacht. Im Ganzen aber hat sie den Luxus unermeßlich gesteigert, und dadurch die Herrschaft der handelnden Nationen über die nicht handelnden, und wiederum in jenen durch die Fabriken-Industrie den Despotismus des Geldes, die Abhängigkeit der Armen von den Reichen aufs stärkste fixirt. Die Erfindung des Schießpulvers hat den ritterlichen Geist zerstört […] (AWS I, 533)
Globalisierungs- und Kapitalismuskritik avant la lettre also. Auch die Verlusterscheinungen, die die Erfindung des Schießpulvers und des Buchdrucks zeitigen, sind für Schlegel strukturell analog: Beide führen letztlich zu einem Verlust an Authentizität. So wie das Schießpulver den ritterlichen Kampf Mann gegen Mann und Aug’ in Aug’ unmöglich macht und somit letztlich die »Ehre«, jene »große Idee aus dem Mittelalter« untergräbt, so führt der Buchdruck, mithin die technische Reproduzierbarkeit des Schriftlichen, zu einem medial bedingten Authentizitätsverlust: Der »Zauber des lebendigen Vortrags«, die Ursprünglichkeit der mündlichen Kommunikationssituation wird untergraben durch die »Bequemlichkeit der todten Buchstabenmittheilung« (AWS I, 534), es dominiert das »einsame, ungesellige Lesen«, die Vielzahl des unnütz Geschriebenen und potenziell zu Lesenden führt zu einer Rezeptionshaltung, die
»durch die Leichtigkeit des Besitzes gegen das Vortrefflichste so gleichgültig geworden, daß sie meistens gar nicht mehr mit Andacht [hier lässt der Klosterbruder grüßen, G. K.], sondern bloß zu gedankenloser Zerstreuung lesen«. (AWS I, 535)
Letzteres ist natürlich gerade auch für die romantischen Produkte, die in ihrer Komplexität geradezu programmatisch eine langsame und wiederholte Lektüre einfordern, desaströs: Droht ihnen doch angesichts der Masse an leichter konsumierbaren Konkurrenzprodukten, der »Verdichtung der Kommunikation«, das notwendige Maß an Aufmerksamkeit erst gar nicht zuteil zu werden. Bei aller Kritik an »der« Aufklärung erscheint sie Schlegel jedoch als ein notwendiges Durchgangsstadium in einem triadischen Geschichtsschema, ein »Übergang, eine Vorbereitung« (AWS I, 538) in der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur; ein Stadium, hinter das – bei allem Lobpreis des Mittelalters – zwar nicht mehr zurückgegangen werden könne, das es aber nun zu überwinden gelte. Am Ende seiner Ausführungen steht dann das frühromantische Konkurrenzangebot zur »Wiederverzauberung« der zuvor beklagten Welt. Es ist vor allem die neue, romantische Poesie, die das »Beginnen |21◄ ►22| einer andern Zeit« (AWS I, 539) ankündige. Diese neue Zeit kündigt sich zwar in einer von Schlegel mit geradezu religiöser Inbrunst umschriebenen Kunst an – »[w]o man einmal das Göttliche gefunden, gebe man sich mit einer Art von Andacht hin, um sich ganz davon durchdringen zu lassen« (AWS I, 536) –, allerdings bleibt insgesamt doch recht vage, wie die Beschaffenheit der neuen, romantischen Kunst sei. Ein Blick auf die Überlegungen seines Bruders mag hier weiterhelfen.
Literaturpolitik und Programmatik II: Friedrich Schlegels 116. Athenäums-Fragment und Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat
Vielfach gebraucht, vielleicht seltener hinreichend erläutert ist das Schlagwort von der »progressiven Universalpoesie«. Geprägt und ›entwickelt‹ von Friedrich Schlegel in seinem 116. Athenäums-Fragment, verdichtet sich in ihm – eben schlagwortartig – nicht nur Friedrich Schlegels Poetik, sondern auch weitestgehend das frühromantische Literaturverständnis. Einige Erläuterungen zum Athenäum seien hier vorgeschaltet.
Das Athenäum (1798-1800)
Von der sprunghaften Zunahme der Zeitschriften auf dem literarischen Markt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts war bereits die Rede. Warum gründen Schriftsteller Zeitschriften? Nicht nur Schlegel, auch andere haben dies ja immer wieder getan: Man denke etwa an die diversen Projekte Schillers. Friedrich Schlegel selbst gibt auf diese Frage in einem Brief vom 31.10.1797, in dem er seinem Bruder den Gründungsplan zu einer Zeitschrift unterbreitet, eine halb ironische und doch zugleich auch erhellende Antwort:
Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, dass wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5-10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen anderen Zweck hätte als Kritik. (FS 24, 31)
Natürlich zielt die Anspielung mit den »kritischen Dictatoren« auch ironisch auf das zum Zeitpunkt des Briefes noch nicht eingestellte, klassische Konkurrenzprojekt der Horen von Goethe und Schiller. Aber sehr schön zeigt der |22◄ ►23| Brief, worum es bei literarischen Zeitschriften auch immer geht: nämlich darum, Positionen innerhalb des literarischen Feldes zu besetzen, indem man der eigenen Stimme im Spiel um die Deutungshoheit darüber, was denn Literatur eigentlich sei, ein Forum verschafft, von dem aus sie gehört wird.
Freilich konnte das Athenäum – anders als die von Schlegel erwähnte Jenaer Allgemeine Literatturzeitung – in breiteren Kreisen keinen Anklang finden. Das Athenäum war von ähnlicher Kurzlebigkeit wie Schillers Horen. Im Mai 1798 erschien die erste Ausgabe, zwei Jahre, sechs Hefte und zwei Verleger später war schon wieder Schluss. Zu extravagant, zu (bewusst) uneinheitlich, zu polemisch sicherlich auch war das Profil der Zeitschrift, so dass sich die Festsetzung der Auflage auf 1.250 selbst für heutige Verhältnisse als geradezu gewagt ausnimmt. Zur Profilbildung der frühromantischen Bewegung hat die Zeitschrift gleichwohl beigetragen: Zum einen erschienen in den zwei Jahren ihres Bestehens in dem Organ einige Beiträge, die für die Selbstverständigung und die Außendarstellung der Frühromantiker bedeutsam waren: neben den Fragmenten Schlegels seine für die Literaturkritik und -wissenschaft Maßstäbe setzende Wilhelm Meister-Rezension, sein Gespräch über die Poesie, Novalis’ Sammlung Blüthenstaub und zum ersten Mal seine Hymnen an die Nacht. Zum anderen sorgte sie innerhalb des literarischen Feldes vor allem durch die Gegner, die sie sich schuf, für Aufmerksamkeit: Nicht zuletzt seitens der Berliner Spätaufklärung um Friedrich Nicolai sahen sich die Herausgeber wiederholt scharfen Angriffen ausgesetzt.
Das Fragment
Die Form des Fragments spielt vor allem für Schlegel eine gewichtige Rolle. Mit seinem Charakter des Unabgeschlossenen, Werdenden, das gleichwohl auf ein Ganzes verweist, mit seiner Gedankenführung, die zwar philosophisch ist, sich aber den philosophischen Normen der Systematik verweigert, indem sie an die Stelle der stringenten Argumentation und Beweisführung den »Witz«, d.h. die Fähigkeit zu überraschenden Analogiebildungen setzt, spiegelt das Fragment auf formaler Ebene einige von Schlegels Grundüberzeugungen zur romantischen Poesie, mithin zur progressiven Universalpoesie wider. Das Fragment erscheint als eine Textform, die es dem Denken ermöglicht, sich selbst beim Denken zuzuschauen – ich werde auf diesen Aspekt der Selbstreflexivität noch einmal zurückkommen. Als Bruchstück von etwas setzt das Fragment ein ehemaliges Ganzes voraus oder deutet auf ein zukünftiges Ganzes voraus. Lothar Pikulik (Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. |23◄ ►24| 2. Aufl. München 2000, 127) findet dafür die prägnante Beschreibung: »Im retrospektiven Sinne ist das Fragment Relikt, im prospektiven Sinne ist es Projekt.« In dieser Einsicht in die Diskrepanz, in die Spannung zwischen endlicher Bruchstückhaftigkeit und angestrebtem, letztlich aber nicht zu erreichendem Ganzen, Unendlichen, auf das das Fragment ja auch verweist, manifestiert sich das, was als »romantische Ironie« bezeichnet wird. Gemeint ist damit eben die Einsicht in die Paradoxie von Universalanspruch und Unabschließbarkeit.
Das 116. Athenäum-Fragment und Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat
Kommen wir zum Inhalt des 116. Athenäum-Fragments mit einem gelegentlichen Seitenblick auf Novalis’ »Romantisierungs«-Postulat. »Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie« (FS 2, 182), so heißt es sloganartig und prägnant gleich zu Beginn. Das klingt schön und gut. Aber was bedeutet es? Drei Aspekte sind es, die Schlegel zufolge die romantische Poesie vor allem kennzeichnen:
1. ihre Universalität; 2. ihre Transzendentalität; 3. ihre Progressivität.
1. Universalität: Damit meint Schlegel, dass die romantische Poesie durch den Anspruch gekennzeichnet ist, grenzüberschreitend zu sein. a) Die romantische Poesie überschreitet die traditionellen Grenzen zwischen den Gattungen und sie ist demzufolge befugt, Dramatisches mit Lyrischem und Epischem zu vermischen; »alle getrennten Gattungen«, so heißt es, werden »wieder« vereinigt (auch hier modelliert das dreistufige Geschichtsmodell das Denken: Etwas, das wieder vereinigt wird, muss irgendwann einmal bereits zusammen gewesen sein).
b) Die romantische Poesie überschreitet die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft, denn sie will »die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung […] setzen […], den Witz [d.h. hier: das Geistreiche, G.K.] poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen.«
c) Die romantische Poesie überschreitet schließlich die Grenzen zwischen Kunst und Leben, sie will »die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen«. (FS 2, 182)
Eine Kunst, die diesen Forderungen nach mehrfacher Grenzüberschreitung genügt, ist zugleich eine synthetische Macht, insofern es ihr gelingt, ganz unterschiedliche Elemente miteinander zu verbinden. Oder, wie Schlegel es formuliert: »Die romantische Poesie ist unter den Künsten |24◄ ►25| was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist.« (FS 2, 183) Diese Fähigkeit zur Synthese, die Fähigkeit, Heterogenes, Einfaches und Schwieriges, Bekanntes und Unbekanntes, Hohes und Niedriges zusammenzubringen (bei Schlegel heißt es »Kunstpoesie und Naturpoesie« und von «der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht« (FS 2, 182) ist die Rede), charakterisiert Novalis als Prozess des Romantisierens:
Die Welt muß romantisirt werden. […] Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisiert – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. […] Lingua romana. (N II, 334)
2. Transzendentalität: Dieser Gedanke wird bei Schlegel so formuliert:
»Und doch kann auch sie [die romantische Poesie, G.K.] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. (FS 2, 182f.)
Bei Novalis heißt es: »Romantisiren ist nichts, als eine qualit [ative] Potenzirung.« (N II, 334) Was beide hier im Blick haben, ist, dass die romantische Poesie gleichsam eine – wie es an anderer Stelle heißt – »Poesie der Poesie«, eine »Transzendentalpoesie« ist. Den Begriff des »Transzendentalen« entleiht Schlegel bei Immanuel Kant, bei dem mit dem Begriff eine Denkbewegung gemeint ist, die das Denken selbst zum Gegenstand des Denkens macht und nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt fragt. Transzendental wäre also jene Poesie, die sich auf sich selbst zurückbeugt und nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit fragt; eine Poesie, die sich also nicht im Darstellen (im Erzählen von Geschichten) erschöpft, sondern die zugleich die Darstellung selbst, den Prozess des Darstellens (das Wie und/oder den Akt des Erzählens) zum Thema macht: z.B. ein Roman, der nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern der zugleich auch das Schreiben eines Romans selbst zum Thema macht. Die romantische Poesie ist eine solche, die die Poesie selbst noch einmal zum Objekt macht. Deshalb spricht Novalis auch von der qualitativen Potenzierung, die ja auch eine Operation darstellt, bei der eine Zahl sich selbst noch einmal zum Gegenstand werden kann, indem sie mit sich selbst |25◄ ►26| multipliziert wird (22 entspricht 2x2). Dieser Gedanke, dass die Poesie also Subjekt und Objekt, Darstellendes und Dargestelltes zugleich ist, wird in Schlegels Ausführungen auch auf grammatischer Ebene anschaulich, wenn die Poesie Subjekt und Objekt des Satzes zugleich ist: »Sie [d.i. die Poesie, G.K.] will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik […] bald mischen, bald verschmelzen […]« (FS 2, 182).
3. Progressivität: »Progressiv« enthält eine beschreibende und zugleich eine wertende Komponente, es meint »fortschreitend« und »fortschrittlich« zugleich. Letzteres versteht sich gleichsam von selbst. Denn dass Schlegel sein eigenes poetologisches Programm für fortschrittlich im Sinne von modern hält bzw. es so ausweist, liegt nicht zuletzt im Überbietungsgestus einer Programmatik begründet, die sich innerhalb des zunehmend von Konkurrenz gekennzeichneten, literarischen Feldes gegen ihre ›Gegner‹ (etwa aufklärerische Poetiken) durchsetzen muss. Insofern hat die das Fragment beschließende Versicherung Schlegels, »denn in einem gewissen Sinne ist oder soll alle Poesie romantisch sein«, fast etwas von der Androhung einer ›freundlichen Übernahme‹ potenziell aller rivalisierenden poetologischen Konzepte.
Was aber bedeutet fortschreitend? Wie ist es zu verstehen, wenn Schlegel insistiert, die »romantische Dichtart« sei »noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann« (FS 2, 183)? Die Rede vom »ewigen Werden« wird verständlicher, wenn man den Blick über den je einzelnen (romantischen) Text hinaus erweitert. Dann könnten mit Progressivität u.a. folgende Aspekte gemeint sein:
a) Die romantische Dichtart folgt keinen spezifischen Regeln, weil sie, wie Schlegel betont, »als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide« (ebd.). Insofern sie also vornehmlich an die Subjektivität und die Phantasie ihres jeweiligen Verfassers gekoppelt ist, befindet sich die romantische Dichtart – zumindest der Möglichkeit nach – in einem Zustand der permanenten, eben von den jeweiligen schreibenden Subjekten allein abhängigen Entwicklung. Insofern, als außerkünstlerische Aspekte ihre Entwicklung deshalb auch nicht beeinflussen können, ist sie autonom (im wahrsten Sinne des Wortes, heißt »autonom« doch so viel wie »selbstgesetzgebend«). Das ist natürlich alter Wein in neuen Schläuchen, bedient sich Schlegel hier doch bei einer Genieästhetik, die seit dem Sturm und Drang geläufig ist. Die Absage an regelpoetische Vorstellungen und das Loblied der Phantasie bedeuten wiederum nicht, dass die romantische Poesie – ihrer Form nach – völlig willkürlich ist. Zwar duldet sie keine Verordnungen von außen, |26◄ ►27| in sich selbst soll sie allerdings auf so etwas wie »organische Ganzheit« hin angelegt sein: »indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird« (ebd.)
b) Die romantische Dichtart ist an keine bestimmte Epoche gebunden, weder im Rück-, noch im Vorausblick: Das schafft ihr die Möglichkeit, sich selbst im literaturgeschichtlichen Rückgriff eine eigene Tradition zu erfinden (Schlegel nennt an anderer Stelle etwa Dante, Petrarca, Cervantes, Shakespeare oder Goethe als Vorläufer der romantischen Poesie) und ermöglicht für die Zukunft eine prinzipiell unendliche Bestandsgarantie qua umfassendem Eingemeindungsangebot. Denn zumindest potenziell kann ja alles romantisch sein oder es zumindest werden.
c) Die romantische Dichtart ist fortschreitend in dem Sinne, dass einzelne Texte immer wieder auch auf andere Texte reagieren, sich auf andere Texte beziehen (kritisch oder sie fortschreibend): So erscheint die romantische Dichtart als fortschreitendes, prinzipiell unabschließbares Gespräch zwischen den Texten. Was Schlegel hier mit Blick auf die romantische Literatur fordert, bezeichnet die heutige Literaturwissenschaft als die Intertextualität von Literatur.
d) Gemeint sein könnte indes auch der rezeptionsästhetische Aspekt, der aus jedem Text beim Lesen und beim Darüber-Schreiben wieder einen anderen Text werden lässt. Auch dieser Prozess ist ja prinzipiell unabschließbar. Und auch bei Novalis heißt es ganz in diesem Sinne: »Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn.« (N II, 282)
Wie eine solche, von Schlegel hier nur fragmentarisch skizzierte Literatur tatsächlich aussieht, das lässt sich wohl nirgends besser studieren, als an den Texten Ludwig Tiecks und an den frühromantischen Romanexperimenten. Darum soll es in den folgenden beiden Kapiteln gehen.
Weiterführende Literatur
Frank, Manfred: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989
Pikulik, Lothar: Frühromantik. 2. Aufl. München 2000, S. 87-167
Schanze, Helmut (Hrsg.): Romantik-Handbuch. 2. durchges. u. aktualisierte Aufl. Stuttgart 2003
Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München 2007, S. 116-122
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